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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Wandlungen des Natnrerkcnnens

Wie der Naturforscher von heute, dem es wirklich ernst ist mit dem
Forschen, die überall in der Natur anzutreffende Zweckmäßigkeit natürlich zu
deuten bestrebt sein muß, ganz ebenso muß er sich auch der noch zurzeit
rätselhaften Urzeugung, der Oeneratio aequivoca oder 8pvnwnea gegenüber
verhalten. Daß Urzeugung, also elternloses Entstehen von Organisierten aus
Organischen oder Unorganischen, zu irgendeiner weit zurückgelegenen Zeit¬
periode der Erdkrustenbildung stattfand, kann der materialistisch überzeugte
Darwinianer heute ebensowenig beweisen, wie der teleologisch denkende Neovitalift
beweisen kann, daß dermalen auf ein außernatürliches Machtgebot hin Tier-
und Pflanzenkeime entstanden seien. Ein auf den: Boden der Kant-Laplaceschen
Kosmogonie stehender Naturforscher muß Urzeugung annehmen. Zu welcher Zeit
im Verlauf der Erdgeschichte diese stattgefunden hat und ob sie auch heute noch
möglich ist, vermag er freilich nicht zu sagen. Aber daß sie wirklich auf unserm
Planeten einmal vor sich ging, steht für ihn nicht minder fest wie dessen Kugelgestalt,
sobald er von vornherein davon überzeugt ist, daß die Möglichkeit eiuer Über¬
tragung von Lebenskeimen aus anderen Welten für ausgeschlossen gelten muß.

Wenn der durch seine im Jahre 1880 aufgestellten "sieben Welträtsel"
auch außerhalb der rein wissenschaftlichen Welt bekannt gewordene Physiolog"
Emil du Bois-Reymond, der keineswegs ein extremer Darwinianer war, gerade
die Probleme der Zweckmäßigkeit in der Natur und der Urzeugung für nicht
transzendent erklärte, also für Rätsel, deren Lösung aller Voraussicht uach einem
mehr vorangeschrittenen Naturerkeuueu noch einst gelingen dürfte, so erhellt
hieraus allem schon die überzeugende Macht, die Darwins Deszendenzlehre selbst
auf solche wissenschaftlichen Köpfe ausübte, die sich ihr gegenüber vorerst noch
sehr vorsichtig, wenn nicht gar abweisend verhielten. Ob die noch übrigen
fünf Welträtsel dn Bois-Reymonds, die er transzendent nennt, menschlichem
Naturerkennen wirklich für alle Zeit Trotz bieten werden, also für immer trans¬
zendent bleiben müssen, ist eine Frage, die wir ruhig heute schon mit "ja"
beantworten dürfen. Das Rätsel der Willensfreiheit, der beliebte Tummelplatz
für philosophische Spekulationsgelüste, worüber schon so manch stattlicher Band
in vermehrter und angeblich verbesserter Auflage geschrieben wurde, ist es heute
etwa gelöst? Und wenn der Naturforscher sich dazu entschließt, die zwei ersten
du Bois-Reymondschen Welträtsel, den Ursprung der Materie und ihrer
Bewegung, mit dem einzigen Rätsel "Gott" zu vertauschen, bleiben da nicht
noch immer die zwei letzten, gleich schwierigen Rätsel ungelöst? Wer wird
uns je sagen können, wie das Bewußtsein im menschlichen Gehirn zustande
kommt? Und wer wird uns je sagen können, welche Vorgänge, welche
Bewegungen, Verschiebungen, Zersetzungen in dein Wunderbau des typisch
menschlichen Organs Gehirn vor sich gehen, welche Molekularkräfte sich darin
tummeln, um das zustande zu bringen, was wir unter Vernunftbetätigung,
unter typisch menschlichem Denken verstehen?




Wandlungen des Natnrerkcnnens

Wie der Naturforscher von heute, dem es wirklich ernst ist mit dem
Forschen, die überall in der Natur anzutreffende Zweckmäßigkeit natürlich zu
deuten bestrebt sein muß, ganz ebenso muß er sich auch der noch zurzeit
rätselhaften Urzeugung, der Oeneratio aequivoca oder 8pvnwnea gegenüber
verhalten. Daß Urzeugung, also elternloses Entstehen von Organisierten aus
Organischen oder Unorganischen, zu irgendeiner weit zurückgelegenen Zeit¬
periode der Erdkrustenbildung stattfand, kann der materialistisch überzeugte
Darwinianer heute ebensowenig beweisen, wie der teleologisch denkende Neovitalift
beweisen kann, daß dermalen auf ein außernatürliches Machtgebot hin Tier-
und Pflanzenkeime entstanden seien. Ein auf den: Boden der Kant-Laplaceschen
Kosmogonie stehender Naturforscher muß Urzeugung annehmen. Zu welcher Zeit
im Verlauf der Erdgeschichte diese stattgefunden hat und ob sie auch heute noch
möglich ist, vermag er freilich nicht zu sagen. Aber daß sie wirklich auf unserm
Planeten einmal vor sich ging, steht für ihn nicht minder fest wie dessen Kugelgestalt,
sobald er von vornherein davon überzeugt ist, daß die Möglichkeit eiuer Über¬
tragung von Lebenskeimen aus anderen Welten für ausgeschlossen gelten muß.

