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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Die preußische Verwaltuiigsgesetzgebung

über das Anwendungsgebiet einer Vorschrift oder über das Verhältnis neuer
Bestimmungen zu ältern, ausdrücklich zu ordnen, überlasse vielmehr die Ent¬
scheidung darüber der Praxis oder der Rechtsprechung. Dadurch würden diese
gezwungen, eine Arbeit, die der Gesetzgeber nur einmal zu tun brauche, fort¬
gesetzt zu wiederholen, und es werde die Gelegenheit versäumt, mit einem
Schlage einen festen Rechtszustand zu schaffen. Weitere Mängel sind nach ihm
unzweckmäßige Abgrenzung des Stoffs der einzelnen Gesetze, nicht genügende
logische Scheidung zwischen den grundlegenden eigentlichen Gesetzesbestimmungen
und den Ausführungsvorschriften und schließlich die zweckwidrige Form vieler
Gesetze.

Seine Ausstellungen sind durchaus zutreffend, aber nicht erschöpfend. Es
fehlt vor allem das größte Übel, unter dem die ganze Verwaltung schwer
gelitten hat und noch leidet, nämlich ein bedauerlicher Mangel an kräftigem
schöpferischen Vorgehn auf diesem Gebiet. Infolgedessen herrschen hier überall
eine Rückständigkeit und Unsicherheit, die zu den übelsten Erscheinungen führen
müssen. Über die wichtigsten Grundlagen der Verwaltungstätigkeit fehlt es
unter diesen Umständen oft ein bestimmten, sichern Vorschriften. Es ist dies
ein auch von dein Oberpräsidenten von Ernsthausen und dein Regierungs¬
präsidenten von Diest in ihren Lebenserinnerungen berührtes besonders trauriges
Kapitel der preußischen Verwaltungsgeschichte, des ich im ganzen Umfang hier
nicht erzählen kann, da es kaum ein Gebiet der innern Verwaltung gibt, das
hier nicht berührt werden müßte. Aber einiges muß ich doch anführen.

Während die Verhältnisse der Städte des Ostens der Monarchie durch die
Städteordnungen von 1808 und 1831 einigermaßen befriedigend geregelt worden
waren, gelang ähnliches für die Landgemeinden dieser Landesteile erst durch die
Landgemeindeordnung vou 1891. Bis dahin wurde die Verfassung dieser
Gemeinden in der Hauptsache durch Ortsobservauzen bestimmt, die in Streit¬
fällen in der Regel nur durch umfassende, weitläufige Ermittlungen, Zeugen¬
vernehmungen und dergleichen festgestellt werden konnten. Ein Ministerialerlaß von
1839 hatte gradezu die liebevolle Pflege dieser Observcmzen dringend und
warm empfohlen und auch die sogenannte Landgemeindeordnung vou 1856
verwies zunächst auf sie. So war denn in zahlreichen Landgemeinden des Ostens
vor 1891 oft die wichtigste Grundlage der Gemeindetätigkeit bis in die neuere Zeit
hinein zweifelhaft, etwa das Stimmrecht oder die Verteilung der Gemeindelasten
oder dergleichen, und damit zahlreichen Streitigkeiten Tür und Tor geöffnet, sowie
den Behörden eine umfangreiche, unerquickliche Arbeit bereitet.

Und dann unser Wegerecht! Geheimer Rat Freund aus dem Ministerium
des Junern und Regierungspräsident Freiherr von Scherr sprechen hier
von einem erschreckenden Zustand der Zerrissenheit. Sie hätten besser von einer
traurigen Rückständigkeit sprechen können. Gelten doch z. B. in der Rheinprovinz
jetzt noch neunzehn verschiedene Wegerechtssysteme, die weit, zum Teil bis in
das sechzehnte Jahrhundert, zurückgehen, also auf vollständig verschwundenen


Die preußische Verwaltuiigsgesetzgebung

über das Anwendungsgebiet einer Vorschrift oder über das Verhältnis neuer
Bestimmungen zu ältern, ausdrücklich zu ordnen, überlasse vielmehr die Ent¬
scheidung darüber der Praxis oder der Rechtsprechung. Dadurch würden diese
gezwungen, eine Arbeit, die der Gesetzgeber nur einmal zu tun brauche, fort¬
gesetzt zu wiederholen, und es werde die Gelegenheit versäumt, mit einem
Schlage einen festen Rechtszustand zu schaffen. Weitere Mängel sind nach ihm
unzweckmäßige Abgrenzung des Stoffs der einzelnen Gesetze, nicht genügende
logische Scheidung zwischen den grundlegenden eigentlichen Gesetzesbestimmungen
und den Ausführungsvorschriften und schließlich die zweckwidrige Form vieler
Gesetze.

Seine Ausstellungen sind durchaus zutreffend, aber nicht erschöpfend. Es
fehlt vor allem das größte Übel, unter dem die ganze Verwaltung schwer
gelitten hat und noch leidet, nämlich ein bedauerlicher Mangel an kräftigem
schöpferischen Vorgehn auf diesem Gebiet. Infolgedessen herrschen hier überall
eine Rückständigkeit und Unsicherheit, die zu den übelsten Erscheinungen führen
müssen. Über die wichtigsten Grundlagen der Verwaltungstätigkeit fehlt es
unter diesen Umständen oft ein bestimmten, sichern Vorschriften. Es ist dies
ein auch von dein Oberpräsidenten von Ernsthausen und dein Regierungs¬
präsidenten von Diest in ihren Lebenserinnerungen berührtes besonders trauriges
Kapitel der preußischen Verwaltungsgeschichte, des ich im ganzen Umfang hier
nicht erzählen kann, da es kaum ein Gebiet der innern Verwaltung gibt, das
hier nicht berührt werden müßte. Aber einiges muß ich doch anführen.

