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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Lrnst Zahn

als ein unablösbares Element verbindet mit den tiefern Herzenskämpfen der
beiden, in denen sich die zarte Kraft des Mannes schließlich verzehrt. In jeden:
kleinen und großen Konflikt handelt die Frau ganz aus ihrer Natur und Über¬
lieferung heraus, ohne böse Absicht, und kann doch nicht anders, als den wirklich
heißgeliebten Mann immer aufs neue verletzen, immer wieder Taten tun, die
die eben sich erbauende Brücke zwischen beiden schon bei den ersten Pfeilern
niederreißen. Er erlischt und sie bleibt leben, ohne Ahnung, daß noch ganz
zuletzt eine stumm getragene und nie bekannte Liebe mit dem Hauch eines schon
nicht mehr irdischen Friedens in das Herz des Kranken eingezogen ist. Und
mit echtem, knappein, menschlichem Ton werden auch nach dein Tode des Pfarrers
zu Se. Felix die Konflikte nicht verwischt, sondern was der Schweigsame nie
aussprach, darf seine Mutter, da sie gefragt wird von der erregten Witwe, doch
eben nur leise andeuten, ohne volles Verständnis zu finden -- es gibt
keine Brücke.

Daß es auch zwischen einer starren, ganz in sich und der Tradition
beruhenden Vergangenheit und einer neuen, blühenden Gegenwart unter Um¬
ständen keine Brücke gibt, zeigt Ernst Zahn in dem Roman "Die Clari-
Marie" (1904). Mit allen gesetzlichen und ungesetzlichen Mitteln, die aber
doch aus einem starken und ehrlichen Charakter entspringen, wehrt sich Clari-
Marie, die Hebamme, Ärztin und Beraterin des ganzen Bergdorfes oben am
AbHange, gegen die neue Zeit, will ihr Dorf, wie einst der Vorstand in den
"Herrgottsfäden", vor der neuen Zeit bewahren und muß dann erleben, daß
sich diese ihr in der Person des Neffen leibhaftig gegenüberstellt. Der junge
Arzt macht ihr Wesen zunichte, er hilft mit seiner stillen und ganzen Kunst, wo
ihre ebenso stille, aber halbe, ländliche nicht mehr ausreicht, und sie muß sehn,
wie ihr langsam ihr ganzes Leben unter den Fingern zerrinnt -- sie verliert
Pfarrer und Kirche, weil der Pfarrer sich als ein unwürdiger Mensch entpuppt,
verliert die scheinbar so frommen Geschwister, auf denen der Verdacht zweier
schwerer Verbrechen ruhn bleibt, und muß endlich durch eigne Schuld die einzige
geliebte Verwandte dahingehn sehn, der sie den Arzt zu spät gerufen hat; und
ihn: hat sie damit zugleich sein Lebensglück zertrümmert. Das Dorf ist wieder
still geworden, aber einsam ist's auch um sie. Und dennoch lebt sie in uns
ganz von eignen Gnaden als ein starker und ganzer Mensch, fehlbar wie wir
alle, aber doch mehr als wir alle durch die Hingebung an etwas, das sie über
sich stellt und halten will. Wozu sich der Schmied Fausch ("Stephan der
Schmied" in "Firnwind") noch zur Zeit durchringt: ein Unrecht einzusehn und
durch Verzicht gutzumachen, das gewinnt diese Natur freilich zu spät sich ab,
aber sie ist von dein Stamm der Menschen, die nichts halb haben können und
keine Kompromisse kennen, sondern lieber in sich ohne tragische Geberde mit
stummen Lippen sich zugrunde leben. Heldisch bleibt sie doch, wie Marianne
Denier, deren Gerechtigkeit freilich währe Gerechtigkeit ist, wo die der Clari-
Marie nicht immer von Selbstgerechtigkeit fernbleibt ("Die ^Gerechtigkeit der


Lrnst Zahn

als ein unablösbares Element verbindet mit den tiefern Herzenskämpfen der
beiden, in denen sich die zarte Kraft des Mannes schließlich verzehrt. In jeden:
kleinen und großen Konflikt handelt die Frau ganz aus ihrer Natur und Über¬
lieferung heraus, ohne böse Absicht, und kann doch nicht anders, als den wirklich
heißgeliebten Mann immer aufs neue verletzen, immer wieder Taten tun, die
die eben sich erbauende Brücke zwischen beiden schon bei den ersten Pfeilern
niederreißen. Er erlischt und sie bleibt leben, ohne Ahnung, daß noch ganz
zuletzt eine stumm getragene und nie bekannte Liebe mit dem Hauch eines schon
nicht mehr irdischen Friedens in das Herz des Kranken eingezogen ist. Und
mit echtem, knappein, menschlichem Ton werden auch nach dein Tode des Pfarrers
zu Se. Felix die Konflikte nicht verwischt, sondern was der Schweigsame nie
aussprach, darf seine Mutter, da sie gefragt wird von der erregten Witwe, doch
eben nur leise andeuten, ohne volles Verständnis zu finden — es gibt
keine Brücke.

