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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Zum siebzigsten Geburtstage Gelo Liebmcnms

Verfassung, "eine ernste, ruhige Versenkung -- intensive Besonnenheit"; die
Aufgabe sei, "die Summe dessen, wodurch die Zeit bewegt )vird, erst nach allen
Seiten durchzuleben, ehe der spekulative Gedanke das Fazit ziehen kann".
Stets offenen Blickes, aber schweigsam ist Liebmann seinen Weg gegangen: allen
Gestalten des Lebens hat er Auge und Ohr geöffnet, die vielseitige Gründlichkeit
seiner Bildung ist wahrhaft erstaunlich.

In diesen: Reichtum der geistigen Interessen zeigt er eine gewisse Verwandtschaft
mit seinem Meister Kant, wenn er auch eine etwas andere Snnthests der
Elemente darstellt, vor allem, sofern er ein viel innigeres Verhältnis zur
Kunst, zu allen Künsten hat. Liebmann hat sich zu jeder Zeit auch Kant
gegenüber bei aller Verehrung doch völlig selbständig gewußt. Er ist nie im
Zweifel darüber gewesen, daß er mehr als ein Jahrhundert später lebt als der
Königsberger. Aber gerade weil Liebmann ein Mann der neuen Zeit ist, ein
Mann, der sich von Anfang an die Aufgabe gesetzt hatte, seine Zeit zu verstehen,
hat er sich um Kants Geistesart im höchsten Maße verdient machen können --
weit mehr als die unfreien, sklavischen, rabiater Kantianer, die an Kant nichts
Zufälliges, Historisch Bedingtes sehen, sondern ihn mit seiner ganzen Existenz
metaphysizieren und so zum "Ding an sich" stempeln. Liebmann hat klaren
Blick für das, was an Kants Werk überzeitlich ist. In den "Gedanken und
Tatsachen" sagt er einmal: "Sämtliche Einzeldoktrinen der Kritik der reinen
Vernunft sind streitig oder zweifelhaft oder bereits widerlegt. Aber der ganze
Standpunkt, der prinzipielle Grundgedanke des Werkes ist unveraltet und
unsterblich." Und in der Gedächtnisrede, die er am hundertjährigen Todestage
Kants in Jena gehalten hat, heißt es gegen Ende: "Wir wollen hoffen und
wir dürfen glauben, 'daß der Geist der besonnensten Selbstkritik, der Geist der
strengen Gewissenhaftigkeit, der Geist des kategorischen Imperativs, der Geist
der reinen Vernunft, der Geist Immanuel Kants in der Menschheit
unvergänglich weiterleben werde!"

Am Schluß dieser Kant-Gedächtnisrede steht ein Gedicht -- sieben Stanzen,
die noch einmal künstlerisch zusammenfassen, was die vorangegangene Rede
ausgeführt hat. Es ist nicht das einzige Mal, daß Liebmann mit Versen an
die Öffentlichkeit getreten ist: die schon erwähnte "Weltwanderung" (aus dem
Jahre 1899) ist ein ganzes Bändchen von Gedichten; auch in das Belagerungs-
Tagebuch und in die "Gedanken und Tatsachen" sind Gedichte eingestreut. Es
versteht sich, daß diese künstlerischen Erzeugnisse in besonderem Maße Liebmanns
Persönlichkeit dem'Leser nahe bringen: in einer Sprache, deren hohe Vornehmheit
einen Grundzug seines ganzen Wesens spiegelt, redet der Dichterphilosoph von
dem, was ihn in der Tiefe seines persönlichen Seins berührt hat. Nicht bloß
philosophische Themata werden angeschlagen. Die Gedichte im Kriegstagebuch
reden von Kampf und Tod. von Erlebnissen ans Posten, von der Freude des
Sieges -- freilich niemals im bloßen Soldatenton, immer zugleich in der Weise
dessen, der in der Wesen Tiefe trachtet. Auch nicht von jedem Gedicht der