Während die Verhältnisse der Städte des Ostens der Monarchie durch die
Städteordnungen von 1808 und 1831 einigermaßen befriedigend geregelt worden
waren, gelang ähnliches für die Landgemeinden dieser Landesteile erst durch die
Landgemeindeordnung vou 1891. Bis dahin wurde die Verfassung dieser
Gemeinden in der Hauptsache durch Ortsobservauzen bestimmt, die in Streit¬
fällen in der Regel nur durch umfassende, weitläufige Ermittlungen, Zeugen¬
vernehmungen und dergleichen festgestellt werden konnten. Ein Ministerialerlaß von
1839 hatte gradezu die liebevolle Pflege dieser Observcmzen dringend und
warm empfohlen und auch die sogenannte Landgemeindeordnung vou 1856
verwies zunächst auf sie. So war denn in zahlreichen Landgemeinden des Ostens
vor 1891 oft die wichtigste Grundlage der Gemeindetätigkeit bis in die neuere Zeit
hinein zweifelhaft, etwa das Stimmrecht oder die Verteilung der Gemeindelasten
oder dergleichen, und damit zahlreichen Streitigkeiten Tür und Tor geöffnet, sowie
den Behörden eine umfangreiche, unerquickliche Arbeit bereitet.

Und dann unser Wegerecht! Geheimer Rat Freund aus dem Ministerium
des Junern und Regierungspräsident Freiherr von Scherr sprechen hier
von einem erschreckenden Zustand der Zerrissenheit. Sie hätten besser von einer
traurigen Rückständigkeit sprechen können. Gelten doch z. B. in der Rheinprovinz
jetzt noch neunzehn verschiedene Wegerechtssysteme, die weit, zum Teil bis in
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[0312] Die preußische Verwaltuiigsgesetzgebung über das Anwendungsgebiet einer Vorschrift oder über das Verhältnis neuer Bestimmungen zu ältern, ausdrücklich zu ordnen, überlasse vielmehr die Ent¬ scheidung darüber der Praxis oder der Rechtsprechung. Dadurch würden diese gezwungen, eine Arbeit, die der Gesetzgeber nur einmal zu tun brauche, fort¬ gesetzt zu wiederholen, und es werde die Gelegenheit versäumt, mit einem Schlage einen festen Rechtszustand zu schaffen. Weitere Mängel sind nach ihm unzweckmäßige Abgrenzung des Stoffs der einzelnen Gesetze, nicht genügende logische Scheidung zwischen den grundlegenden eigentlichen Gesetzesbestimmungen und den Ausführungsvorschriften und schließlich die zweckwidrige Form vieler Gesetze. Seine Ausstellungen sind durchaus zutreffend, aber nicht erschöpfend. Es fehlt vor allem das größte Übel, unter dem die ganze Verwaltung schwer gelitten hat und noch leidet, nämlich ein bedauerlicher Mangel an kräftigem schöpferischen Vorgehn auf diesem Gebiet. Infolgedessen herrschen hier überall eine Rückständigkeit und Unsicherheit, die zu den übelsten Erscheinungen führen müssen. Über die wichtigsten Grundlagen der Verwaltungstätigkeit fehlt es unter diesen Umständen oft ein bestimmten, sichern Vorschriften. Es ist dies ein auch von dein Oberpräsidenten von Ernsthausen und dein Regierungs¬ präsidenten von Diest in ihren Lebenserinnerungen berührtes besonders trauriges Kapitel der preußischen Verwaltungsgeschichte, des ich im ganzen Umfang hier nicht erzählen kann, da es kaum ein Gebiet der innern Verwaltung gibt, das hier nicht berührt werden müßte. Aber einiges muß ich doch anführen. Während die Verhältnisse der Städte des Ostens der Monarchie durch die Städteordnungen von 1808 und 1831 einigermaßen befriedigend geregelt worden waren, gelang ähnliches für die Landgemeinden dieser Landesteile erst durch die Landgemeindeordnung vou 1891. Bis dahin wurde die Verfassung dieser Gemeinden in der Hauptsache durch Ortsobservauzen bestimmt, die in Streit¬ fällen in der Regel nur durch umfassende, weitläufige Ermittlungen, Zeugen¬ vernehmungen und dergleichen festgestellt werden konnten. Ein Ministerialerlaß von 1839 hatte gradezu die liebevolle Pflege dieser Observcmzen dringend und warm empfohlen und auch die sogenannte Landgemeindeordnung vou 1856 verwies zunächst auf sie. So war denn in zahlreichen Landgemeinden des Ostens vor 1891 oft die wichtigste Grundlage der Gemeindetätigkeit bis in die neuere Zeit hinein zweifelhaft, etwa das Stimmrecht oder die Verteilung der Gemeindelasten oder dergleichen, und damit zahlreichen Streitigkeiten Tür und Tor geöffnet, sowie den Behörden eine umfangreiche, unerquickliche Arbeit bereitet. Und dann unser Wegerecht! Geheimer Rat Freund aus dem Ministerium des Junern und Regierungspräsident Freiherr von Scherr sprechen hier von einem erschreckenden Zustand der Zerrissenheit. Sie hätten besser von einer traurigen Rückständigkeit sprechen können. Gelten doch z. B. in der Rheinprovinz jetzt noch neunzehn verschiedene Wegerechtssysteme, die weit, zum Teil bis in das sechzehnte Jahrhundert, zurückgehen, also auf vollständig verschwundenen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/312>, abgerufen am 24.07.2024.