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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Georg Freiherr von Hertling

Ergebnissen der fortschreitenden Wissenschaft Rechnung tragen, um Irrtümer zu
überwinden und Wahrheit zu erringen und festzustellen. So ist sie nie im
Besitze der Wahrheit, aber sie ist doch immer Wahrheit, wo sie Philosophie im
Sinne von Wahrheitsliebe, selbstlose Gesinnung der Wahrheit, ernstes, auf¬
richtiges Streben danach ist. Als solches ist sie, auch wenn sie irrt lebendige,
an ihrer Vervollkommnung rastlos arbeitende, sich immer nen gebärende, Wahrheit.
Sie lebt und webt, um mit Schiller zu sprechen, in der

Hertling ist freilich kein unbedingter, starrer Thomist. Er erklärt recht vorsichtig
und gewunden, die aristotelische Philosophie sei geschichtlich bedingt und demgemäß
der Veränderung unterworfen; an entscheidenden Punkten zeige sich die Lösung
der Probleme von der besonderen Form der Fragestellung abhängig, die die
vorangegangene Entwicklung herbeigeführt hatte; die begrifflichen Kategorien, in
die Aristoteles die verwickelten Natnworgünge zu fassen und aus denen er sie
zu verstehen sucht, seien aus den nächstliegenden Erfahrungen abstrahiert und
genügten deu strengen Anforderungen kausaler Erklärung nicht; so hätte es nicht
ausbleiben können, daß manche Bestandteile, die ftüheren Generationen als ein
in sich selbst Wertvolles erschienen waren, jetzt nur noch ihren Wert durch die
Anwendung behaupten, die sie innerhalb der Theologie gefunden haben. Deut¬
licher gesprochen sollte es heißen, daß die Scholastik nur noch durch künstliche
Stützen und äußerliche Gewalt aufrecht erhalten werden könne, da die moderne
Naturivissenschast ihr Fundament, die aristotelische Naturphilosophie, in Trümmer
geschlagen habe. Und welche Konsequenzen zieht Hertling aus dieser Sachlage?
"So könnte ich nur denke"," sagt er zur Beruhigung seines katholischen
Gewissens, "daß eine heute noch keineswegs nahe Zukunft die Verbindung
der Theologie mit der aristotelischen Philosophie lockerte und die nicht mehr
verständlichen und noch weniger befriedigenden Begriffe durch andere ersetzte,
welche ihrem vielfältig verbesserten Wissen entsprächen. . . . Aber die Versuche,
welche im 17. Jahrhundert mit der Cartesianischen, im 19. Jahrhundert mit
der Kantischen und Hegelschen Philosophie gemacht worden sind, mahnen zur
Vorsicht. Ein Begriffssystem, welches das Aristotelische ersetzen sollte, müßte
ebenso wie dieses ans der Fülle des Wissens und des Zeitbewußtseins hervor¬
gegangen, es müßte ebenso wie dieses zu dauernder Herrschaft über weite Kreise
der denkenden Menschheit gelangt sein. Auch dann aber würde seine Verwendung
lo der kirchlichen Theologie sich schwerlich ohne allerhand Irrungen und
Wirrungen vollziehen. . . . Auch einem Thomas von Aquin blieben die An¬
feindungen eilest erspart. Er galt damals vielen als ein Neuerer, gegen deu
die Verfechter des bewährten Alten ihre Angriffe zu richten hätten. So wird


Georg Freiherr von Hertling

Ergebnissen der fortschreitenden Wissenschaft Rechnung tragen, um Irrtümer zu
überwinden und Wahrheit zu erringen und festzustellen. So ist sie nie im
Besitze der Wahrheit, aber sie ist doch immer Wahrheit, wo sie Philosophie im
Sinne von Wahrheitsliebe, selbstlose Gesinnung der Wahrheit, ernstes, auf¬
richtiges Streben danach ist. Als solches ist sie, auch wenn sie irrt lebendige,
an ihrer Vervollkommnung rastlos arbeitende, sich immer nen gebärende, Wahrheit.
Sie lebt und webt, um mit Schiller zu sprechen, in der

