Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.walt whitman amerikanischer Prägung, so möchte man seine Kunst kennzeichnen. "Ich hörte," Die Tugend der Masse, die Tugend, die der Massenbegriff fördert, ist die Das einzige Versbuch, das uns Walt Whitman geschenkt hat, "Leaves of walt whitman amerikanischer Prägung, so möchte man seine Kunst kennzeichnen. „Ich hörte," Die Tugend der Masse, die Tugend, die der Massenbegriff fördert, ist die Das einzige Versbuch, das uns Walt Whitman geschenkt hat, „Leaves of <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0310" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/315307"/> <fw type="header" place="top"> walt whitman</fw><lb/> <p xml:id="ID_1237" prev="#ID_1236"> amerikanischer Prägung, so möchte man seine Kunst kennzeichnen. „Ich hörte,"<lb/> so singt Whitman. „ihr verlangtet nach einem Zeichner, um dieses Rätsel, die<lb/> neue Welt, zu erklären; Amerika, seine athletische Demokratie. Darum sende<lb/> ich euch meine Gedichte, daß ihr in ihnen erkennt, was ihr sucht."</p><lb/> <p xml:id="ID_1238"> Die Tugend der Masse, die Tugend, die der Massenbegriff fördert, ist die<lb/> Liebe. „Liebet euch untereinander" — das ist das Fazit der Forderungen, die<lb/> Whitman an seine Zeitgenossen stellt. „Die Institution kameradschaftlicher Liebe"<lb/> will seine Dichtung errichten. Die Liebe ist die notwendige Frucht des<lb/> Gemeinschaftsgefühls, das die Whitmansche Weltbetrachtung dem Menschen an<lb/> die Hand gibt. Whitmans Leben war eine gewaltige Betätigung der Liebes¬<lb/> forderung, die sein Glauben an ihn stellte. Aus den Samariterdiensten, die er<lb/> im Kriege leistete, ist ihm hohe Seligkeit geflossen. Sein Herz quillt über vor<lb/> Liebe. Jeden Fremdling umfaßt sie, der auf der Straße an ihn? vorüberstreift.<lb/> Ein „Geschlecht von Kameraden und Liebenden" hcranzuzüchten, das ist sein<lb/> kühnster und höchster Gedanke. Und er weiß sich eins mit dem, der vor um<lb/> bald zweitausend Jahren am Kreuze hing. „Meine Seele zu deiner Seele, mein<lb/> Bruder", so redet er ihn an. Und er tröstet seinen erhabenen Vorgänger:</p><lb/> <lg xml:id="POEMID_14" type="poem"> <l/> </lg><lb/> <p xml:id="ID_1239"> Das einzige Versbuch, das uns Walt Whitman geschenkt hat, „Leaves of<lb/> Graß", liegt heute unter dem Titel „Grashalme" in einer größeren Anzahl<lb/> von Übersetzungen vor. Ich habe hier nach der bei Engen Diederichs erschienenen<lb/> Übersetzung Wilhelm Schölermanns zitiert. Sie ist durchaus nicht vollkommen,<lb/> aber sprachlich im allgemeinen doch geschickt und geschmackvoll. Der in zwei<lb/> Fällen unternommene Versuch einer Übertragung in gereimte Verse ist als<lb/> verunglückt zu bezeichnen. Bedauerlich ist auch, daß der Gesang „Von mir<lb/> selbst" von Schölermann erheblich gekürzt wurde und daß eine ganze Reihe der<lb/> köstlichsten Lieder Withmans („Gesang von der freien Straße", „Die Fahrt<lb/> nach Indien". „Das Klage- und Sehnsuchtslied des Vogels", „Aus der Wiege<lb/> ewig schaukelnd") in der Ausgabe fehlen. Immerhin würde ich dem, der<lb/> Whitman noch nicht kennt, durchaus empfehlen, sich zunächst der Vermittlung<lb/> Schölermanns zu bedienen.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0310]
walt whitman
amerikanischer Prägung, so möchte man seine Kunst kennzeichnen. „Ich hörte,"
so singt Whitman. „ihr verlangtet nach einem Zeichner, um dieses Rätsel, die
neue Welt, zu erklären; Amerika, seine athletische Demokratie. Darum sende
ich euch meine Gedichte, daß ihr in ihnen erkennt, was ihr sucht."
Die Tugend der Masse, die Tugend, die der Massenbegriff fördert, ist die
Liebe. „Liebet euch untereinander" — das ist das Fazit der Forderungen, die
Whitman an seine Zeitgenossen stellt. „Die Institution kameradschaftlicher Liebe"
will seine Dichtung errichten. Die Liebe ist die notwendige Frucht des
Gemeinschaftsgefühls, das die Whitmansche Weltbetrachtung dem Menschen an
die Hand gibt. Whitmans Leben war eine gewaltige Betätigung der Liebes¬
forderung, die sein Glauben an ihn stellte. Aus den Samariterdiensten, die er
im Kriege leistete, ist ihm hohe Seligkeit geflossen. Sein Herz quillt über vor
Liebe. Jeden Fremdling umfaßt sie, der auf der Straße an ihn? vorüberstreift.
Ein „Geschlecht von Kameraden und Liebenden" hcranzuzüchten, das ist sein
kühnster und höchster Gedanke. Und er weiß sich eins mit dem, der vor um
bald zweitausend Jahren am Kreuze hing. „Meine Seele zu deiner Seele, mein
Bruder", so redet er ihn an. Und er tröstet seinen erhabenen Vorgänger:
Das einzige Versbuch, das uns Walt Whitman geschenkt hat, „Leaves of
Graß", liegt heute unter dem Titel „Grashalme" in einer größeren Anzahl
von Übersetzungen vor. Ich habe hier nach der bei Engen Diederichs erschienenen
Übersetzung Wilhelm Schölermanns zitiert. Sie ist durchaus nicht vollkommen,
aber sprachlich im allgemeinen doch geschickt und geschmackvoll. Der in zwei
Fällen unternommene Versuch einer Übertragung in gereimte Verse ist als
verunglückt zu bezeichnen. Bedauerlich ist auch, daß der Gesang „Von mir
selbst" von Schölermann erheblich gekürzt wurde und daß eine ganze Reihe der
köstlichsten Lieder Withmans („Gesang von der freien Straße", „Die Fahrt
nach Indien". „Das Klage- und Sehnsuchtslied des Vogels", „Aus der Wiege
ewig schaukelnd") in der Ausgabe fehlen. Immerhin würde ich dem, der
Whitman noch nicht kennt, durchaus empfehlen, sich zunächst der Vermittlung
Schölermanns zu bedienen.
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |