Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.walt whitmcm menschlichen, des tierischen Körpers ist, um Whitmans schönes Wort zu gebrauchen, Whitman ist nicht prüde. Der Vorwurf der Schamlosigkeit, der Sinnlichkeit Alles im Weltall hat auf die Seele Bezug, ist die Seele. Das Glück des Das Böse gilt Whitman als zufällige Entstellung. "Niemand schließ' ich Nun wird man verstehen', daß Whitmans Gesang ebensogut als indivi¬ Grenzboten I 191" 38
walt whitmcm menschlichen, des tierischen Körpers ist, um Whitmans schönes Wort zu gebrauchen, Whitman ist nicht prüde. Der Vorwurf der Schamlosigkeit, der Sinnlichkeit Alles im Weltall hat auf die Seele Bezug, ist die Seele. Das Glück des Das Böse gilt Whitman als zufällige Entstellung. „Niemand schließ' ich Nun wird man verstehen', daß Whitmans Gesang ebensogut als indivi¬ Grenzboten I 191« 38
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0309" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/315306"/> <fw type="header" place="top"> walt whitmcm</fw><lb/> <p xml:id="ID_1232" prev="#ID_1231"> menschlichen, des tierischen Körpers ist, um Whitmans schönes Wort zu gebrauchen,<lb/> als „ein Brief Gottes" zu betrachten.</p><lb/> <p xml:id="ID_1233"> Whitman ist nicht prüde. Der Vorwurf der Schamlosigkeit, der Sinnlichkeit<lb/> und Lüsternheit ist ihm oft gemacht worden. Er hat ihn, wenn er ihm auch<lb/> zuweilen übel mitspielte, mit Gleichmut getragen. Der Kenner Whitmans weiß,<lb/> wie läppisch und töricht solch ein Vorwurf ist. Whitmans Sinnenfreudigkeit ist<lb/> nichts anderes als Ehrfurcht vor dem Höchsten, dem Heiligsten, dem Göttlichen.<lb/> Er zählt einmal alle körperlichen Reize, deren er sich erinnern kann, auf.<lb/> „Gedichte" nenut er sie, „Gedichte des Mannes, des Weibes, des Kindes, der<lb/> Ehegattin, des Ehegatten, der Mutter, des Vaters, des Jünglings, des<lb/> Mädchens". Und er schließt: „O, ich sage euch, sie sind nicht allein Teile und<lb/> Gedichte des Leibes, sondern der Seele; o, jetzt sage ich, diese sind die Seele!"</p><lb/> <p xml:id="ID_1234"> Alles im Weltall hat auf die Seele Bezug, ist die Seele. Das Glück des<lb/> Einzeldinges, des Einzelwesens liegt darin, diesen Bezug zu der Seele, zur<lb/> Allseele, zum Ganzen zu spüren und sich seiner bewußt zu werden. Unselig ist<lb/> nur, wer allein steht oder sich allein wähnt. Whitman bekennt, er brauche<lb/> sich nur zu rühren, etwas zu drücken, mit den Fingern etwas anzufassen, und<lb/> er ist glücklich. Mit seinem Leibe den eines andern zu berühren, ist schon „so<lb/> viel wie er ertragen kann". Das ist die selige Kunst, sich einzufühlen in die<lb/> Natur, in das All; sich als Glied dieses Ganzen und damit sich auch als Ganzes<lb/> zu fühlen. Ein Kosmos, so nennt sich Walt Whitman, der Stolze. Und auch<lb/> jeder von uns sollte und müßte diesen Stolz zu eigen haben. Ein Kosmos ist<lb/> Whitman, der alles in sich begreift, alles in sich schließt, was je geschehen, was<lb/> je gelebt und erdacht ward. Zum Verbrecher, zur Dirne redet er mit süßen<lb/> Worten: „Bist du nicht Geist von meinem Geist? Bist du nicht ein Kind der¬<lb/> selben Natur, zu der ich Mutter sage? Fehltet ihr gegen diese Natur, nun so<lb/> fehltet ihr gegen euer eigenes Wesen, aber eure Natur, die Natur, konntet ihr<lb/> damit nicht schänden."</p><lb/> <p xml:id="ID_1235"> Das Böse gilt Whitman als zufällige Entstellung. „Niemand schließ' ich<lb/> aus — rot, weiß, schwarz, alle sind göttlich —, in jeden: Haus ist der Keim,<lb/> er kommt nach tausend Jahren ans Licht." Sokrates erklärte die Existenz des<lb/> Bösen aus der menschlichen Unwissenheit. Whitman ist darin sein Schüler.</p><lb/> <p xml:id="ID_1236" next="#ID_1237"> Nun wird man verstehen', daß Whitmans Gesang ebensogut als indivi¬<lb/> dualistisch wie als demokratisch gelten kann. Der Versuch, sich auf sein Tiefstes<lb/> zu besinnen, ist Whitman dahin ausgeschlagen, daß er die Größe, Gemeinsamkeit,<lb/> Einheit alles Seienden scharf und klar erkannte. Die Bedeutung des Wortes<lb/> Masse steigt vor seinen: Empfinden auf. Und hier kommt nun der Amerikaner<lb/> in Whitman stark zum Durchbruch. „Unbestreitbar amerikanisch" hat Emerson<lb/> Whitmans Werk genannt. Und er hat recht. Die merkwürdige Form, die das<lb/> demokratische Prinzip drüben in der neuen Welt angenommen hat, hat in<lb/> Whitman ihren Sänger und jubelnden Verkünder gefunden. Weltdtchtung in</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I 191« 38</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0309]
walt whitmcm
menschlichen, des tierischen Körpers ist, um Whitmans schönes Wort zu gebrauchen,
als „ein Brief Gottes" zu betrachten.
Whitman ist nicht prüde. Der Vorwurf der Schamlosigkeit, der Sinnlichkeit
und Lüsternheit ist ihm oft gemacht worden. Er hat ihn, wenn er ihm auch
zuweilen übel mitspielte, mit Gleichmut getragen. Der Kenner Whitmans weiß,
wie läppisch und töricht solch ein Vorwurf ist. Whitmans Sinnenfreudigkeit ist
nichts anderes als Ehrfurcht vor dem Höchsten, dem Heiligsten, dem Göttlichen.
Er zählt einmal alle körperlichen Reize, deren er sich erinnern kann, auf.
„Gedichte" nenut er sie, „Gedichte des Mannes, des Weibes, des Kindes, der
Ehegattin, des Ehegatten, der Mutter, des Vaters, des Jünglings, des
Mädchens". Und er schließt: „O, ich sage euch, sie sind nicht allein Teile und
Gedichte des Leibes, sondern der Seele; o, jetzt sage ich, diese sind die Seele!"
Alles im Weltall hat auf die Seele Bezug, ist die Seele. Das Glück des
Einzeldinges, des Einzelwesens liegt darin, diesen Bezug zu der Seele, zur
Allseele, zum Ganzen zu spüren und sich seiner bewußt zu werden. Unselig ist
nur, wer allein steht oder sich allein wähnt. Whitman bekennt, er brauche
sich nur zu rühren, etwas zu drücken, mit den Fingern etwas anzufassen, und
er ist glücklich. Mit seinem Leibe den eines andern zu berühren, ist schon „so
viel wie er ertragen kann". Das ist die selige Kunst, sich einzufühlen in die
Natur, in das All; sich als Glied dieses Ganzen und damit sich auch als Ganzes
zu fühlen. Ein Kosmos, so nennt sich Walt Whitman, der Stolze. Und auch
jeder von uns sollte und müßte diesen Stolz zu eigen haben. Ein Kosmos ist
Whitman, der alles in sich begreift, alles in sich schließt, was je geschehen, was
je gelebt und erdacht ward. Zum Verbrecher, zur Dirne redet er mit süßen
Worten: „Bist du nicht Geist von meinem Geist? Bist du nicht ein Kind der¬
selben Natur, zu der ich Mutter sage? Fehltet ihr gegen diese Natur, nun so
fehltet ihr gegen euer eigenes Wesen, aber eure Natur, die Natur, konntet ihr
damit nicht schänden."
Das Böse gilt Whitman als zufällige Entstellung. „Niemand schließ' ich
aus — rot, weiß, schwarz, alle sind göttlich —, in jeden: Haus ist der Keim,
er kommt nach tausend Jahren ans Licht." Sokrates erklärte die Existenz des
Bösen aus der menschlichen Unwissenheit. Whitman ist darin sein Schüler.
Nun wird man verstehen', daß Whitmans Gesang ebensogut als indivi¬
dualistisch wie als demokratisch gelten kann. Der Versuch, sich auf sein Tiefstes
zu besinnen, ist Whitman dahin ausgeschlagen, daß er die Größe, Gemeinsamkeit,
Einheit alles Seienden scharf und klar erkannte. Die Bedeutung des Wortes
Masse steigt vor seinen: Empfinden auf. Und hier kommt nun der Amerikaner
in Whitman stark zum Durchbruch. „Unbestreitbar amerikanisch" hat Emerson
Whitmans Werk genannt. Und er hat recht. Die merkwürdige Form, die das
demokratische Prinzip drüben in der neuen Welt angenommen hat, hat in
Whitman ihren Sänger und jubelnden Verkünder gefunden. Weltdtchtung in
Grenzboten I 191« 38
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