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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Tschang Thesis - einig

Übrigens ist es bei den hier in Schanghai wohnenden Westländern nicht anders.
Man kann jede Wette darauf eingehn, daß es unter den jüngern von ihnen
nur sehr wenige gibt, die mehr hohe Mandarinen mit Namen anzugeben wissen,
als sich bequem an den Fingern einer Hand abzählen lassen. Das ist ein
weiterer Beweis dafür, wie fern wir innerlich dem Chinesentum stehen, dem
wir äußerlich so nahe sind. Für die eigentümliche Art der Regierung im Lande
der Mitte ist es aber sehr bezeichnend, daß die paar den Westländern bekannten
Großwürdenträger sich ihren Namen ohne Ausnahme nicht in der Reichshauptstadt,
sondern in den Provinzen gemacht haben. Sobald sie nach Peking berufen
wurden, verloren sie eher an Einfluß, als das; sie daran gewannen. So ist es
mit Li Hung-tschang wie mit Tschang Thesis-tung gegangen, und in etwas
geringerem Grade auch mit Juan Sebib-kai. zu dessen Sturz gerade der
Umstand, daß er in der Reichshauptstadt mehr bedeuten wollte als seine dortigen
Kollegen, nicht wenig beigetragen haben mag. Ähnliche Erfahrungen werden
wohl Tuan Fang kaum erspart werden, falls er über kurz oder lang nach
Peking berufen werden sollte. Im Unterschiede von Europa ist das ein entschieden
asiatischer Zug. Starke Charaktere dürfen sich in der Nähe des Herrschers
hierzulande nicht über ihre Umgebung emporzuheben wagen, während man sie
in den Provinzen gewähren läßt. Schon vor ein paar tausend Jahren ist es
ebenso gewesen, denn die Namen Tissaphernes und Pharnabazus kennt jeder
Tertianer, wogegen kein bei uns gangbares Lied und kein Heldenbuch von
denen berichtet, die zu derselben Zeit Minister am Hofe des Großkönigs in
Susa waren.

Bei Tschnng Thesis-tung verwickelt sich die für einen Europäer schou an
und für sich kaum lösbare Aufgabe, die Charakteristik eines Chinesen entwerfen
zu sollen, bis ins vollständig Hoffnungslose, weil er der ausgesprochene Vertreter
einer Übergangsperiode ist. Ausgerüstet mit der ganzen schwerfälligen Gelehrsamkeit
seines Heimatlandes, wollte er diese einerseits auch in der neuen Zeit nach
Möglichkeit für die jüngere Generation beizubehalten suchen, hatte aber anderseits
Einsicht genug, den westländischen Ideen freien Eintritt zu gewähren. Die
Widersprüche, die für unsere Auffassung in jedem Chinesen stecken, steigern sich
dadurch ins Unentwirrbare, vor allem, was Tschangs Stellung zu den Fremden
anlangt. Anfänglich war er den Ausländern und besonders den Missionaren
durchaus feindlich gesinnt. Z. B. rührte er zu Anfang der neunziger Jahre
keinen Finger, als in einer der beiden von ihm regierten Provinzen am
Uangtzekiang zwei schwedische Missionare in brutaler Weise umgebracht worden
waren. Nicht lange daraus wurde zu allgemeiner Überraschung plötzlich aus
den: Saulus ein Paulus. Obgleich nun dieser Wandel lediglich sein Verhalten
zu den Ausländern als solchen betraf und mit der Religion nichts zu tun
hatte, denn Tschang ist zeitlebens überzeugter Konfuzianer geblieben, so waren
trotzdem die Missionare seitdem sehr gut auf ihn zu sprechen. Das hat u. a.
der bekannte l)r. Griffitte John in Harlan in der von ihm verfaßten Vorrede


Tschang Thesis - einig

Übrigens ist es bei den hier in Schanghai wohnenden Westländern nicht anders.
Man kann jede Wette darauf eingehn, daß es unter den jüngern von ihnen
nur sehr wenige gibt, die mehr hohe Mandarinen mit Namen anzugeben wissen,
als sich bequem an den Fingern einer Hand abzählen lassen. Das ist ein
weiterer Beweis dafür, wie fern wir innerlich dem Chinesentum stehen, dem
wir äußerlich so nahe sind. Für die eigentümliche Art der Regierung im Lande
der Mitte ist es aber sehr bezeichnend, daß die paar den Westländern bekannten
Großwürdenträger sich ihren Namen ohne Ausnahme nicht in der Reichshauptstadt,
sondern in den Provinzen gemacht haben. Sobald sie nach Peking berufen
wurden, verloren sie eher an Einfluß, als das; sie daran gewannen. So ist es
mit Li Hung-tschang wie mit Tschang Thesis-tung gegangen, und in etwas
geringerem Grade auch mit Juan Sebib-kai. zu dessen Sturz gerade der
Umstand, daß er in der Reichshauptstadt mehr bedeuten wollte als seine dortigen
Kollegen, nicht wenig beigetragen haben mag. Ähnliche Erfahrungen werden
wohl Tuan Fang kaum erspart werden, falls er über kurz oder lang nach
Peking berufen werden sollte. Im Unterschiede von Europa ist das ein entschieden
asiatischer Zug. Starke Charaktere dürfen sich in der Nähe des Herrschers
hierzulande nicht über ihre Umgebung emporzuheben wagen, während man sie
in den Provinzen gewähren läßt. Schon vor ein paar tausend Jahren ist es
ebenso gewesen, denn die Namen Tissaphernes und Pharnabazus kennt jeder
Tertianer, wogegen kein bei uns gangbares Lied und kein Heldenbuch von
denen berichtet, die zu derselben Zeit Minister am Hofe des Großkönigs in
Susa waren.

