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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Zum siebzigsten Geburtstage Gelo Liebmanns

die Subtilitäten der Logik, durch die Intuitionen und Hypothesen der Meta¬
physik, durch die Systeme und Systemversuche der großen Denker vergangener
Zeiten. Und mit ganz besonderen: Danke erinnert sich wohl auch mancher,
wie es der Schreiber dieser Zeiten tat, der "Philosophischen Besprechungen",
die Liebmann ungemein sicher zu leiten und höchst instruktiv zu gestalten weiß.

Aber trotz der sehr großen Erfolge, die Liebmann als Lehrer der akademischen
Jugend gehabt hat und hat, kann man nicht sagen, daß der Mittelpunkt seiner
Wirksamkeit das Katheder wäre: Liebmann gehört zu denjenigen, die ihre
Eroberungen weit über die Grenzen ihrer Universität hinaus ausgedehnt haben:
Ein gut Teil der Geistesgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts ist von seinem
Wirken bestimmt worden; viele Tausende, die kaum je seinen Namen gehört
haben, haben durch mannigfache Vermittlungen Anteil gewonnen an den geistigen
Werten, die seine Arbeit zum Besitztum unserer Zeit gemacht hat. Als er zum
erstenmal literarisch hervortrat, sah es um die Philosophie, sowohl auf den
akademischen Lehrstühlen wie im breiteren Publikum, ganz anders aus als heute.
An den Universitäten war von philosophischer Energie wenig zu merken; die
Philosophie war kraftlos geworden, matt und ihrer selbst ungewiß. Im großen
Publikum aber war die Zeit des Materialismus, die Zeit der dogmatischen
Metaphysik eines proletenhaft gesunden Menschenverstandes, der mit suffisanter
Gelassenheit die größten Worte auszusprechen liebte. Diese Popularphilosophie
war es mehr noch als die schwächliche Kathederwissenschaft, die der damaligen
Zeit ihre von Liebmann richtig erkannte philosophische Aufgabe stellte: die
Überzeugung, daß "das Wesen der Dinge schwerlich so flach ist wie die Mehrzahl
der Köpfe, die ihm auf den Grund gekommen zu sein glauben", mußte zu
allernächst klar ausgesprochen und begründet werden. Gelang dies, so war
damit der ungeschlachte Materialismus in seinem innersten Heiligtum augegriffen,
und zugleich war den müde gewordenen Überbleibseln ernster Philosophie ein
kräftiger Lebensantrieb zugeführt. Ein paar Rufer in der Wüste hatten sich
bereits in ähnlichen! Sinne vernehmlich gemacht; auch ein wirklich Starker war
unter ihnen: Kuno Fischer. Ihm trat Liebmann als der erste kampfgewaltige
Bundesgenosse an die Seite. Seine Schrift "Kant und die Epigonen", die er
als Fünfundzwanzigjähriger veröffentlichte, hat im genauesten Sinne das Signal
gegeben für eine große, weit über Deutschlands Grenzen hinaus wirkende geistige
Strömung. "Also muß auf Kant zurückgegangen werden" --: ungezählte
Male sind diese lapidaren Worte, die in jenem Buche am Schlüsse jedes Kapitels
stehen, wiederholt worden; sie haben ihren Eindruck nicht verfehlt.

Die Erkenntnistheorie war das erste Hauptthema der Arbeiten Lieb¬
manns. Erkenntnistheorie allein konnte den Materialismus gründlich besiegen.
Erkenntnistheorie allein konnte auch der unsicheren, verzagten, müden Art des
nicht-materialistischen Denkens wieder Selbstgewißheit und Selbstvertrauen geben.
Aber Liebmann war kein bloß formaler Geist. Er ist nie gewillt gewesen, in
grauen Abstraktionen stecken zu bleiben; die Abstraktion war ihm nie Selbstzweck.


Zum siebzigsten Geburtstage Gelo Liebmanns

die Subtilitäten der Logik, durch die Intuitionen und Hypothesen der Meta¬
physik, durch die Systeme und Systemversuche der großen Denker vergangener
Zeiten. Und mit ganz besonderen: Danke erinnert sich wohl auch mancher,
wie es der Schreiber dieser Zeiten tat, der „Philosophischen Besprechungen",
die Liebmann ungemein sicher zu leiten und höchst instruktiv zu gestalten weiß.

Aber trotz der sehr großen Erfolge, die Liebmann als Lehrer der akademischen
Jugend gehabt hat und hat, kann man nicht sagen, daß der Mittelpunkt seiner
Wirksamkeit das Katheder wäre: Liebmann gehört zu denjenigen, die ihre
Eroberungen weit über die Grenzen ihrer Universität hinaus ausgedehnt haben:
Ein gut Teil der Geistesgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts ist von seinem
Wirken bestimmt worden; viele Tausende, die kaum je seinen Namen gehört
haben, haben durch mannigfache Vermittlungen Anteil gewonnen an den geistigen
Werten, die seine Arbeit zum Besitztum unserer Zeit gemacht hat. Als er zum
erstenmal literarisch hervortrat, sah es um die Philosophie, sowohl auf den
akademischen Lehrstühlen wie im breiteren Publikum, ganz anders aus als heute.
An den Universitäten war von philosophischer Energie wenig zu merken; die
Philosophie war kraftlos geworden, matt und ihrer selbst ungewiß. Im großen
Publikum aber war die Zeit des Materialismus, die Zeit der dogmatischen
Metaphysik eines proletenhaft gesunden Menschenverstandes, der mit suffisanter
Gelassenheit die größten Worte auszusprechen liebte. Diese Popularphilosophie
war es mehr noch als die schwächliche Kathederwissenschaft, die der damaligen
Zeit ihre von Liebmann richtig erkannte philosophische Aufgabe stellte: die
Überzeugung, daß „das Wesen der Dinge schwerlich so flach ist wie die Mehrzahl
der Köpfe, die ihm auf den Grund gekommen zu sein glauben", mußte zu
allernächst klar ausgesprochen und begründet werden. Gelang dies, so war
damit der ungeschlachte Materialismus in seinem innersten Heiligtum augegriffen,
und zugleich war den müde gewordenen Überbleibseln ernster Philosophie ein
kräftiger Lebensantrieb zugeführt. Ein paar Rufer in der Wüste hatten sich
bereits in ähnlichen! Sinne vernehmlich gemacht; auch ein wirklich Starker war
unter ihnen: Kuno Fischer. Ihm trat Liebmann als der erste kampfgewaltige
Bundesgenosse an die Seite. Seine Schrift „Kant und die Epigonen", die er
als Fünfundzwanzigjähriger veröffentlichte, hat im genauesten Sinne das Signal
gegeben für eine große, weit über Deutschlands Grenzen hinaus wirkende geistige
Strömung. „Also muß auf Kant zurückgegangen werden" —: ungezählte
Male sind diese lapidaren Worte, die in jenem Buche am Schlüsse jedes Kapitels
stehen, wiederholt worden; sie haben ihren Eindruck nicht verfehlt.