Hertling ist freilich kein unbedingter, starrer Thomist. Er erklärt recht vorsichtig
und gewunden, die aristotelische Philosophie sei geschichtlich bedingt und demgemäß
der Veränderung unterworfen; an entscheidenden Punkten zeige sich die Lösung
der Probleme von der besonderen Form der Fragestellung abhängig, die die
vorangegangene Entwicklung herbeigeführt hatte; die begrifflichen Kategorien, in
die Aristoteles die verwickelten Natnworgünge zu fassen und aus denen er sie
zu verstehen sucht, seien aus den nächstliegenden Erfahrungen abstrahiert und
genügten deu strengen Anforderungen kausaler Erklärung nicht; so hätte es nicht
ausbleiben können, daß manche Bestandteile, die ftüheren Generationen als ein
in sich selbst Wertvolles erschienen waren, jetzt nur noch ihren Wert durch die
Anwendung behaupten, die sie innerhalb der Theologie gefunden haben. Deut¬
licher gesprochen sollte es heißen, daß die Scholastik nur noch durch künstliche
Stützen und äußerliche Gewalt aufrecht erhalten werden könne, da die moderne
Naturivissenschast ihr Fundament, die aristotelische Naturphilosophie, in Trümmer
geschlagen habe. Und welche Konsequenzen zieht Hertling aus dieser Sachlage?
„So könnte ich nur denke«," sagt er zur Beruhigung seines katholischen
Gewissens, „daß eine heute noch keineswegs nahe Zukunft die Verbindung
der Theologie mit der aristotelischen Philosophie lockerte und die nicht mehr
verständlichen und noch weniger befriedigenden Begriffe durch andere ersetzte,
welche ihrem vielfältig verbesserten Wissen entsprächen. . . . Aber die Versuche,
welche im 17. Jahrhundert mit der Cartesianischen, im 19. Jahrhundert mit
der Kantischen und Hegelschen Philosophie gemacht worden sind, mahnen zur
Vorsicht. Ein Begriffssystem, welches das Aristotelische ersetzen sollte, müßte
ebenso wie dieses ans der Fülle des Wissens und des Zeitbewußtseins hervor¬
gegangen, es müßte ebenso wie dieses zu dauernder Herrschaft über weite Kreise
der denkenden Menschheit gelangt sein. Auch dann aber würde seine Verwendung
lo der kirchlichen Theologie sich schwerlich ohne allerhand Irrungen und
Wirrungen vollziehen. . . . Auch einem Thomas von Aquin blieben die An¬
feindungen eilest erspart. Er galt damals vielen als ein Neuerer, gegen deu
die Verfechter des bewährten Alten ihre Angriffe zu richten hätten. So wird


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[0321] Georg Freiherr von Hertling Ergebnissen der fortschreitenden Wissenschaft Rechnung tragen, um Irrtümer zu überwinden und Wahrheit zu erringen und festzustellen. So ist sie nie im Besitze der Wahrheit, aber sie ist doch immer Wahrheit, wo sie Philosophie im Sinne von Wahrheitsliebe, selbstlose Gesinnung der Wahrheit, ernstes, auf¬ richtiges Streben danach ist. Als solches ist sie, auch wenn sie irrt lebendige, an ihrer Vervollkommnung rastlos arbeitende, sich immer nen gebärende, Wahrheit. Sie lebt und webt, um mit Schiller zu sprechen, in der Hertling ist freilich kein unbedingter, starrer Thomist. Er erklärt recht vorsichtig und gewunden, die aristotelische Philosophie sei geschichtlich bedingt und demgemäß der Veränderung unterworfen; an entscheidenden Punkten zeige sich die Lösung der Probleme von der besonderen Form der Fragestellung abhängig, die die vorangegangene Entwicklung herbeigeführt hatte; die begrifflichen Kategorien, in die Aristoteles die verwickelten Natnworgünge zu fassen und aus denen er sie zu verstehen sucht, seien aus den nächstliegenden Erfahrungen abstrahiert und genügten deu strengen Anforderungen kausaler Erklärung nicht; so hätte es nicht ausbleiben können, daß manche Bestandteile, die ftüheren Generationen als ein in sich selbst Wertvolles erschienen waren, jetzt nur noch ihren Wert durch die Anwendung behaupten, die sie innerhalb der Theologie gefunden haben. Deut¬ licher gesprochen sollte es heißen, daß die Scholastik nur noch durch künstliche Stützen und äußerliche Gewalt aufrecht erhalten werden könne, da die moderne Naturivissenschast ihr Fundament, die aristotelische Naturphilosophie, in Trümmer geschlagen habe. Und welche Konsequenzen zieht Hertling aus dieser Sachlage? „So könnte ich nur denke«," sagt er zur Beruhigung seines katholischen Gewissens, „daß eine heute noch keineswegs nahe Zukunft die Verbindung der Theologie mit der aristotelischen Philosophie lockerte und die nicht mehr verständlichen und noch weniger befriedigenden Begriffe durch andere ersetzte, welche ihrem vielfältig verbesserten Wissen entsprächen. . . . Aber die Versuche, welche im 17. Jahrhundert mit der Cartesianischen, im 19. Jahrhundert mit der Kantischen und Hegelschen Philosophie gemacht worden sind, mahnen zur Vorsicht. Ein Begriffssystem, welches das Aristotelische ersetzen sollte, müßte ebenso wie dieses ans der Fülle des Wissens und des Zeitbewußtseins hervor¬ gegangen, es müßte ebenso wie dieses zu dauernder Herrschaft über weite Kreise der denkenden Menschheit gelangt sein. Auch dann aber würde seine Verwendung lo der kirchlichen Theologie sich schwerlich ohne allerhand Irrungen und Wirrungen vollziehen. . . . Auch einem Thomas von Aquin blieben die An¬ feindungen eilest erspart. Er galt damals vielen als ein Neuerer, gegen deu die Verfechter des bewährten Alten ihre Angriffe zu richten hätten. So wird

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/321>, abgerufen am 24.07.2024.