Bei Tschnng Thesis-tung verwickelt sich die für einen Europäer schou an
und für sich kaum lösbare Aufgabe, die Charakteristik eines Chinesen entwerfen
zu sollen, bis ins vollständig Hoffnungslose, weil er der ausgesprochene Vertreter
einer Übergangsperiode ist. Ausgerüstet mit der ganzen schwerfälligen Gelehrsamkeit
seines Heimatlandes, wollte er diese einerseits auch in der neuen Zeit nach
Möglichkeit für die jüngere Generation beizubehalten suchen, hatte aber anderseits
Einsicht genug, den westländischen Ideen freien Eintritt zu gewähren. Die
Widersprüche, die für unsere Auffassung in jedem Chinesen stecken, steigern sich
dadurch ins Unentwirrbare, vor allem, was Tschangs Stellung zu den Fremden
anlangt. Anfänglich war er den Ausländern und besonders den Missionaren
durchaus feindlich gesinnt. Z. B. rührte er zu Anfang der neunziger Jahre
keinen Finger, als in einer der beiden von ihm regierten Provinzen am
Uangtzekiang zwei schwedische Missionare in brutaler Weise umgebracht worden
waren. Nicht lange daraus wurde zu allgemeiner Überraschung plötzlich aus
den: Saulus ein Paulus. Obgleich nun dieser Wandel lediglich sein Verhalten
zu den Ausländern als solchen betraf und mit der Religion nichts zu tun
hatte, denn Tschang ist zeitlebens überzeugter Konfuzianer geblieben, so waren
trotzdem die Missionare seitdem sehr gut auf ihn zu sprechen. Das hat u. a.
der bekannte l)r. Griffitte John in Harlan in der von ihm verfaßten Vorrede


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[0302] Tschang Thesis - einig Übrigens ist es bei den hier in Schanghai wohnenden Westländern nicht anders. Man kann jede Wette darauf eingehn, daß es unter den jüngern von ihnen nur sehr wenige gibt, die mehr hohe Mandarinen mit Namen anzugeben wissen, als sich bequem an den Fingern einer Hand abzählen lassen. Das ist ein weiterer Beweis dafür, wie fern wir innerlich dem Chinesentum stehen, dem wir äußerlich so nahe sind. Für die eigentümliche Art der Regierung im Lande der Mitte ist es aber sehr bezeichnend, daß die paar den Westländern bekannten Großwürdenträger sich ihren Namen ohne Ausnahme nicht in der Reichshauptstadt, sondern in den Provinzen gemacht haben. Sobald sie nach Peking berufen wurden, verloren sie eher an Einfluß, als das; sie daran gewannen. So ist es mit Li Hung-tschang wie mit Tschang Thesis-tung gegangen, und in etwas geringerem Grade auch mit Juan Sebib-kai. zu dessen Sturz gerade der Umstand, daß er in der Reichshauptstadt mehr bedeuten wollte als seine dortigen Kollegen, nicht wenig beigetragen haben mag. Ähnliche Erfahrungen werden wohl Tuan Fang kaum erspart werden, falls er über kurz oder lang nach Peking berufen werden sollte. Im Unterschiede von Europa ist das ein entschieden asiatischer Zug. Starke Charaktere dürfen sich in der Nähe des Herrschers hierzulande nicht über ihre Umgebung emporzuheben wagen, während man sie in den Provinzen gewähren läßt. Schon vor ein paar tausend Jahren ist es ebenso gewesen, denn die Namen Tissaphernes und Pharnabazus kennt jeder Tertianer, wogegen kein bei uns gangbares Lied und kein Heldenbuch von denen berichtet, die zu derselben Zeit Minister am Hofe des Großkönigs in Susa waren. Bei Tschnng Thesis-tung verwickelt sich die für einen Europäer schou an und für sich kaum lösbare Aufgabe, die Charakteristik eines Chinesen entwerfen zu sollen, bis ins vollständig Hoffnungslose, weil er der ausgesprochene Vertreter einer Übergangsperiode ist. Ausgerüstet mit der ganzen schwerfälligen Gelehrsamkeit seines Heimatlandes, wollte er diese einerseits auch in der neuen Zeit nach Möglichkeit für die jüngere Generation beizubehalten suchen, hatte aber anderseits Einsicht genug, den westländischen Ideen freien Eintritt zu gewähren. Die Widersprüche, die für unsere Auffassung in jedem Chinesen stecken, steigern sich dadurch ins Unentwirrbare, vor allem, was Tschangs Stellung zu den Fremden anlangt. Anfänglich war er den Ausländern und besonders den Missionaren durchaus feindlich gesinnt. Z. B. rührte er zu Anfang der neunziger Jahre keinen Finger, als in einer der beiden von ihm regierten Provinzen am Uangtzekiang zwei schwedische Missionare in brutaler Weise umgebracht worden waren. Nicht lange daraus wurde zu allgemeiner Überraschung plötzlich aus den: Saulus ein Paulus. Obgleich nun dieser Wandel lediglich sein Verhalten zu den Ausländern als solchen betraf und mit der Religion nichts zu tun hatte, denn Tschang ist zeitlebens überzeugter Konfuzianer geblieben, so waren trotzdem die Missionare seitdem sehr gut auf ihn zu sprechen. Das hat u. a. der bekannte l)r. Griffitte John in Harlan in der von ihm verfaßten Vorrede

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/302>, abgerufen am 22.12.2024.