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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Mehr Achtung vor Frankreich!

Verlust von Elsaß-Lothringen genau dieselbe psychische Notwendigkeit gewesen.
Die Gestalt der trauernden Alsace mit der schwarzen Schleifenhaube, diese ein
wenig nachträglich entdeckte Gegenliebe für die deutschen Departements, war
jedoch das am besten und herzlichsten auszuhängende Plakat. An das Los¬
schlagen bei möglicher Gelegenheit glaubte und dachte jedermann. Nicht kläglich
setzte man auf die Gedächtnisdenkmäler das bekannte "1870--18 . sondern
das Bewußtsein, nur in Ungeduld zu harren, war überzeugt und echt. Wer
Paris aus den älteren achtziger Jahren kennt, erinnert sich genug daran. Bis
in die Stille der großen Bibliotheken, wenn man sich eine mittelalterliche Hand¬
schrift ausbat, vibrierte unter der knappen Höflichkeit das Beleidigtsein, daß
man uns sah. Der Bürger, mit den: man ins Gespräch geriet oder der sich
in den Ausflugsorten an der Seine zu dem Fremden setzte, weil man nicht
schwatzen kann, wenn jeder allein sitzt, sagte ernsthaft: "Eines Tages wird es
sein müssen!" und fügte ein kultiviertes Bedauern hinzu. Wie der Wille des
Schicksals, unentrinnbar, hing die Drohung herab. Absolut zuverlässig war
diese auf ein ganzes Volk verallgemeinerte Erwartung. Jeder, der publizistische
Geschäfte machen wollte, oder wer im größeren Stil halb für sich und halb für
die Sache, für Frankreich, zu agieren unternahm, war des über die Parteien
wegflutenden Widerhalls bedingungslos sicher. Hier gab es keinen Widerspruch
und gab es keine Kritik. Nicht zum wenigsten die kopflose Unbesinnlichkeit für den
General Boulanger hat dann, als es immer flauer mit ihm wurde, erstmals
der Revanche die Sehnen der sprunghafter Energie und der Zuversicht durch¬
schnitten. Wir erinnern aber noch, wie nachgiebig Bismarck den akuten
Schnaebele-Fall wegräumte und wie wir auf alles gefaßt sein mußten.

Dieser Boulanger schlug durch die Entlarvung als der Charlatan, der er
war, breite Breschen für uns und den Frieden: durch das stutzende Mißtrauen
nun, die bisher stets abgewehrte Voraussicht des neuen Sedan und schon durch
die eintretende Ermüdung nach verpuffter Bereitschaft. Von da ab schwenkte
viel der Entwicklung -- ich spreche nur immer von den allgemeinen Stimmungen
und naiven Meinungsvorgüngen nicht von der Fachpolitik vorher und
nachher -- in die Richtung des stillen Verzichtens ein. Daß die Besorgnis die
Oberhand gewonnen, sprach sich schon recht vernehmlich aus, als Wilhelm II.
den Thron bestieg, der im voraus international Verschriene, "der in den Kasernen
aufgewachsene, Bier trinkende und üblen Tabak rauchende Korporal". Ein paar
Wochen vorher war gehofft worden, Friedrich III. werde Elsaß-Lothringen her¬
schenken, man erhalte alles ohne Krieg, durch eine Abdankung Deutschlands,
zurück. Auch dies eine höchst bezeichnende Etappe der ermattenden Entschlossenheit.

Nun sind es vier Jahrzehnte der Revanche geworden, zu der es nicht
gekommen ist. Das ist zu lange. Die Revanche ist aus, ihre Gestalt ist keine
Jeanne d'Arc mehr, eine tote Puppe nur noch, die künstlich aufs Pferd gebunden
werden müßte. Wer zur Algcciras-Zeit in Paris war, der hatte bis zur
Verblüfftheit diesen Eindruck, trotz den DelcaM und den politicienZ, trotz


Mehr Achtung vor Frankreich!

