Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches sein Geschenk in einer eignen Komposition. In Pforta ist er ein Musterschüler. Grenzboten l 1910 42
Maßgebliches und Unmaßgebliches sein Geschenk in einer eignen Komposition. In Pforta ist er ein Musterschüler. Grenzboten l 1910 42
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0341" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/315338"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_1449" prev="#ID_1448" next="#ID_1450"> sein Geschenk in einer eignen Komposition. In Pforta ist er ein Musterschüler.<lb/> Trotzdem hat er zweimal Pech gehabt. Als Primaner hat er einmal die Schul-<lb/> hausinspektorenwoche, d. h. er nutz alles verzeichnen, was in Stuben und an<lb/> Geräten reparaturbedürftig ist. Dieses banausische Geschäft sucht er sich und den<lb/> Vorgesetzten durch scherzhafte Einkleidung seines Berichts zu würzen. „Im Auditorium<lb/> Ur. X. brennen die Lampen so düster, datz die Schüler versucht sind, ihr eignes<lb/> Licht leuchten zu lassen usw." Die gestrengen Herren Lehrer aber, die wirkliche<lb/> Banausen gewesen zu sein scheinen, brummen ihm dafür drei Stunden Kärzer und<lb/> den Verlust ewiger Ausgänge auf. Das stört, weil er sich völlig schuldlos weitz, seine<lb/> heitere Ruhe uicht einen Augenblick. Dagegen ist er das zweitemal tief betrübt,<lb/> nicht der Strafe wegen, sondern weil er sich schuldig fühlt: er hat sich betrunken;<lb/> freilich ist ihm das nur passiert, weil er noch nicht gewutzt hat, was er verträgt,<lb/> aber er weitz eben, daß er vorsichtiger hätte sein sollen, und er geht auch zu seinem<lb/> Geistlichen, mit ihm den Vorfall zu besprechen. (Das Beichten und „Kommunizieren"<lb/> scheint in Pforta beinahe nach katholischer Weise geübt worden zu sein.) Im ganzen<lb/> erscheint er bei allem Ernste des Studiums ganz kindlich, freut sich wie ein Kind<lb/> auf die Familienfeste und über der Mutter Sendungen von Kuchen, Äpfeln,<lb/> Pflaumen, die er übrigens größtenteils unter seine Kameraden verteilt. Daß er<lb/> einmal ein tüchtiger Gelehrter werden würde, ließ sich in seiner Schülerzeit wohl<lb/> voraussehen, aber auf ganz Außergewöhnliches in Leistungen und Lebensgang<lb/> wies nichts hin; daß er später ganz aus dem Gleise gerate, würde, wenn es<lb/> vorausgesagt worden wäre, am allerwenigsten geglaubt worden sein. Er ist dann<lb/> zunächst auch ein ganz normaler Student (im ersten Jahre Verbindungsstudent), ein<lb/> normaler Professor und (am Pädagogium) Schulmeister gewesen. Was ihn<lb/> aus der Bahn geschleudert hat, war bekanntlich sein körperlicher Zustand, und<lb/> nicht, ohne ergriffen und erschüttert zu werden, kann man die Berichte über seine<lb/> mannigfachen Leiden lesen, die je länger desto mehr sein ganzes Leben zu einem<lb/> Martyrium machten. Überanstrengung im Beruf ist ohne Zweifel eine Haupt¬<lb/> ursache der Zerrüttung seiner Gesundheit gewesen. Er hat das gefühlt, und deswegen<lb/> war es keine ungemischte Freude für ihn, daß er mit vierundzwanzig Jahren als<lb/> Professor nach Basel berufen wurde; er hätte sich lieber vor Beginn der Amts¬<lb/> tätigkeit ein paar Jahre lang auf Reisen vom Studium erholt. Bald wurde die<lb/> Pein der seelischen Leiden noch weit ärger als die der körperlichen. Tief läßt in<lb/> seine Seele blicken, was er auf den Seiten 292, 309, 629 schreibt. Eine treffende<lb/> Selbstanalyse liefert er mit den Worten (S. 731): „Die Antinomie meiner Existenz<lb/> liegt darin, daß alles das, was ich als radikaler Philosoph radikaliter nötig habe —<lb/> Freiheit von Beruf, Weib und Kind, Freunden, Gesellschaft, Vaterland, Heimat,<lb/> Glauben, Freiheit fast von Liebe und Haß —ich als ebenso viele Entbehrungen<lb/> empfinde, insofern ich glücklicherweise ein lebendiges Wesen und kein bloßer<lb/> Abstraktionsapparat bin." Mit andern Worten: die Tragik seines Lebens lag<lb/> darin, daß er sich einbildete, etwas sein zu müssen, was außerhalb jeder Menschen¬<lb/> möglichkeit liegt. Geheimnisvoll deutet er manchmal an, daß er mit allen solchen<lb/> Bekenntnissen noch nicht sein Innerstes enthülle, daß dieses dem Blick aller andern<lb/> verborgen bleiben müsse, und daß kein Mensch reif sei, zu verstehen, was er<lb/> eigentlich denke und wolle. In: März 1885 schreibt er an seine Schwester: „Ich<lb/> bin viel zu stolz, um je zu glauben, daß ein Mensch mich lieben könne. Dies<lb/> würde nämlich voraussetzen, daß er wisse, wer ich bin. Ebensowenig glaube ich<lb/> daran, daß ich jemand lieben werde; dies würde voraussetzen, daß ich einmal<lb/> Wunder über Wunder! — einen Menschen meines Ranges fände." In<lb/> solcher Selbstschätzung kündigt sich schon der nicht mehr ferne Zuscimmenbruch an.</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten l 1910 42</fw><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0341]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
sein Geschenk in einer eignen Komposition. In Pforta ist er ein Musterschüler.
