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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Zvandlungcn des Naturcrkcnncus

Cuviers Autorität war damit von Grund aus erschüttert. Geoffroy de
Samt Hilaire ging aus dem langjährigen Streit mit dem berühmteren Kollegen
nun doch als Sieger hervor. Die Acad6mie des sciences ehrte ihn dadurch,
daß sie sich nachträglich unumwunden zu seiner wissenschaftlichen Anschauung
bekannte. Der alte Goethe, der Entdecker des Zwischenkiefers beim Menschen,
erlebte noch kurz vor seinem Tode die Freude, deu sür die moderne Entwicklungs¬
geschichte grundlegenden Streit zugunsten Samt Hilaires entschieden zu sehen.
Als der bescheidene und nur allzu schüchtern auftretende Charles Darwin endlich,
im Jahre 1859, auf dringendes Zureden von Wallace hin mit seinem epoche¬
machenden Erstlingswerk über "Die Entstehung der Arten" sich an die Öffentlichkeit
wagte, hatte die alte Lamarcksche Entwicklungstheorie eigentlich schon auf allen
Gebieten des Naturwissens festen Fuß gefaßt. Dieser Umstand trug zweifellos
nicht wenig dazu bei, daß das Darwinsche Zuchtwahlsprinzip sofort in der
wissenschaftlichen Welt einschlug, daß es sich die Herzen der zeitgenössigen Natur¬
forscher im Sturm eroberte.

Der Würfel war gefallen. Mit der Wandelbarkeit der seither als unerschütterlich
feststehend angesehenen Gattungen und Arten hatte das starre, traditionelle
Schöpfungsdogma so ganz unversehens einen gewaltigen Riß bekommen. Mit
wie ganz anderen Augen betrachtete der Forscher von nun an die Vorgänge
ringsum in der lebendigen Natur! Da gab es nirgendwo mehr einen Still¬
stand. Nichts in der ganzen Lebewelt entzog sich fortan dem einmal erkannten,
unaufhaltsam wirkende,? Gesetz ewig fortschreitender Neubildung und Höher-
differenzierung. Und wo, wegen der Kürze der wirksamen Zeit, der zielbewußt
verbreitende Tier- und Pflanzenzüchter nur lückenhafte Erfolge erzielte, da griff
der Paläontologe mit seinen in den verschieden alten Erostraten gemachten Funden
ergänzend ein und lieferte den greifbaren Nachweis, daß es in weit zurück-
gelegenen Epochen der Erdkrustenbildung auch an solchen Übergangsformen nicht
fehlt, die selbst Stammestypcn der Tierwelt miteinander verbinden, so daß das
ganze, gewaltige Organismenrcich unserer Erde heute als ein aus den denkbar
niedrigsten Anfängen gewordenes vor unserm erstaunten Auge sich auftut. Jede
Altersstufe der Erdkruste beherbergt in ihrem Schoße eingebettet die ihr eigene
Flora und Fauna. Und je höher wir aufsteigen in der Schichtenfolge, je mehr
wir uns den jüngeren und jüngsten Ablagerungen nähern, desto vollkommener
erweist sich der Ban und die Organausrüstnng der darin auf die Gegenwart
überkommenen Tier- und Pflanzenformen.

Und der Mensch? So frug man damals schon, bald nach dem Erscheinen
von Darwins Erstlingswerk, nicht ohne Herzklopfen im Lager der exakten
Wissenschaftler, nicht ohne Spott und Hohn, nicht ohne gelindes Schaudern
oder zweifelnde Resignation innerhalb der wißbegierigen Laienwelt. Und der
Mensch -- das Ebenbild Gottes? Er sollte auf dieselbe Weise entstanden sein,
den gleichen entwicklungsgeschichtlichen Weg zurückgelegt haben wie jeder Wurm,
jeder Fisch, jede Schlange, jeder Affe? Auch er, der Mensch, sollte aus diesen?


