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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Zum "siebzigsten Geburtstage Gelo Liebinamis

War ihn: doch auch die erkenntnistheoretische Aufgabe vom Leben gestellt
worden -- vom Leben, das ihn umgab, und das er zu verstehen vermochte.

Ein paar Jahre nach seiner Habilitation kam der große Krieg: als Frei¬
williger ist der Tübinger Privatdozent bei den preußischen Gardefüstlieren
mitgezogen: er hat auch jetzt verstanden, was die Forderungen des Lebens
waren. Einst hatte er während der einjährigen Dienstzeit die Strapazen der
Promotion zum voetor pkilc)80pkiae auf sich genommen: er wußte es schon,
daß man -- daß wenigstens er Philosoph und Soldat zugleich sein kounte.
Sein prachtvolles Belagerungs-Tagebuch "Vier Monate vor Paris" gibt Zeugnis
davon, wie er im Felde das, was er sah und hörte, in der Tiefe seines reichen
Innenlebens verarbeitet hat. Als Denker und Dichter hat er des Königs Nock
getragen; nicht als ein solcher, der in den Stunden der Muße der rauhen
Wirklichkeit entfliehen will, sondern als einer, der mit den Dingen, die ihn:
auf seinem Lebensweg begegnen, ringt, der nicht bloß bereit ist, den letzten
Herzensschlag fürs Vaterland hinzugeben, sondern der auch wissen will, was
er mit seinem todesmutigen Kämpfen letzten Endes tut und warum er es tut.

Bald nach dem Friedensschluß wurde Liebmann an die wiedergewonnene
Universität Straßburg berufen. Dort entstand sein erstes großes Buch: "Zur
Analysis der Wirklichkeit" -- ein umfassendes Werk, das die Hauptgebiete der
Philosophie in eingehenden Einzeluntersuchungen behandelt. Es ist ein System
der Philosophie, das jedoch -- etwa im Sinne des Kantischen Kritizismus --
die systematische Form ablehnt. Den Anfang macht wieder die Erkenntnis¬
theorie; sie hat grundlegende Bedeutung. Denn wenn das Buch auch keine
systematische Architektonik aufweist, so ist es doch etwas ganz anderes als eine
Sammlung von Essays. Es hat seinen "logischen Plan", und dieser fordert
zum Anfang die Erkenntniskritik oder Transzendentnlphilosophie. Aber das
philosophische Interesse wendet sich dann, nachdem die entscheidenden formalen
Richtlinien gezogen sind, den konkreten Problemen zu, -- wie ja auch Kant
einst ein "System" in Aussicht gestellt hatte, das der lediglich propädeutischen
"Kritik" folgen sollte, freilich nicht zur Ausführung gekommen ist. Wer die
Eigenart der kritischen Philosophie kennt, wird ohne Schwierigkeit verstehen,
daß die Natur das erste konkrete Problem sein mußte, das sich dem Denker
stellte, der seine Zeitgenossen auf Kant hingewiesen hatte: das Problem der
Natur ist am allerunmittelbarsten mit den Fragestellungen der Transzendental¬
philosophie verknüpft. So nehmen denn in der "Analysis der Wirklichkeit" die
naturphilosophischen Probleme den breitesten Raum ein; sie waren damals
in der Tat am allerwichtigsten für den, der sich zu einer festen philosophischen
Überzeugung durchringen wollte. Auch das zweite Hauptwerk Liebmanns, die
"Gedanken und Tatsachen", deren erstes Heft die nächste Publikation nach der
"Analysis" war, handelt in seinen: ersten Bande von nawrphilosophischenProblemen.

War also die Erkenntnistheorie dasjenige Feld gewesen, auf dem sich
Liebmann die ersten dauernden lind für das allgemeine Geistesleben hoch-


Grenzlwwi I 1910 S2
Zum "siebzigsten Geburtstage Gelo Liebinamis

War ihn: doch auch die erkenntnistheoretische Aufgabe vom Leben gestellt
worden — vom Leben, das ihn umgab, und das er zu verstehen vermochte.

Ein paar Jahre nach seiner Habilitation kam der große Krieg: als Frei¬
williger ist der Tübinger Privatdozent bei den preußischen Gardefüstlieren
mitgezogen: er hat auch jetzt verstanden, was die Forderungen des Lebens
waren. Einst hatte er während der einjährigen Dienstzeit die Strapazen der
Promotion zum voetor pkilc)80pkiae auf sich genommen: er wußte es schon,
daß man — daß wenigstens er Philosoph und Soldat zugleich sein kounte.
Sein prachtvolles Belagerungs-Tagebuch „Vier Monate vor Paris" gibt Zeugnis
davon, wie er im Felde das, was er sah und hörte, in der Tiefe seines reichen
Innenlebens verarbeitet hat. Als Denker und Dichter hat er des Königs Nock
getragen; nicht als ein solcher, der in den Stunden der Muße der rauhen
Wirklichkeit entfliehen will, sondern als einer, der mit den Dingen, die ihn:
auf seinem Lebensweg begegnen, ringt, der nicht bloß bereit ist, den letzten
Herzensschlag fürs Vaterland hinzugeben, sondern der auch wissen will, was
er mit seinem todesmutigen Kämpfen letzten Endes tut und warum er es tut.