Trotzdem hat er zweimal Pech gehabt. Als Primaner hat er einmal die Schul-
hausinspektorenwoche, d. h. er nutz alles verzeichnen, was in Stuben und an
Geräten reparaturbedürftig ist. Dieses banausische Geschäft sucht er sich und den
Vorgesetzten durch scherzhafte Einkleidung seines Berichts zu würzen. „Im Auditorium
Ur. X. brennen die Lampen so düster, datz die Schüler versucht sind, ihr eignes
Licht leuchten zu lassen usw." Die gestrengen Herren Lehrer aber, die wirkliche
Banausen gewesen zu sein scheinen, brummen ihm dafür drei Stunden Kärzer und
den Verlust ewiger Ausgänge auf. Das stört, weil er sich völlig schuldlos weitz, seine
heitere Ruhe uicht einen Augenblick. Dagegen ist er das zweitemal tief betrübt,
nicht der Strafe wegen, sondern weil er sich schuldig fühlt: er hat sich betrunken;
freilich ist ihm das nur passiert, weil er noch nicht gewutzt hat, was er verträgt,
aber er weitz eben, daß er vorsichtiger hätte sein sollen, und er geht auch zu seinem
Geistlichen, mit ihm den Vorfall zu besprechen. (Das Beichten und „Kommunizieren"
scheint in Pforta beinahe nach katholischer Weise geübt worden zu sein.) Im ganzen
erscheint er bei allem Ernste des Studiums ganz kindlich, freut sich wie ein Kind
auf die Familienfeste und über der Mutter Sendungen von Kuchen, Äpfeln,
Pflaumen, die er übrigens größtenteils unter seine Kameraden verteilt. Daß er
einmal ein tüchtiger Gelehrter werden würde, ließ sich in seiner Schülerzeit wohl
voraussehen, aber auf ganz Außergewöhnliches in Leistungen und Lebensgang
wies nichts hin; daß er später ganz aus dem Gleise gerate, würde, wenn es
vorausgesagt worden wäre, am allerwenigsten geglaubt worden sein. Er ist dann
zunächst auch ein ganz normaler Student (im ersten Jahre Verbindungsstudent), ein
normaler Professor und (am Pädagogium) Schulmeister gewesen. Was ihn
aus der Bahn geschleudert hat, war bekanntlich sein körperlicher Zustand, und
nicht, ohne ergriffen und erschüttert zu werden, kann man die Berichte über seine
mannigfachen Leiden lesen, die je länger desto mehr sein ganzes Leben zu einem
Martyrium machten. Überanstrengung im Beruf ist ohne Zweifel eine Haupt¬
ursache der Zerrüttung seiner Gesundheit gewesen. Er hat das gefühlt, und deswegen
war es keine ungemischte Freude für ihn, daß er mit vierundzwanzig Jahren als
Professor nach Basel berufen wurde; er hätte sich lieber vor Beginn der Amts¬
tätigkeit ein paar Jahre lang auf Reisen vom Studium erholt. Bald wurde die
Pein der seelischen Leiden noch weit ärger als die der körperlichen. Tief läßt in
seine Seele blicken, was er auf den Seiten 292, 309, 629 schreibt. Eine treffende
Selbstanalyse liefert er mit den Worten (S. 731): „Die Antinomie meiner Existenz
liegt darin, daß alles das, was ich als radikaler Philosoph radikaliter nötig habe —
Freiheit von Beruf, Weib und Kind, Freunden, Gesellschaft, Vaterland, Heimat,
Glauben, Freiheit fast von Liebe und Haß —ich als ebenso viele Entbehrungen
empfinde, insofern ich glücklicherweise ein lebendiges Wesen und kein bloßer
Abstraktionsapparat bin." Mit andern Worten: die Tragik seines Lebens lag
darin, daß er sich einbildete, etwas sein zu müssen, was außerhalb jeder Menschen¬
möglichkeit liegt. Geheimnisvoll deutet er manchmal an, daß er mit allen solchen
Bekenntnissen noch nicht sein Innerstes enthülle, daß dieses dem Blick aller andern
verborgen bleiben müsse, und daß kein Mensch reif sei, zu verstehen, was er
eigentlich denke und wolle. In: März 1885 schreibt er an seine Schwester: „Ich
bin viel zu stolz, um je zu glauben, daß ein Mensch mich lieben könne. Dies
würde nämlich voraussetzen, daß er wisse, wer ich bin. Ebensowenig glaube ich
daran, daß ich jemand lieben werde; dies würde voraussetzen, daß ich einmal
Wunder über Wunder! — einen Menschen meines Ranges fände." In
solcher Selbstschätzung kündigt sich schon der nicht mehr ferne Zuscimmenbruch an.
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