Wenn der durch seine im Jahre 1880 aufgestellten „sieben Welträtsel"
auch außerhalb der rein wissenschaftlichen Welt bekannt gewordene Physiolog«
Emil du Bois-Reymond, der keineswegs ein extremer Darwinianer war, gerade
die Probleme der Zweckmäßigkeit in der Natur und der Urzeugung für nicht
transzendent erklärte, also für Rätsel, deren Lösung aller Voraussicht uach einem
mehr vorangeschrittenen Naturerkeuueu noch einst gelingen dürfte, so erhellt
hieraus allem schon die überzeugende Macht, die Darwins Deszendenzlehre selbst
auf solche wissenschaftlichen Köpfe ausübte, die sich ihr gegenüber vorerst noch
sehr vorsichtig, wenn nicht gar abweisend verhielten. Ob die noch übrigen
fünf Welträtsel dn Bois-Reymonds, die er transzendent nennt, menschlichem
Naturerkennen wirklich für alle Zeit Trotz bieten werden, also für immer trans¬
zendent bleiben müssen, ist eine Frage, die wir ruhig heute schon mit „ja"
beantworten dürfen. Das Rätsel der Willensfreiheit, der beliebte Tummelplatz
für philosophische Spekulationsgelüste, worüber schon so manch stattlicher Band
in vermehrter und angeblich verbesserter Auflage geschrieben wurde, ist es heute
etwa gelöst? Und wenn der Naturforscher sich dazu entschließt, die zwei ersten
du Bois-Reymondschen Welträtsel, den Ursprung der Materie und ihrer
Bewegung, mit dem einzigen Rätsel „Gott" zu vertauschen, bleiben da nicht
noch immer die zwei letzten, gleich schwierigen Rätsel ungelöst? Wer wird
uns je sagen können, wie das Bewußtsein im menschlichen Gehirn zustande
kommt? Und wer wird uns je sagen können, welche Vorgänge, welche
Bewegungen, Verschiebungen, Zersetzungen in dein Wunderbau des typisch
menschlichen Organs Gehirn vor sich gehen, welche Molekularkräfte sich darin
tummeln, um das zustande zu bringen, was wir unter Vernunftbetätigung,
unter typisch menschlichem Denken verstehen?




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[0284] Wandlungen des Natnrerkcnnens Wie der Naturforscher von heute, dem es wirklich ernst ist mit dem Forschen, die überall in der Natur anzutreffende Zweckmäßigkeit natürlich zu deuten bestrebt sein muß, ganz ebenso muß er sich auch der noch zurzeit rätselhaften Urzeugung, der Oeneratio aequivoca oder 8pvnwnea gegenüber verhalten. Daß Urzeugung, also elternloses Entstehen von Organisierten aus Organischen oder Unorganischen, zu irgendeiner weit zurückgelegenen Zeit¬ periode der Erdkrustenbildung stattfand, kann der materialistisch überzeugte Darwinianer heute ebensowenig beweisen, wie der teleologisch denkende Neovitalift beweisen kann, daß dermalen auf ein außernatürliches Machtgebot hin Tier- und Pflanzenkeime entstanden seien. Ein auf den: Boden der Kant-Laplaceschen Kosmogonie stehender Naturforscher muß Urzeugung annehmen. Zu welcher Zeit im Verlauf der Erdgeschichte diese stattgefunden hat und ob sie auch heute noch möglich ist, vermag er freilich nicht zu sagen. Aber daß sie wirklich auf unserm Planeten einmal vor sich ging, steht für ihn nicht minder fest wie dessen Kugelgestalt, sobald er von vornherein davon überzeugt ist, daß die Möglichkeit eiuer Über¬ tragung von Lebenskeimen aus anderen Welten für ausgeschlossen gelten muß. Wenn der durch seine im Jahre 1880 aufgestellten „sieben Welträtsel" auch außerhalb der rein wissenschaftlichen Welt bekannt gewordene Physiolog« Emil du Bois-Reymond, der keineswegs ein extremer Darwinianer war, gerade die Probleme der Zweckmäßigkeit in der Natur und der Urzeugung für nicht transzendent erklärte, also für Rätsel, deren Lösung aller Voraussicht uach einem mehr vorangeschrittenen Naturerkeuueu noch einst gelingen dürfte, so erhellt hieraus allem schon die überzeugende Macht, die Darwins Deszendenzlehre selbst auf solche wissenschaftlichen Köpfe ausübte, die sich ihr gegenüber vorerst noch sehr vorsichtig, wenn nicht gar abweisend verhielten. Ob die noch übrigen fünf Welträtsel dn Bois-Reymonds, die er transzendent nennt, menschlichem Naturerkennen wirklich für alle Zeit Trotz bieten werden, also für immer trans¬ zendent bleiben müssen, ist eine Frage, die wir ruhig heute schon mit „ja" beantworten dürfen. Das Rätsel der Willensfreiheit, der beliebte Tummelplatz für philosophische Spekulationsgelüste, worüber schon so manch stattlicher Band in vermehrter und angeblich verbesserter Auflage geschrieben wurde, ist es heute etwa gelöst? Und wenn der Naturforscher sich dazu entschließt, die zwei ersten du Bois-Reymondschen Welträtsel, den Ursprung der Materie und ihrer Bewegung, mit dem einzigen Rätsel „Gott" zu vertauschen, bleiben da nicht noch immer die zwei letzten, gleich schwierigen Rätsel ungelöst? Wer wird uns je sagen können, wie das Bewußtsein im menschlichen Gehirn zustande kommt? Und wer wird uns je sagen können, welche Vorgänge, welche Bewegungen, Verschiebungen, Zersetzungen in dein Wunderbau des typisch menschlichen Organs Gehirn vor sich gehen, welche Molekularkräfte sich darin tummeln, um das zustande zu bringen, was wir unter Vernunftbetätigung, unter typisch menschlichem Denken verstehen?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/284>, abgerufen am 04.07.2024.