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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Richard Dehmel

Liliencron bleibt in seinen Dichtungen immer der Mensch Liliencron, in
seiner menschlichen Begrenztheit und Beschwertheit. Dehmel wächst als Dichter
über den Menschen Dehmel hinaus zum Denker, hinaus in die unbegrenzte und
unbeschwerte Gedankenwelt. Darum ist auch Dehmel größer als Liliencron.

Dehmels Gedankenwelt ist weit und reich. Im Gegensatz zu Liliencron
schafft ihr er in seinen Werken den Platz, der ihrer Bedeutung in seinem Dasein
entspricht. Er setzt sich mit den Ideen, die ihn beschäftigen, auch schriftlich
auseinander, in Vers und Prosa, in Gedichten, Erzählungen, Dramen und tief¬
schürfenden Essays. Insoweit ist auch bei ihm alles Autobiographie. Das
kommt uns aber kaum zum Bewußtsein. Während wir bei Liliencron in jedem
Baude fragen: Wann und wo hat Liliencron das erlebt? Was hat ihm dazu
den Anstoß gegeben? würdigen wir Dehmels Erzählungen und Betrachtungen
mehr objektiv als Kunstwerke, als Erzeugnisse eines beliebigen Verfassers.

Den reichen Inhalt der "Gesammelten Werke" auch nur zu skizzieren, muß
ich mir versagen. Ich kann Dehmel weder als gemut- und humorvollen Kenner
der Kindesseele würdigen, noch meine Ablehnung seiner psychologisch unwahr¬
scheinlichen Tragikomödie "Der Mitmensch", wie auch der farbenfreudigen, aber
mystisch dunklen Pantomine "Lucifer" begründen. Wer die Besorgnis hegt,
daß ihn auch jetzt noch Exzesse der Aufrichtigkeit Dehmels, seines Dranges, das
Leben in unerbittlicher Wahrhaftigkeit darzustellen, von dem Ganzen abstoßen
könnten, der meide den vierten Band. In den "Verwandlungen iber Venus"
hat Dehmel die Gedichte zu einem besonderen Buche zusammengestellt, die
"seine zeitweilige Verstrickung in die erotischen Probleme" bekunden. Mit seiner
bekannten "Offenheit" bemerkt er dazu: "Unter meinen mindestens fünfhundert
Gedichten befinden sich einige, die sich in unverheuchelter Art mit den brutalen
Instinkten des menschlichen Geschlechtslebens befassen; es sind im ganzen höchstens
zehn, aber gewisse Leute scheinen nur immer gerade diese bei mir zu lesen.
Um derlei Leuten das Stichen zu erleichtern, und damit sie ihre sittlichen Nasen
nicht in meine übrigen Bücher stecken, habe ich all diese Gedichte in die "Ver¬
wandlungen der Venus" mit eingeflochten. Vielleicht wird den Herrschaften da
begreiflich, daß selbst den unheiligsten Sinnlichkeiten der künstlerisch betrachteten
Menschheit ein heiliger Schöpfergeist innewohnt, der sich um jeden Preis, sogar
um den der Verirrung, über die Tierheit hinausringen will."

Wer dann noch auf seinem Weg zu Dehmel Schwierigkeiten finden sollte,
lasse sich an eine allgemeine Erfahrung erinnern, die ich vielleicht wieder mit
eigenem Erleben belegen darf. Als ich zum ersten Male Beethovens Sinfonien
und Wagners Opern hörte, als ich zum ersten Male Dramen von Ibsen sah,
lehnte ich sie ab. Wir neigen ja alle dazu, in solchen Fällen nicht auf uns.


Richard Dehmel

Liliencron bleibt in seinen Dichtungen immer der Mensch Liliencron, in
seiner menschlichen Begrenztheit und Beschwertheit. Dehmel wächst als Dichter
über den Menschen Dehmel hinaus zum Denker, hinaus in die unbegrenzte und
unbeschwerte Gedankenwelt. Darum ist auch Dehmel größer als Liliencron.

Dehmels Gedankenwelt ist weit und reich. Im Gegensatz zu Liliencron
schafft ihr er in seinen Werken den Platz, der ihrer Bedeutung in seinem Dasein
entspricht. Er setzt sich mit den Ideen, die ihn beschäftigen, auch schriftlich
auseinander, in Vers und Prosa, in Gedichten, Erzählungen, Dramen und tief¬
schürfenden Essays. Insoweit ist auch bei ihm alles Autobiographie. Das
kommt uns aber kaum zum Bewußtsein. Während wir bei Liliencron in jedem
Baude fragen: Wann und wo hat Liliencron das erlebt? Was hat ihm dazu
den Anstoß gegeben? würdigen wir Dehmels Erzählungen und Betrachtungen
mehr objektiv als Kunstwerke, als Erzeugnisse eines beliebigen Verfassers.