Zvandlungcn des Naturcrkcnncus

Cuviers Autorität war damit von Grund aus erschüttert. Geoffroy de
Samt Hilaire ging aus dem langjährigen Streit mit dem berühmteren Kollegen
nun doch als Sieger hervor. Die Acad6mie des sciences ehrte ihn dadurch,
daß sie sich nachträglich unumwunden zu seiner wissenschaftlichen Anschauung
bekannte. Der alte Goethe, der Entdecker des Zwischenkiefers beim Menschen,
erlebte noch kurz vor seinem Tode die Freude, deu sür die moderne Entwicklungs¬
geschichte grundlegenden Streit zugunsten Samt Hilaires entschieden zu sehen.
Als der bescheidene und nur allzu schüchtern auftretende Charles Darwin endlich,
im Jahre 1859, auf dringendes Zureden von Wallace hin mit seinem epoche¬
machenden Erstlingswerk über „Die Entstehung der Arten" sich an die Öffentlichkeit
wagte, hatte die alte Lamarcksche Entwicklungstheorie eigentlich schon auf allen
Gebieten des Naturwissens festen Fuß gefaßt. Dieser Umstand trug zweifellos
nicht wenig dazu bei, daß das Darwinsche Zuchtwahlsprinzip sofort in der
wissenschaftlichen Welt einschlug, daß es sich die Herzen der zeitgenössigen Natur¬
forscher im Sturm eroberte.

Der Würfel war gefallen. Mit der Wandelbarkeit der seither als unerschütterlich
feststehend angesehenen Gattungen und Arten hatte das starre, traditionelle
Schöpfungsdogma so ganz unversehens einen gewaltigen Riß bekommen. Mit
wie ganz anderen Augen betrachtete der Forscher von nun an die Vorgänge
ringsum in der lebendigen Natur! Da gab es nirgendwo mehr einen Still¬
stand. Nichts in der ganzen Lebewelt entzog sich fortan dem einmal erkannten,
unaufhaltsam wirkende,? Gesetz ewig fortschreitender Neubildung und Höher-
differenzierung. Und wo, wegen der Kürze der wirksamen Zeit, der zielbewußt
verbreitende Tier- und Pflanzenzüchter nur lückenhafte Erfolge erzielte, da griff
der Paläontologe mit seinen in den verschieden alten Erostraten gemachten Funden
ergänzend ein und lieferte den greifbaren Nachweis, daß es in weit zurück-
gelegenen Epochen der Erdkrustenbildung auch an solchen Übergangsformen nicht
fehlt, die selbst Stammestypcn der Tierwelt miteinander verbinden, so daß das
ganze, gewaltige Organismenrcich unserer Erde heute als ein aus den denkbar
niedrigsten Anfängen gewordenes vor unserm erstaunten Auge sich auftut. Jede
Altersstufe der Erdkruste beherbergt in ihrem Schoße eingebettet die ihr eigene
Flora und Fauna. Und je höher wir aufsteigen in der Schichtenfolge, je mehr
wir uns den jüngeren und jüngsten Ablagerungen nähern, desto vollkommener
erweist sich der Ban und die Organausrüstnng der darin auf die Gegenwart
überkommenen Tier- und Pflanzenformen.

Und der Mensch? So frug man damals schon, bald nach dem Erscheinen
von Darwins Erstlingswerk, nicht ohne Herzklopfen im Lager der exakten
Wissenschaftler, nicht ohne Spott und Hohn, nicht ohne gelindes Schaudern
oder zweifelnde Resignation innerhalb der wißbegierigen Laienwelt. Und der
Mensch — das Ebenbild Gottes? Er sollte auf dieselbe Weise entstanden sein,
den gleichen entwicklungsgeschichtlichen Weg zurückgelegt haben wie jeder Wurm,
jeder Fisch, jede Schlange, jeder Affe? Auch er, der Mensch, sollte aus diesen?