Zum siebzigsten Geburtstage Gelo Liebmcnms

Verfassung, „eine ernste, ruhige Versenkung — intensive Besonnenheit"; die
Aufgabe sei, „die Summe dessen, wodurch die Zeit bewegt )vird, erst nach allen
Seiten durchzuleben, ehe der spekulative Gedanke das Fazit ziehen kann".
Stets offenen Blickes, aber schweigsam ist Liebmann seinen Weg gegangen: allen
Gestalten des Lebens hat er Auge und Ohr geöffnet, die vielseitige Gründlichkeit
seiner Bildung ist wahrhaft erstaunlich.

In diesen: Reichtum der geistigen Interessen zeigt er eine gewisse Verwandtschaft
mit seinem Meister Kant, wenn er auch eine etwas andere Snnthests der
Elemente darstellt, vor allem, sofern er ein viel innigeres Verhältnis zur
Kunst, zu allen Künsten hat. Liebmann hat sich zu jeder Zeit auch Kant
gegenüber bei aller Verehrung doch völlig selbständig gewußt. Er ist nie im
Zweifel darüber gewesen, daß er mehr als ein Jahrhundert später lebt als der
Königsberger. Aber gerade weil Liebmann ein Mann der neuen Zeit ist, ein
Mann, der sich von Anfang an die Aufgabe gesetzt hatte, seine Zeit zu verstehen,
hat er sich um Kants Geistesart im höchsten Maße verdient machen können —
weit mehr als die unfreien, sklavischen, rabiater Kantianer, die an Kant nichts
Zufälliges, Historisch Bedingtes sehen, sondern ihn mit seiner ganzen Existenz
metaphysizieren und so zum „Ding an sich" stempeln. Liebmann hat klaren
Blick für das, was an Kants Werk überzeitlich ist. In den „Gedanken und
Tatsachen" sagt er einmal: „Sämtliche Einzeldoktrinen der Kritik der reinen
Vernunft sind streitig oder zweifelhaft oder bereits widerlegt. Aber der ganze
Standpunkt, der prinzipielle Grundgedanke des Werkes ist unveraltet und
unsterblich." Und in der Gedächtnisrede, die er am hundertjährigen Todestage
Kants in Jena gehalten hat, heißt es gegen Ende: „Wir wollen hoffen und
wir dürfen glauben, 'daß der Geist der besonnensten Selbstkritik, der Geist der
strengen Gewissenhaftigkeit, der Geist des kategorischen Imperativs, der Geist
der reinen Vernunft, der Geist Immanuel Kants in der Menschheit
unvergänglich weiterleben werde!"

Am Schluß dieser Kant-Gedächtnisrede steht ein Gedicht — sieben Stanzen,
die noch einmal künstlerisch zusammenfassen, was die vorangegangene Rede
ausgeführt hat. Es ist nicht das einzige Mal, daß Liebmann mit Versen an
die Öffentlichkeit getreten ist: die schon erwähnte „Weltwanderung" (aus dem
Jahre 1899) ist ein ganzes Bändchen von Gedichten; auch in das Belagerungs-
Tagebuch und in die „Gedanken und Tatsachen" sind Gedichte eingestreut. Es
versteht sich, daß diese künstlerischen Erzeugnisse in besonderem Maße Liebmanns
Persönlichkeit dem'Leser nahe bringen: in einer Sprache, deren hohe Vornehmheit
einen Grundzug seines ganzen Wesens spiegelt, redet der Dichterphilosoph von
dem, was ihn in der Tiefe seines persönlichen Seins berührt hat. Nicht bloß
philosophische Themata werden angeschlagen. Die Gedichte im Kriegstagebuch
reden von Kampf und Tod. von Erlebnissen ans Posten, von der Freude des
Sieges — freilich niemals im bloßen Soldatenton, immer zugleich in der Weise
dessen, der in der Wesen Tiefe trachtet. Auch nicht von jedem Gedicht der