Bald nach dem Friedensschluß wurde Liebmann an die wiedergewonnene
Universität Straßburg berufen. Dort entstand sein erstes großes Buch: „Zur
Analysis der Wirklichkeit" — ein umfassendes Werk, das die Hauptgebiete der
Philosophie in eingehenden Einzeluntersuchungen behandelt. Es ist ein System
der Philosophie, das jedoch — etwa im Sinne des Kantischen Kritizismus —
die systematische Form ablehnt. Den Anfang macht wieder die Erkenntnis¬
theorie; sie hat grundlegende Bedeutung. Denn wenn das Buch auch keine
systematische Architektonik aufweist, so ist es doch etwas ganz anderes als eine
Sammlung von Essays. Es hat seinen „logischen Plan", und dieser fordert
zum Anfang die Erkenntniskritik oder Transzendentnlphilosophie. Aber das
philosophische Interesse wendet sich dann, nachdem die entscheidenden formalen
Richtlinien gezogen sind, den konkreten Problemen zu, — wie ja auch Kant
einst ein „System" in Aussicht gestellt hatte, das der lediglich propädeutischen
„Kritik" folgen sollte, freilich nicht zur Ausführung gekommen ist. Wer die
Eigenart der kritischen Philosophie kennt, wird ohne Schwierigkeit verstehen,
daß die Natur das erste konkrete Problem sein mußte, das sich dem Denker
stellte, der seine Zeitgenossen auf Kant hingewiesen hatte: das Problem der
Natur ist am allerunmittelbarsten mit den Fragestellungen der Transzendental¬
philosophie verknüpft. So nehmen denn in der „Analysis der Wirklichkeit" die
naturphilosophischen Probleme den breitesten Raum ein; sie waren damals
in der Tat am allerwichtigsten für den, der sich zu einer festen philosophischen
Überzeugung durchringen wollte. Auch das zweite Hauptwerk Liebmanns, die
„Gedanken und Tatsachen", deren erstes Heft die nächste Publikation nach der
„Analysis" war, handelt in seinen: ersten Bande von nawrphilosophischenProblemen.

War also die Erkenntnistheorie dasjenige Feld gewesen, auf dem sich
Liebmann die ersten dauernden lind für das allgemeine Geistesleben hoch-


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[0421] Zum "siebzigsten Geburtstage Gelo Liebinamis War ihn: doch auch die erkenntnistheoretische Aufgabe vom Leben gestellt worden — vom Leben, das ihn umgab, und das er zu verstehen vermochte. Ein paar Jahre nach seiner Habilitation kam der große Krieg: als Frei¬ williger ist der Tübinger Privatdozent bei den preußischen Gardefüstlieren mitgezogen: er hat auch jetzt verstanden, was die Forderungen des Lebens waren. Einst hatte er während der einjährigen Dienstzeit die Strapazen der Promotion zum voetor pkilc)80pkiae auf sich genommen: er wußte es schon, daß man — daß wenigstens er Philosoph und Soldat zugleich sein kounte. Sein prachtvolles Belagerungs-Tagebuch „Vier Monate vor Paris" gibt Zeugnis davon, wie er im Felde das, was er sah und hörte, in der Tiefe seines reichen Innenlebens verarbeitet hat. Als Denker und Dichter hat er des Königs Nock getragen; nicht als ein solcher, der in den Stunden der Muße der rauhen Wirklichkeit entfliehen will, sondern als einer, der mit den Dingen, die ihn: auf seinem Lebensweg begegnen, ringt, der nicht bloß bereit ist, den letzten Herzensschlag fürs Vaterland hinzugeben, sondern der auch wissen will, was er mit seinem todesmutigen Kämpfen letzten Endes tut und warum er es tut. Bald nach dem Friedensschluß wurde Liebmann an die wiedergewonnene Universität Straßburg berufen. Dort entstand sein erstes großes Buch: „Zur Analysis der Wirklichkeit" — ein umfassendes Werk, das die Hauptgebiete der Philosophie in eingehenden Einzeluntersuchungen behandelt. Es ist ein System der Philosophie, das jedoch — etwa im Sinne des Kantischen Kritizismus — die systematische Form ablehnt. Den Anfang macht wieder die Erkenntnis¬ theorie; sie hat grundlegende Bedeutung. Denn wenn das Buch auch keine systematische Architektonik aufweist, so ist es doch etwas ganz anderes als eine Sammlung von Essays. Es hat seinen „logischen Plan", und dieser fordert zum Anfang die Erkenntniskritik oder Transzendentnlphilosophie. Aber das philosophische Interesse wendet sich dann, nachdem die entscheidenden formalen Richtlinien gezogen sind, den konkreten Problemen zu, — wie ja auch Kant einst ein „System" in Aussicht gestellt hatte, das der lediglich propädeutischen „Kritik" folgen sollte, freilich nicht zur Ausführung gekommen ist. Wer die Eigenart der kritischen Philosophie kennt, wird ohne Schwierigkeit verstehen, daß die Natur das erste konkrete Problem sein mußte, das sich dem Denker stellte, der seine Zeitgenossen auf Kant hingewiesen hatte: das Problem der Natur ist am allerunmittelbarsten mit den Fragestellungen der Transzendental¬ philosophie verknüpft. So nehmen denn in der „Analysis der Wirklichkeit" die naturphilosophischen Probleme den breitesten Raum ein; sie waren damals in der Tat am allerwichtigsten für den, der sich zu einer festen philosophischen Überzeugung durchringen wollte. Auch das zweite Hauptwerk Liebmanns, die „Gedanken und Tatsachen", deren erstes Heft die nächste Publikation nach der „Analysis" war, handelt in seinen: ersten Bande von nawrphilosophischenProblemen. War also die Erkenntnistheorie dasjenige Feld gewesen, auf dem sich Liebmann die ersten dauernden lind für das allgemeine Geistesleben hoch- Grenzlwwi I 1910 S2

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/421>, abgerufen am 22.12.2024.