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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Der Außenarchitett

Dies ist der organische Weg, den wir auch bei allen technischen Arbeiten einschlagen.
Warum sollen wir nun gerade bei dem Haus, in dem wir leben, anders ver¬
fahren? Warum soll gerade der Architekt pervers, nicht organisch vorgehen? Nicht
einmal beim Krebs bildet sich erst die Schale, dann der Leib und das Fleisch,
nicht einmal bei der Schildkröte erst der Panzer, bei keinem Wesen bildet sich erst
die Haut oder der Knochen -- der Mensch würde gut daran tun, auch hierin der
Natur, dieser größten Bauherrin, als Lehrmeisterin zu folgen. Wahrscheinlich ist
der Grund, daß wir in der Architektur es nicht getan haben und als Architekten
so unorganisch verfahren sind, der, daß wir uns immer auf der Suche nach einem
Stil befinden und doch den richtigen Stil niemals treffen. Denn auch der Stil
hängt mehr mit dem Zweck, Gebrauch und Bedürfnis zusammen, als man
gemeinhin denkt. Oder ist etwa der gotische Stil auf der einen, der des Rokoko
auf der anderen eine Sache wesentlich der Außenarchitektur, oder nicht vielmehr
der Innenarchitektur, des Innenraumes, des Innenlebens -- des Innenlebens in
zwiefacher Hinsicht, den Raum und seine Bewohner angebend? Was war zuerst
da, der gotische Stil oder das innige, übersinnliche Empfinden der Menschen jener
Zeit? Was war zuerst da, der Rokokostil oder das kokett-graziöse Leben und
Empfinden der Franzosen des achtzehnten Jahrhunderts? Und so mit allen Stilen
und Architekturen. Nicht einmal ein Reithaus kann man von außen nach innen
bauen, und selbst in der altgriechischen Architektur war das Erste der Mensch, sein
Empfinden, sein Leben, sein Zweck. Erst im Barockzeitalter kam es auf, daß man
eine Außenarchitektur unorganisch und pervers um einen Innenraum herumlegte,
eine Kulisse davor stellte und eine Fassade mit vier Stockwerken konstruierte,
während sich im Innern nur drei oder gar nur ein Kirchenschiff befand. Von
dieser unorganischen Auffassung der Architektur haben wir uns noch immer nicht
völlig losmachen können. Sonst wäre es nicht möglich, daß wir ein Haus von
einem Außenarchitekten bauen und von einem Innenarchitekten einrichten lassen.
Hier dürfte die Wurzel fast aller baukünstlerischen libet liegen. Der Maurer baut
freilich von außen nach innen, wie von unten nach oben, und er fängt bei den
Umfassungsmauern an. Aber der Plan des Ganzen muß dann schon feststehen,
und dieses Ganze, das Haus, muß von innen nach außen erdacht sein. Vielleicht
kommt also der Grund, daß der verkehrte unorganische Weg sich eingebürgert hat,
auch daher, daß der Maurer von außen nach innen baut, daß in der Ausführung
das Haus von außen nach innen gebaut wird. Dann würden wir also heute
noch wie die Wilden bauen, die erst das Strohdach ihrer Hütte bauen und dann
sehen, wieviel Raum sie unter dem Dach finden.

Was wir brauchen, ist eine Wohnnngsbaukunst, eine Baukunst aus dem
Bedürfnis, aus dem Zweck, aus dem Temperament derer heraus, die die Häuser
bewohnen. Der Fassadenbaumeister und Paneelarchitekt sollten endlich aus¬
Dr. Heinrich pndor gestorben sein. -




Der Außenarchitett

Dies ist der organische Weg, den wir auch bei allen technischen Arbeiten einschlagen.
Warum sollen wir nun gerade bei dem Haus, in dem wir leben, anders ver¬
fahren? Warum soll gerade der Architekt pervers, nicht organisch vorgehen? Nicht
einmal beim Krebs bildet sich erst die Schale, dann der Leib und das Fleisch,
nicht einmal bei der Schildkröte erst der Panzer, bei keinem Wesen bildet sich erst
die Haut oder der Knochen — der Mensch würde gut daran tun, auch hierin der
Natur, dieser größten Bauherrin, als Lehrmeisterin zu folgen. Wahrscheinlich ist
der Grund, daß wir in der Architektur es nicht getan haben und als Architekten
so unorganisch verfahren sind, der, daß wir uns immer auf der Suche nach einem
Stil befinden und doch den richtigen Stil niemals treffen. Denn auch der Stil
hängt mehr mit dem Zweck, Gebrauch und Bedürfnis zusammen, als man
gemeinhin denkt. Oder ist etwa der gotische Stil auf der einen, der des Rokoko
auf der anderen eine Sache wesentlich der Außenarchitektur, oder nicht vielmehr
der Innenarchitektur, des Innenraumes, des Innenlebens — des Innenlebens in
zwiefacher Hinsicht, den Raum und seine Bewohner angebend? Was war zuerst
da, der gotische Stil oder das innige, übersinnliche Empfinden der Menschen jener
Zeit? Was war zuerst da, der Rokokostil oder das kokett-graziöse Leben und
Empfinden der Franzosen des achtzehnten Jahrhunderts? Und so mit allen Stilen
und Architekturen. Nicht einmal ein Reithaus kann man von außen nach innen
bauen, und selbst in der altgriechischen Architektur war das Erste der Mensch, sein
Empfinden, sein Leben, sein Zweck. Erst im Barockzeitalter kam es auf, daß man
eine Außenarchitektur unorganisch und pervers um einen Innenraum herumlegte,
eine Kulisse davor stellte und eine Fassade mit vier Stockwerken konstruierte,
während sich im Innern nur drei oder gar nur ein Kirchenschiff befand. Von
dieser unorganischen Auffassung der Architektur haben wir uns noch immer nicht
völlig losmachen können. Sonst wäre es nicht möglich, daß wir ein Haus von
einem Außenarchitekten bauen und von einem Innenarchitekten einrichten lassen.
Hier dürfte die Wurzel fast aller baukünstlerischen libet liegen. Der Maurer baut
freilich von außen nach innen, wie von unten nach oben, und er fängt bei den
Umfassungsmauern an. Aber der Plan des Ganzen muß dann schon feststehen,
und dieses Ganze, das Haus, muß von innen nach außen erdacht sein. Vielleicht
kommt also der Grund, daß der verkehrte unorganische Weg sich eingebürgert hat,
auch daher, daß der Maurer von außen nach innen baut, daß in der Ausführung
das Haus von außen nach innen gebaut wird. Dann würden wir also heute
noch wie die Wilden bauen, die erst das Strohdach ihrer Hütte bauen und dann
sehen, wieviel Raum sie unter dem Dach finden.

