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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Ivcmdluugen des Naturerüennens

Natur ihre tiefsten Geheimnisse abgelauscht zu haben. Zum ersten Male war
es der Wissenschaft gelungen, etwas, was bisher nur der lebendige Organismus
als ein typisches Produkt bildete und ausschied, außerhalb des lebendigen Körpers
aus lebloser Materie zu schaffen, und zwar durch das Zusammenwirken von nur
chemischen und physischen Kräften. Die synthetische Chemie hatte in der Tat
allen Grund, auf diese Errungenschaft stolz zu sein. Allein die Hoffnungen,
die man daran knüpfte, zeigten sich doch alsbald als verfrüht. Organisches aus
unorganischen Grundstoffen aufzubauen, ist auch späterhin den: Chemiker noch
manchmal geglückt. Aber Organisches ist noch himmelweit entfernt von
Belebtorganischem, von Organisierten. Und bis zur künstlichen Her-
stellung eines mikroskopisch kleinen Protozoenkeimes oder eines nur die zur
Nahrungsaufnahme erforderlichen Bewegungen machenden, einzelligen Plasma-
klnmpchens dürfte schon noch mancher Tropfen Wasser in das Meer fließen.

Je mehr die Biologie, die Wissenschaft, die sich mit den eigentlichen
Lebensvorgängen beschäftigt, in das typisch Eigenartige dieser eindringt, desto
mehr vergrößert sich die Kluft zwischen ihr und einem aus rein materialistische
Grundlage sich stützenden Darwinismus. Es gab eine Zeit, unmittelbar nach
dem Erscheinen von Darwins zweiter epochenmchender Schrift von der "Ab¬
stammung des Menschen", da wagte es kein Naturforscher mehr, das Wort
"Vitalismus" nur in den Mund zu nehmen, so sehr verpönt war es geworden.
Vitalismus und Hexen- oder Gespensterglauben galten damals so ziemlich für
gleichbedeutend. Heute, vier Jahrzehnte darnach, ist dies anders geworden.
Auch die dermalen sogar radiale Darwinisten waren, haben doch inzwischen
einsehen gelernt, daß die Annahme einer besonderen Lebenskraft schlechterdings
nicht zu umgehen ist, will man allem gerecht werden, was man nnter Lebens¬
erscheinungen zusammenzufassen pflegt. Die Scheu vor dem Wort "Vitalismus"
wirkt aber heute uoch befremdend nach. Der berühmte Phnsiologe Johannes
Müller war der Letzte, der sich offen und ehrlich zum Vitalismus bekannte.
Die Naturforscher, die auf ihn folgten, nennen sich zwar Neuvitalisten, aber
keiner will auf die typischen Lebensvorgünge das alte, zusammenfassende Wort
"Vitalismus" mehr anwenden. Und wenn sie sich auch noch so oft sagen
müssen, daß unter all den mehr oder minder gesuchten, umstündlich genug
zusammengetragenen Bezeichnungen von Nichtungs- und Bewegungskräften, von
Keim-, Form- und Bildungskräften, unter den Energien, Entelechien und
Dominanten, im rechten Licht betrachtet, doch nicht mehr und nicht weniger
verborgen schlummert, als was eben die mittelalterliche vis viwll8 auch aus¬
sagt: Ein rätselhaftes, nicht erkanntes, spezifisch wirkendes Etwas, das man
füglich auch kurzweg "Lebensträger" nennen könnte!

Die Funktionen selbst der einfachsten lebenden Zelle sind derartig ver¬
wickelt, daß sie eben rein mechanisch und nur als chemiko-physikalische Vorgänge
schlechterdings uicht erklärt werden können. In dieser winzigen Lebenswerkstätte,
wo die von den: zerfallenden Eiweißmolekül freigegebenen Kräfte und Potenzen


Ivcmdluugen des Naturerüennens

Natur ihre tiefsten Geheimnisse abgelauscht zu haben. Zum ersten Male war
es der Wissenschaft gelungen, etwas, was bisher nur der lebendige Organismus
als ein typisches Produkt bildete und ausschied, außerhalb des lebendigen Körpers
aus lebloser Materie zu schaffen, und zwar durch das Zusammenwirken von nur
chemischen und physischen Kräften. Die synthetische Chemie hatte in der Tat
allen Grund, auf diese Errungenschaft stolz zu sein. Allein die Hoffnungen,
die man daran knüpfte, zeigten sich doch alsbald als verfrüht. Organisches aus
unorganischen Grundstoffen aufzubauen, ist auch späterhin den: Chemiker noch
manchmal geglückt. Aber Organisches ist noch himmelweit entfernt von
Belebtorganischem, von Organisierten. Und bis zur künstlichen Her-
stellung eines mikroskopisch kleinen Protozoenkeimes oder eines nur die zur
Nahrungsaufnahme erforderlichen Bewegungen machenden, einzelligen Plasma-
klnmpchens dürfte schon noch mancher Tropfen Wasser in das Meer fließen.