Den reichen Inhalt der „Gesammelten Werke" auch nur zu skizzieren, muß
ich mir versagen. Ich kann Dehmel weder als gemut- und humorvollen Kenner
der Kindesseele würdigen, noch meine Ablehnung seiner psychologisch unwahr¬
scheinlichen Tragikomödie „Der Mitmensch", wie auch der farbenfreudigen, aber
mystisch dunklen Pantomine „Lucifer" begründen. Wer die Besorgnis hegt,
daß ihn auch jetzt noch Exzesse der Aufrichtigkeit Dehmels, seines Dranges, das
Leben in unerbittlicher Wahrhaftigkeit darzustellen, von dem Ganzen abstoßen
könnten, der meide den vierten Band. In den „Verwandlungen iber Venus"
hat Dehmel die Gedichte zu einem besonderen Buche zusammengestellt, die
„seine zeitweilige Verstrickung in die erotischen Probleme" bekunden. Mit seiner
bekannten „Offenheit" bemerkt er dazu: „Unter meinen mindestens fünfhundert
Gedichten befinden sich einige, die sich in unverheuchelter Art mit den brutalen
Instinkten des menschlichen Geschlechtslebens befassen; es sind im ganzen höchstens
zehn, aber gewisse Leute scheinen nur immer gerade diese bei mir zu lesen.
Um derlei Leuten das Stichen zu erleichtern, und damit sie ihre sittlichen Nasen
nicht in meine übrigen Bücher stecken, habe ich all diese Gedichte in die „Ver¬
wandlungen der Venus" mit eingeflochten. Vielleicht wird den Herrschaften da
begreiflich, daß selbst den unheiligsten Sinnlichkeiten der künstlerisch betrachteten
Menschheit ein heiliger Schöpfergeist innewohnt, der sich um jeden Preis, sogar
um den der Verirrung, über die Tierheit hinausringen will."

Wer dann noch auf seinem Weg zu Dehmel Schwierigkeiten finden sollte,
lasse sich an eine allgemeine Erfahrung erinnern, die ich vielleicht wieder mit
eigenem Erleben belegen darf. Als ich zum ersten Male Beethovens Sinfonien
und Wagners Opern hörte, als ich zum ersten Male Dramen von Ibsen sah,
lehnte ich sie ab. Wir neigen ja alle dazu, in solchen Fällen nicht auf uns.


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[0408] Richard Dehmel Liliencron bleibt in seinen Dichtungen immer der Mensch Liliencron, in seiner menschlichen Begrenztheit und Beschwertheit. Dehmel wächst als Dichter über den Menschen Dehmel hinaus zum Denker, hinaus in die unbegrenzte und unbeschwerte Gedankenwelt. Darum ist auch Dehmel größer als Liliencron. Dehmels Gedankenwelt ist weit und reich. Im Gegensatz zu Liliencron schafft ihr er in seinen Werken den Platz, der ihrer Bedeutung in seinem Dasein entspricht. Er setzt sich mit den Ideen, die ihn beschäftigen, auch schriftlich auseinander, in Vers und Prosa, in Gedichten, Erzählungen, Dramen und tief¬ schürfenden Essays. Insoweit ist auch bei ihm alles Autobiographie. Das kommt uns aber kaum zum Bewußtsein. Während wir bei Liliencron in jedem Baude fragen: Wann und wo hat Liliencron das erlebt? Was hat ihm dazu den Anstoß gegeben? würdigen wir Dehmels Erzählungen und Betrachtungen mehr objektiv als Kunstwerke, als Erzeugnisse eines beliebigen Verfassers. Den reichen Inhalt der „Gesammelten Werke" auch nur zu skizzieren, muß ich mir versagen. Ich kann Dehmel weder als gemut- und humorvollen Kenner der Kindesseele würdigen, noch meine Ablehnung seiner psychologisch unwahr¬ scheinlichen Tragikomödie „Der Mitmensch", wie auch der farbenfreudigen, aber mystisch dunklen Pantomine „Lucifer" begründen. Wer die Besorgnis hegt, daß ihn auch jetzt noch Exzesse der Aufrichtigkeit Dehmels, seines Dranges, das Leben in unerbittlicher Wahrhaftigkeit darzustellen, von dem Ganzen abstoßen könnten, der meide den vierten Band. In den „Verwandlungen iber Venus" hat Dehmel die Gedichte zu einem besonderen Buche zusammengestellt, die „seine zeitweilige Verstrickung in die erotischen Probleme" bekunden. Mit seiner bekannten „Offenheit" bemerkt er dazu: „Unter meinen mindestens fünfhundert Gedichten befinden sich einige, die sich in unverheuchelter Art mit den brutalen Instinkten des menschlichen Geschlechtslebens befassen; es sind im ganzen höchstens zehn, aber gewisse Leute scheinen nur immer gerade diese bei mir zu lesen. Um derlei Leuten das Stichen zu erleichtern, und damit sie ihre sittlichen Nasen nicht in meine übrigen Bücher stecken, habe ich all diese Gedichte in die „Ver¬ wandlungen der Venus" mit eingeflochten. Vielleicht wird den Herrschaften da begreiflich, daß selbst den unheiligsten Sinnlichkeiten der künstlerisch betrachteten Menschheit ein heiliger Schöpfergeist innewohnt, der sich um jeden Preis, sogar um den der Verirrung, über die Tierheit hinausringen will." Wer dann noch auf seinem Weg zu Dehmel Schwierigkeiten finden sollte, lasse sich an eine allgemeine Erfahrung erinnern, die ich vielleicht wieder mit eigenem Erleben belegen darf. Als ich zum ersten Male Beethovens Sinfonien und Wagners Opern hörte, als ich zum ersten Male Dramen von Ibsen sah, lehnte ich sie ab. Wir neigen ja alle dazu, in solchen Fällen nicht auf uns.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/408>, abgerufen am 24.07.2024.