Was wir brauchen, ist eine Wohnnngsbaukunst, eine Baukunst aus dem
Bedürfnis, aus dem Zweck, aus dem Temperament derer heraus, die die Häuser
bewohnen. Der Fassadenbaumeister und Paneelarchitekt sollten endlich aus¬
Dr. Heinrich pndor gestorben sein. -




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[0395] Der Außenarchitett Dies ist der organische Weg, den wir auch bei allen technischen Arbeiten einschlagen. Warum sollen wir nun gerade bei dem Haus, in dem wir leben, anders ver¬ fahren? Warum soll gerade der Architekt pervers, nicht organisch vorgehen? Nicht einmal beim Krebs bildet sich erst die Schale, dann der Leib und das Fleisch, nicht einmal bei der Schildkröte erst der Panzer, bei keinem Wesen bildet sich erst die Haut oder der Knochen — der Mensch würde gut daran tun, auch hierin der Natur, dieser größten Bauherrin, als Lehrmeisterin zu folgen. Wahrscheinlich ist der Grund, daß wir in der Architektur es nicht getan haben und als Architekten so unorganisch verfahren sind, der, daß wir uns immer auf der Suche nach einem Stil befinden und doch den richtigen Stil niemals treffen. Denn auch der Stil hängt mehr mit dem Zweck, Gebrauch und Bedürfnis zusammen, als man gemeinhin denkt. Oder ist etwa der gotische Stil auf der einen, der des Rokoko auf der anderen eine Sache wesentlich der Außenarchitektur, oder nicht vielmehr der Innenarchitektur, des Innenraumes, des Innenlebens — des Innenlebens in zwiefacher Hinsicht, den Raum und seine Bewohner angebend? Was war zuerst da, der gotische Stil oder das innige, übersinnliche Empfinden der Menschen jener Zeit? Was war zuerst da, der Rokokostil oder das kokett-graziöse Leben und Empfinden der Franzosen des achtzehnten Jahrhunderts? Und so mit allen Stilen und Architekturen. Nicht einmal ein Reithaus kann man von außen nach innen bauen, und selbst in der altgriechischen Architektur war das Erste der Mensch, sein Empfinden, sein Leben, sein Zweck. Erst im Barockzeitalter kam es auf, daß man eine Außenarchitektur unorganisch und pervers um einen Innenraum herumlegte, eine Kulisse davor stellte und eine Fassade mit vier Stockwerken konstruierte, während sich im Innern nur drei oder gar nur ein Kirchenschiff befand. Von dieser unorganischen Auffassung der Architektur haben wir uns noch immer nicht völlig losmachen können. Sonst wäre es nicht möglich, daß wir ein Haus von einem Außenarchitekten bauen und von einem Innenarchitekten einrichten lassen. Hier dürfte die Wurzel fast aller baukünstlerischen libet liegen. Der Maurer baut freilich von außen nach innen, wie von unten nach oben, und er fängt bei den Umfassungsmauern an. Aber der Plan des Ganzen muß dann schon feststehen, und dieses Ganze, das Haus, muß von innen nach außen erdacht sein. Vielleicht kommt also der Grund, daß der verkehrte unorganische Weg sich eingebürgert hat, auch daher, daß der Maurer von außen nach innen baut, daß in der Ausführung das Haus von außen nach innen gebaut wird. Dann würden wir also heute noch wie die Wilden bauen, die erst das Strohdach ihrer Hütte bauen und dann sehen, wieviel Raum sie unter dem Dach finden. Was wir brauchen, ist eine Wohnnngsbaukunst, eine Baukunst aus dem Bedürfnis, aus dem Zweck, aus dem Temperament derer heraus, die die Häuser bewohnen. Der Fassadenbaumeister und Paneelarchitekt sollten endlich aus¬ Dr. Heinrich pndor gestorben sein. -

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/395>, abgerufen am 22.12.2024.