Daß es auch zwischen einer starren, ganz in sich und der Tradition
beruhenden Vergangenheit und einer neuen, blühenden Gegenwart unter Um¬
ständen keine Brücke gibt, zeigt Ernst Zahn in dem Roman „Die Clari-
Marie" (1904). Mit allen gesetzlichen und ungesetzlichen Mitteln, die aber
doch aus einem starken und ehrlichen Charakter entspringen, wehrt sich Clari-
Marie, die Hebamme, Ärztin und Beraterin des ganzen Bergdorfes oben am
AbHange, gegen die neue Zeit, will ihr Dorf, wie einst der Vorstand in den
„Herrgottsfäden", vor der neuen Zeit bewahren und muß dann erleben, daß
sich diese ihr in der Person des Neffen leibhaftig gegenüberstellt. Der junge
Arzt macht ihr Wesen zunichte, er hilft mit seiner stillen und ganzen Kunst, wo
ihre ebenso stille, aber halbe, ländliche nicht mehr ausreicht, und sie muß sehn,
wie ihr langsam ihr ganzes Leben unter den Fingern zerrinnt — sie verliert
Pfarrer und Kirche, weil der Pfarrer sich als ein unwürdiger Mensch entpuppt,
verliert die scheinbar so frommen Geschwister, auf denen der Verdacht zweier
schwerer Verbrechen ruhn bleibt, und muß endlich durch eigne Schuld die einzige
geliebte Verwandte dahingehn sehn, der sie den Arzt zu spät gerufen hat; und
ihn: hat sie damit zugleich sein Lebensglück zertrümmert. Das Dorf ist wieder
still geworden, aber einsam ist's auch um sie. Und dennoch lebt sie in uns
ganz von eignen Gnaden als ein starker und ganzer Mensch, fehlbar wie wir
alle, aber doch mehr als wir alle durch die Hingebung an etwas, das sie über
sich stellt und halten will. Wozu sich der Schmied Fausch („Stephan der
Schmied" in „Firnwind") noch zur Zeit durchringt: ein Unrecht einzusehn und
durch Verzicht gutzumachen, das gewinnt diese Natur freilich zu spät sich ab,
aber sie ist von dein Stamm der Menschen, die nichts halb haben können und
keine Kompromisse kennen, sondern lieber in sich ohne tragische Geberde mit
stummen Lippen sich zugrunde leben. Heldisch bleibt sie doch, wie Marianne
Denier, deren Gerechtigkeit freilich währe Gerechtigkeit ist, wo die der Clari-
Marie nicht immer von Selbstgerechtigkeit fernbleibt („Die ^Gerechtigkeit der


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[0358] Lrnst Zahn als ein unablösbares Element verbindet mit den tiefern Herzenskämpfen der beiden, in denen sich die zarte Kraft des Mannes schließlich verzehrt. In jeden: kleinen und großen Konflikt handelt die Frau ganz aus ihrer Natur und Über¬ lieferung heraus, ohne böse Absicht, und kann doch nicht anders, als den wirklich heißgeliebten Mann immer aufs neue verletzen, immer wieder Taten tun, die die eben sich erbauende Brücke zwischen beiden schon bei den ersten Pfeilern niederreißen. Er erlischt und sie bleibt leben, ohne Ahnung, daß noch ganz zuletzt eine stumm getragene und nie bekannte Liebe mit dem Hauch eines schon nicht mehr irdischen Friedens in das Herz des Kranken eingezogen ist. Und mit echtem, knappein, menschlichem Ton werden auch nach dein Tode des Pfarrers zu Se. Felix die Konflikte nicht verwischt, sondern was der Schweigsame nie aussprach, darf seine Mutter, da sie gefragt wird von der erregten Witwe, doch eben nur leise andeuten, ohne volles Verständnis zu finden — es gibt keine Brücke. Daß es auch zwischen einer starren, ganz in sich und der Tradition beruhenden Vergangenheit und einer neuen, blühenden Gegenwart unter Um¬ ständen keine Brücke gibt, zeigt Ernst Zahn in dem Roman „Die Clari- Marie" (1904). Mit allen gesetzlichen und ungesetzlichen Mitteln, die aber doch aus einem starken und ehrlichen Charakter entspringen, wehrt sich Clari- Marie, die Hebamme, Ärztin und Beraterin des ganzen Bergdorfes oben am AbHange, gegen die neue Zeit, will ihr Dorf, wie einst der Vorstand in den „Herrgottsfäden", vor der neuen Zeit bewahren und muß dann erleben, daß sich diese ihr in der Person des Neffen leibhaftig gegenüberstellt. Der junge Arzt macht ihr Wesen zunichte, er hilft mit seiner stillen und ganzen Kunst, wo ihre ebenso stille, aber halbe, ländliche nicht mehr ausreicht, und sie muß sehn, wie ihr langsam ihr ganzes Leben unter den Fingern zerrinnt — sie verliert Pfarrer und Kirche, weil der Pfarrer sich als ein unwürdiger Mensch entpuppt, verliert die scheinbar so frommen Geschwister, auf denen der Verdacht zweier schwerer Verbrechen ruhn bleibt, und muß endlich durch eigne Schuld die einzige geliebte Verwandte dahingehn sehn, der sie den Arzt zu spät gerufen hat; und ihn: hat sie damit zugleich sein Lebensglück zertrümmert. Das Dorf ist wieder still geworden, aber einsam ist's auch um sie. Und dennoch lebt sie in uns ganz von eignen Gnaden als ein starker und ganzer Mensch, fehlbar wie wir alle, aber doch mehr als wir alle durch die Hingebung an etwas, das sie über sich stellt und halten will. Wozu sich der Schmied Fausch („Stephan der Schmied" in „Firnwind") noch zur Zeit durchringt: ein Unrecht einzusehn und durch Verzicht gutzumachen, das gewinnt diese Natur freilich zu spät sich ab, aber sie ist von dein Stamm der Menschen, die nichts halb haben können und keine Kompromisse kennen, sondern lieber in sich ohne tragische Geberde mit stummen Lippen sich zugrunde leben. Heldisch bleibt sie doch, wie Marianne Denier, deren Gerechtigkeit freilich währe Gerechtigkeit ist, wo die der Clari- Marie nicht immer von Selbstgerechtigkeit fernbleibt („Die ^Gerechtigkeit der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/358>, abgerufen am 04.07.2024.