Je mehr die Biologie, die Wissenschaft, die sich mit den eigentlichen
Lebensvorgängen beschäftigt, in das typisch Eigenartige dieser eindringt, desto
mehr vergrößert sich die Kluft zwischen ihr und einem aus rein materialistische
Grundlage sich stützenden Darwinismus. Es gab eine Zeit, unmittelbar nach
dem Erscheinen von Darwins zweiter epochenmchender Schrift von der „Ab¬
stammung des Menschen", da wagte es kein Naturforscher mehr, das Wort
„Vitalismus" nur in den Mund zu nehmen, so sehr verpönt war es geworden.
Vitalismus und Hexen- oder Gespensterglauben galten damals so ziemlich für
gleichbedeutend. Heute, vier Jahrzehnte darnach, ist dies anders geworden.
Auch die dermalen sogar radiale Darwinisten waren, haben doch inzwischen
einsehen gelernt, daß die Annahme einer besonderen Lebenskraft schlechterdings
nicht zu umgehen ist, will man allem gerecht werden, was man nnter Lebens¬
erscheinungen zusammenzufassen pflegt. Die Scheu vor dem Wort „Vitalismus"
wirkt aber heute uoch befremdend nach. Der berühmte Phnsiologe Johannes
Müller war der Letzte, der sich offen und ehrlich zum Vitalismus bekannte.
Die Naturforscher, die auf ihn folgten, nennen sich zwar Neuvitalisten, aber
keiner will auf die typischen Lebensvorgünge das alte, zusammenfassende Wort
„Vitalismus" mehr anwenden. Und wenn sie sich auch noch so oft sagen
müssen, daß unter all den mehr oder minder gesuchten, umstündlich genug
zusammengetragenen Bezeichnungen von Nichtungs- und Bewegungskräften, von
Keim-, Form- und Bildungskräften, unter den Energien, Entelechien und
Dominanten, im rechten Licht betrachtet, doch nicht mehr und nicht weniger
verborgen schlummert, als was eben die mittelalterliche vis viwll8 auch aus¬
sagt: Ein rätselhaftes, nicht erkanntes, spezifisch wirkendes Etwas, das man
füglich auch kurzweg „Lebensträger" nennen könnte!

Die Funktionen selbst der einfachsten lebenden Zelle sind derartig ver¬
wickelt, daß sie eben rein mechanisch und nur als chemiko-physikalische Vorgänge
schlechterdings uicht erklärt werden können. In dieser winzigen Lebenswerkstätte,
wo die von den: zerfallenden Eiweißmolekül freigegebenen Kräfte und Potenzen


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[0282] Ivcmdluugen des Naturerüennens Natur ihre tiefsten Geheimnisse abgelauscht zu haben. Zum ersten Male war es der Wissenschaft gelungen, etwas, was bisher nur der lebendige Organismus als ein typisches Produkt bildete und ausschied, außerhalb des lebendigen Körpers aus lebloser Materie zu schaffen, und zwar durch das Zusammenwirken von nur chemischen und physischen Kräften. Die synthetische Chemie hatte in der Tat allen Grund, auf diese Errungenschaft stolz zu sein. Allein die Hoffnungen, die man daran knüpfte, zeigten sich doch alsbald als verfrüht. Organisches aus unorganischen Grundstoffen aufzubauen, ist auch späterhin den: Chemiker noch manchmal geglückt. Aber Organisches ist noch himmelweit entfernt von Belebtorganischem, von Organisierten. Und bis zur künstlichen Her- stellung eines mikroskopisch kleinen Protozoenkeimes oder eines nur die zur Nahrungsaufnahme erforderlichen Bewegungen machenden, einzelligen Plasma- klnmpchens dürfte schon noch mancher Tropfen Wasser in das Meer fließen. Je mehr die Biologie, die Wissenschaft, die sich mit den eigentlichen Lebensvorgängen beschäftigt, in das typisch Eigenartige dieser eindringt, desto mehr vergrößert sich die Kluft zwischen ihr und einem aus rein materialistische Grundlage sich stützenden Darwinismus. Es gab eine Zeit, unmittelbar nach dem Erscheinen von Darwins zweiter epochenmchender Schrift von der „Ab¬ stammung des Menschen", da wagte es kein Naturforscher mehr, das Wort „Vitalismus" nur in den Mund zu nehmen, so sehr verpönt war es geworden. Vitalismus und Hexen- oder Gespensterglauben galten damals so ziemlich für gleichbedeutend. Heute, vier Jahrzehnte darnach, ist dies anders geworden. Auch die dermalen sogar radiale Darwinisten waren, haben doch inzwischen einsehen gelernt, daß die Annahme einer besonderen Lebenskraft schlechterdings nicht zu umgehen ist, will man allem gerecht werden, was man nnter Lebens¬ erscheinungen zusammenzufassen pflegt. Die Scheu vor dem Wort „Vitalismus" wirkt aber heute uoch befremdend nach. Der berühmte Phnsiologe Johannes Müller war der Letzte, der sich offen und ehrlich zum Vitalismus bekannte. Die Naturforscher, die auf ihn folgten, nennen sich zwar Neuvitalisten, aber keiner will auf die typischen Lebensvorgünge das alte, zusammenfassende Wort „Vitalismus" mehr anwenden. Und wenn sie sich auch noch so oft sagen müssen, daß unter all den mehr oder minder gesuchten, umstündlich genug zusammengetragenen Bezeichnungen von Nichtungs- und Bewegungskräften, von Keim-, Form- und Bildungskräften, unter den Energien, Entelechien und Dominanten, im rechten Licht betrachtet, doch nicht mehr und nicht weniger verborgen schlummert, als was eben die mittelalterliche vis viwll8 auch aus¬ sagt: Ein rätselhaftes, nicht erkanntes, spezifisch wirkendes Etwas, das man füglich auch kurzweg „Lebensträger" nennen könnte! Die Funktionen selbst der einfachsten lebenden Zelle sind derartig ver¬ wickelt, daß sie eben rein mechanisch und nur als chemiko-physikalische Vorgänge schlechterdings uicht erklärt werden können. In dieser winzigen Lebenswerkstätte, wo die von den: zerfallenden Eiweißmolekül freigegebenen Kräfte und Potenzen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/282>, abgerufen am 24.07.2024.