Verlust von Elsaß-Lothringen genau dieselbe psychische Notwendigkeit gewesen.
Die Gestalt der trauernden Alsace mit der schwarzen Schleifenhaube, diese ein
wenig nachträglich entdeckte Gegenliebe für die deutschen Departements, war
jedoch das am besten und herzlichsten auszuhängende Plakat. An das Los¬
schlagen bei möglicher Gelegenheit glaubte und dachte jedermann. Nicht kläglich
setzte man auf die Gedächtnisdenkmäler das bekannte „1870—18 . sondern
das Bewußtsein, nur in Ungeduld zu harren, war überzeugt und echt. Wer
Paris aus den älteren achtziger Jahren kennt, erinnert sich genug daran. Bis
in die Stille der großen Bibliotheken, wenn man sich eine mittelalterliche Hand¬
schrift ausbat, vibrierte unter der knappen Höflichkeit das Beleidigtsein, daß
man uns sah. Der Bürger, mit den: man ins Gespräch geriet oder der sich
in den Ausflugsorten an der Seine zu dem Fremden setzte, weil man nicht
schwatzen kann, wenn jeder allein sitzt, sagte ernsthaft: „Eines Tages wird es
sein müssen!" und fügte ein kultiviertes Bedauern hinzu. Wie der Wille des
Schicksals, unentrinnbar, hing die Drohung herab. Absolut zuverlässig war
diese auf ein ganzes Volk verallgemeinerte Erwartung. Jeder, der publizistische
Geschäfte machen wollte, oder wer im größeren Stil halb für sich und halb für
die Sache, für Frankreich, zu agieren unternahm, war des über die Parteien
wegflutenden Widerhalls bedingungslos sicher. Hier gab es keinen Widerspruch
und gab es keine Kritik. Nicht zum wenigsten die kopflose Unbesinnlichkeit für den
General Boulanger hat dann, als es immer flauer mit ihm wurde, erstmals
der Revanche die Sehnen der sprunghafter Energie und der Zuversicht durch¬
schnitten. Wir erinnern aber noch, wie nachgiebig Bismarck den akuten
Schnaebele-Fall wegräumte und wie wir auf alles gefaßt sein mußten.

Dieser Boulanger schlug durch die Entlarvung als der Charlatan, der er
war, breite Breschen für uns und den Frieden: durch das stutzende Mißtrauen
nun, die bisher stets abgewehrte Voraussicht des neuen Sedan und schon durch
die eintretende Ermüdung nach verpuffter Bereitschaft. Von da ab schwenkte
viel der Entwicklung — ich spreche nur immer von den allgemeinen Stimmungen
und naiven Meinungsvorgüngen nicht von der Fachpolitik vorher und
nachher — in die Richtung des stillen Verzichtens ein. Daß die Besorgnis die
Oberhand gewonnen, sprach sich schon recht vernehmlich aus, als Wilhelm II.
den Thron bestieg, der im voraus international Verschriene, „der in den Kasernen
aufgewachsene, Bier trinkende und üblen Tabak rauchende Korporal". Ein paar
Wochen vorher war gehofft worden, Friedrich III. werde Elsaß-Lothringen her¬
schenken, man erhalte alles ohne Krieg, durch eine Abdankung Deutschlands,
zurück. Auch dies eine höchst bezeichnende Etappe der ermattenden Entschlossenheit.

Nun sind es vier Jahrzehnte der Revanche geworden, zu der es nicht
gekommen ist. Das ist zu lange. Die Revanche ist aus, ihre Gestalt ist keine
Jeanne d'Arc mehr, eine tote Puppe nur noch, die künstlich aufs Pferd gebunden
werden müßte. Wer zur Algcciras-Zeit in Paris war, der hatte bis zur
Verblüfftheit diesen Eindruck, trotz den DelcaM und den politicienZ, trotz


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/398>, abgerufen am 22.12.2024.