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[0278] Zvandlungcn des Naturcrkcnncus Cuviers Autorität war damit von Grund aus erschüttert. Geoffroy de Samt Hilaire ging aus dem langjährigen Streit mit dem berühmteren Kollegen nun doch als Sieger hervor. Die Acad6mie des sciences ehrte ihn dadurch, daß sie sich nachträglich unumwunden zu seiner wissenschaftlichen Anschauung bekannte. Der alte Goethe, der Entdecker des Zwischenkiefers beim Menschen, erlebte noch kurz vor seinem Tode die Freude, deu sür die moderne Entwicklungs¬ geschichte grundlegenden Streit zugunsten Samt Hilaires entschieden zu sehen. Als der bescheidene und nur allzu schüchtern auftretende Charles Darwin endlich, im Jahre 1859, auf dringendes Zureden von Wallace hin mit seinem epoche¬ machenden Erstlingswerk über „Die Entstehung der Arten" sich an die Öffentlichkeit wagte, hatte die alte Lamarcksche Entwicklungstheorie eigentlich schon auf allen Gebieten des Naturwissens festen Fuß gefaßt. Dieser Umstand trug zweifellos nicht wenig dazu bei, daß das Darwinsche Zuchtwahlsprinzip sofort in der wissenschaftlichen Welt einschlug, daß es sich die Herzen der zeitgenössigen Natur¬ forscher im Sturm eroberte. Der Würfel war gefallen. Mit der Wandelbarkeit der seither als unerschütterlich feststehend angesehenen Gattungen und Arten hatte das starre, traditionelle Schöpfungsdogma so ganz unversehens einen gewaltigen Riß bekommen. Mit wie ganz anderen Augen betrachtete der Forscher von nun an die Vorgänge ringsum in der lebendigen Natur! Da gab es nirgendwo mehr einen Still¬ stand. Nichts in der ganzen Lebewelt entzog sich fortan dem einmal erkannten, unaufhaltsam wirkende,? Gesetz ewig fortschreitender Neubildung und Höher- differenzierung. Und wo, wegen der Kürze der wirksamen Zeit, der zielbewußt verbreitende Tier- und Pflanzenzüchter nur lückenhafte Erfolge erzielte, da griff der Paläontologe mit seinen in den verschieden alten Erostraten gemachten Funden ergänzend ein und lieferte den greifbaren Nachweis, daß es in weit zurück- gelegenen Epochen der Erdkrustenbildung auch an solchen Übergangsformen nicht fehlt, die selbst Stammestypcn der Tierwelt miteinander verbinden, so daß das ganze, gewaltige Organismenrcich unserer Erde heute als ein aus den denkbar niedrigsten Anfängen gewordenes vor unserm erstaunten Auge sich auftut. Jede Altersstufe der Erdkruste beherbergt in ihrem Schoße eingebettet die ihr eigene Flora und Fauna. Und je höher wir aufsteigen in der Schichtenfolge, je mehr wir uns den jüngeren und jüngsten Ablagerungen nähern, desto vollkommener erweist sich der Ban und die Organausrüstnng der darin auf die Gegenwart überkommenen Tier- und Pflanzenformen. Und der Mensch? So frug man damals schon, bald nach dem Erscheinen von Darwins Erstlingswerk, nicht ohne Herzklopfen im Lager der exakten Wissenschaftler, nicht ohne Spott und Hohn, nicht ohne gelindes Schaudern oder zweifelnde Resignation innerhalb der wißbegierigen Laienwelt. Und der Mensch — das Ebenbild Gottes? Er sollte auf dieselbe Weise entstanden sein, den gleichen entwicklungsgeschichtlichen Weg zurückgelegt haben wie jeder Wurm, jeder Fisch, jede Schlange, jeder Affe? Auch er, der Mensch, sollte aus diesen?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/278>, abgerufen am 04.07.2024.