Die Erkenntnistheorie war das erste Hauptthema der Arbeiten Lieb¬
manns. Erkenntnistheorie allein konnte den Materialismus gründlich besiegen.
Erkenntnistheorie allein konnte auch der unsicheren, verzagten, müden Art des
nicht-materialistischen Denkens wieder Selbstgewißheit und Selbstvertrauen geben.
Aber Liebmann war kein bloß formaler Geist. Er ist nie gewillt gewesen, in
grauen Abstraktionen stecken zu bleiben; die Abstraktion war ihm nie Selbstzweck.


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[0420] Zum siebzigsten Geburtstage Gelo Liebmanns die Subtilitäten der Logik, durch die Intuitionen und Hypothesen der Meta¬ physik, durch die Systeme und Systemversuche der großen Denker vergangener Zeiten. Und mit ganz besonderen: Danke erinnert sich wohl auch mancher, wie es der Schreiber dieser Zeiten tat, der „Philosophischen Besprechungen", die Liebmann ungemein sicher zu leiten und höchst instruktiv zu gestalten weiß. Aber trotz der sehr großen Erfolge, die Liebmann als Lehrer der akademischen Jugend gehabt hat und hat, kann man nicht sagen, daß der Mittelpunkt seiner Wirksamkeit das Katheder wäre: Liebmann gehört zu denjenigen, die ihre Eroberungen weit über die Grenzen ihrer Universität hinaus ausgedehnt haben: Ein gut Teil der Geistesgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts ist von seinem Wirken bestimmt worden; viele Tausende, die kaum je seinen Namen gehört haben, haben durch mannigfache Vermittlungen Anteil gewonnen an den geistigen Werten, die seine Arbeit zum Besitztum unserer Zeit gemacht hat. Als er zum erstenmal literarisch hervortrat, sah es um die Philosophie, sowohl auf den akademischen Lehrstühlen wie im breiteren Publikum, ganz anders aus als heute. An den Universitäten war von philosophischer Energie wenig zu merken; die Philosophie war kraftlos geworden, matt und ihrer selbst ungewiß. Im großen Publikum aber war die Zeit des Materialismus, die Zeit der dogmatischen Metaphysik eines proletenhaft gesunden Menschenverstandes, der mit suffisanter Gelassenheit die größten Worte auszusprechen liebte. Diese Popularphilosophie war es mehr noch als die schwächliche Kathederwissenschaft, die der damaligen Zeit ihre von Liebmann richtig erkannte philosophische Aufgabe stellte: die Überzeugung, daß „das Wesen der Dinge schwerlich so flach ist wie die Mehrzahl der Köpfe, die ihm auf den Grund gekommen zu sein glauben", mußte zu allernächst klar ausgesprochen und begründet werden. Gelang dies, so war damit der ungeschlachte Materialismus in seinem innersten Heiligtum augegriffen, und zugleich war den müde gewordenen Überbleibseln ernster Philosophie ein kräftiger Lebensantrieb zugeführt. Ein paar Rufer in der Wüste hatten sich bereits in ähnlichen! Sinne vernehmlich gemacht; auch ein wirklich Starker war unter ihnen: Kuno Fischer. Ihm trat Liebmann als der erste kampfgewaltige Bundesgenosse an die Seite. Seine Schrift „Kant und die Epigonen", die er als Fünfundzwanzigjähriger veröffentlichte, hat im genauesten Sinne das Signal gegeben für eine große, weit über Deutschlands Grenzen hinaus wirkende geistige Strömung. „Also muß auf Kant zurückgegangen werden" —: ungezählte Male sind diese lapidaren Worte, die in jenem Buche am Schlüsse jedes Kapitels stehen, wiederholt worden; sie haben ihren Eindruck nicht verfehlt. Die Erkenntnistheorie war das erste Hauptthema der Arbeiten Lieb¬ manns. Erkenntnistheorie allein konnte den Materialismus gründlich besiegen. Erkenntnistheorie allein konnte auch der unsicheren, verzagten, müden Art des nicht-materialistischen Denkens wieder Selbstgewißheit und Selbstvertrauen geben. Aber Liebmann war kein bloß formaler Geist. Er ist nie gewillt gewesen, in grauen Abstraktionen stecken zu bleiben; die Abstraktion war ihm nie Selbstzweck.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/420>, abgerufen am 22.12.2024.