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[0423] Zum siebzigsten Geburtstage Gelo Liebmcnms Verfassung, „eine ernste, ruhige Versenkung — intensive Besonnenheit"; die Aufgabe sei, „die Summe dessen, wodurch die Zeit bewegt )vird, erst nach allen Seiten durchzuleben, ehe der spekulative Gedanke das Fazit ziehen kann". Stets offenen Blickes, aber schweigsam ist Liebmann seinen Weg gegangen: allen Gestalten des Lebens hat er Auge und Ohr geöffnet, die vielseitige Gründlichkeit seiner Bildung ist wahrhaft erstaunlich. In diesen: Reichtum der geistigen Interessen zeigt er eine gewisse Verwandtschaft mit seinem Meister Kant, wenn er auch eine etwas andere Snnthests der Elemente darstellt, vor allem, sofern er ein viel innigeres Verhältnis zur Kunst, zu allen Künsten hat. Liebmann hat sich zu jeder Zeit auch Kant gegenüber bei aller Verehrung doch völlig selbständig gewußt. Er ist nie im Zweifel darüber gewesen, daß er mehr als ein Jahrhundert später lebt als der Königsberger. Aber gerade weil Liebmann ein Mann der neuen Zeit ist, ein Mann, der sich von Anfang an die Aufgabe gesetzt hatte, seine Zeit zu verstehen, hat er sich um Kants Geistesart im höchsten Maße verdient machen können — weit mehr als die unfreien, sklavischen, rabiater Kantianer, die an Kant nichts Zufälliges, Historisch Bedingtes sehen, sondern ihn mit seiner ganzen Existenz metaphysizieren und so zum „Ding an sich" stempeln. Liebmann hat klaren Blick für das, was an Kants Werk überzeitlich ist. In den „Gedanken und Tatsachen" sagt er einmal: „Sämtliche Einzeldoktrinen der Kritik der reinen Vernunft sind streitig oder zweifelhaft oder bereits widerlegt. Aber der ganze Standpunkt, der prinzipielle Grundgedanke des Werkes ist unveraltet und unsterblich." Und in der Gedächtnisrede, die er am hundertjährigen Todestage Kants in Jena gehalten hat, heißt es gegen Ende: „Wir wollen hoffen und wir dürfen glauben, 'daß der Geist der besonnensten Selbstkritik, der Geist der strengen Gewissenhaftigkeit, der Geist des kategorischen Imperativs, der Geist der reinen Vernunft, der Geist Immanuel Kants in der Menschheit unvergänglich weiterleben werde!" Am Schluß dieser Kant-Gedächtnisrede steht ein Gedicht — sieben Stanzen, die noch einmal künstlerisch zusammenfassen, was die vorangegangene Rede ausgeführt hat. Es ist nicht das einzige Mal, daß Liebmann mit Versen an die Öffentlichkeit getreten ist: die schon erwähnte „Weltwanderung" (aus dem Jahre 1899) ist ein ganzes Bändchen von Gedichten; auch in das Belagerungs- Tagebuch und in die „Gedanken und Tatsachen" sind Gedichte eingestreut. Es versteht sich, daß diese künstlerischen Erzeugnisse in besonderem Maße Liebmanns Persönlichkeit dem'Leser nahe bringen: in einer Sprache, deren hohe Vornehmheit einen Grundzug seines ganzen Wesens spiegelt, redet der Dichterphilosoph von dem, was ihn in der Tiefe seines persönlichen Seins berührt hat. Nicht bloß philosophische Themata werden angeschlagen. Die Gedichte im Kriegstagebuch reden von Kampf und Tod. von Erlebnissen ans Posten, von der Freude des Sieges — freilich niemals im bloßen Soldatenton, immer zugleich in der Weise dessen, der in der Wesen Tiefe trachtet. Auch nicht von jedem Gedicht der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/423>, abgerufen am 24.07.2024.