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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Wandlungen des Naturcrkenncns

auf der Akademie zu Paris prüfte mau sie uach, hieß sie gut oder verwarf sie.
Hier erst erhielt jede naturwissenschaftliche Errungenschaft ihre höhere Weihe, hier
erst wurde ihr der Stempel der Echtheit aufgedrückt, daß sie sich ohne Scheu
vor aller Welt sehen lassen durfte. Und die Acadsmie des sciences zu Paris
genoß zu keiner Zeit ein größeres Ansehen als in den ersten Jahrzehnten des
neunzehnten Jahrhunderts, da Cuvier -- damals der bedeutendste vergleichende
Anatom -- zu ihren Mitgliedern gehörte.

Hier an der Akademie zu Paris war es auch, wo dermalen der wissen¬
schaftliche Streit zwischen Cuvier und Geoffroy de Samt Hilaire entbrannte und
ausgefochten wurde, ein Streit, der fast ein halbes Menschenalter lang die ganze
Kulturwelt in Bewegung hielt, ein Streit, an dem auch Goethe bis an sein
Lebensende den regsten Anteil nahm. Cuvier vertrat noch immer die damals
allgemein herrschende Katastrophentheorie. Die Paläontologie lag noch im
argen. Man betrachtete alle noch lebendenden Tierstämme, die Klassen,
Ordnungen, Gattungen und Arten als genetisch scharf getrennte Produkte einer
jeweils besonderen Schöpsungsphase. Man zweifelte an einem inneren Zusammen¬
hang. Von verbindenden Gliedern, von sogenannten Zwischenstufen wußte man
nichts, oder verschloß sich absichtlich deren Kenutuisncchme. Die gesamte
Pflanzen- und Tierwelt vorausgegangener Epochen glaubte man allemal durch
eine besondere Erdkatastrophe restlos vernichtet. Die in den Gesteinsschichten, in
den Ablagerungen ehemaliger Meeresboden eingebettet liegenden Fossilien lief; man
entweder ganz unbeachtet, oder man mißdeutete sie in ihren: Werten für die Bestimmung
eines inneren genetischen Zusammenhangs mit noch lebenden Organismen.

So hielt man die in den Erdstraten des Tertiärs oder Diluviums vielfach
aufgefundenen Riesenknochen großer Säugetiere für Überbleibsel von solchen
Wesen, an denen der Schöpfer sein Schaffenskönnen noch erst probiert habe, die
ihm also bei der Erschaffung mißlungen oder mißraten wären. Geoffroy de
Samt Hilaire dagegen bekannte sich zu der Ansicht des namentlich von Cuvier
und seiner Schule totgeschwiegenen Lamarck, der im ganzen Tier- oder Pflanzen¬
reich nur eine einzige im inneren Aufbau zusammenhängende Stufenleiter nach
immer größerer Vervollkommnung strebender, immer höher differenzierter
Organismen sah. Die scharf zu unterscheidenden Arten betrachtete er nicht als
unverrückt feststehende Typen einer jeweils von Grund aus geschehenen Neu¬
schöpfung, vielmehr galten sie ihm als schwankende Formen, deren Organe sich
den auf der Erdoberfläche gerade herrschenden Lebensbedingungen anzupassen
verstanden. Die so allmählich als zweckmäßig erworbenen Einrichtungen und
Funktionen des Körpers gingen dann durch Vererbung auf ungezählt viele nach¬
folgende Generationen über, bis sie ihre typische Vollendung erreicht hatten.
Lamarck nahm also schon ein halbes Jahrhundert vor Darwin den Standpunkt
der Deszendenzlehre ein. Neu hinzu brachte der englische Naturforscher uur die
Wandlungsfähigkeit der Einzelindividuen einer feststehend gewordenen Art und
die züchtende Naturauslese im Kampf ums Dasein. Samt Hilaire zählte auch


Wandlungen des Naturcrkenncns

auf der Akademie zu Paris prüfte mau sie uach, hieß sie gut oder verwarf sie.
Hier erst erhielt jede naturwissenschaftliche Errungenschaft ihre höhere Weihe, hier
erst wurde ihr der Stempel der Echtheit aufgedrückt, daß sie sich ohne Scheu
vor aller Welt sehen lassen durfte. Und die Acadsmie des sciences zu Paris
genoß zu keiner Zeit ein größeres Ansehen als in den ersten Jahrzehnten des
neunzehnten Jahrhunderts, da Cuvier — damals der bedeutendste vergleichende
Anatom — zu ihren Mitgliedern gehörte.

Hier an der Akademie zu Paris war es auch, wo dermalen der wissen¬
schaftliche Streit zwischen Cuvier und Geoffroy de Samt Hilaire entbrannte und
ausgefochten wurde, ein Streit, der fast ein halbes Menschenalter lang die ganze
Kulturwelt in Bewegung hielt, ein Streit, an dem auch Goethe bis an sein
Lebensende den regsten Anteil nahm. Cuvier vertrat noch immer die damals
allgemein herrschende Katastrophentheorie. Die Paläontologie lag noch im
argen. Man betrachtete alle noch lebendenden Tierstämme, die Klassen,
Ordnungen, Gattungen und Arten als genetisch scharf getrennte Produkte einer
jeweils besonderen Schöpsungsphase. Man zweifelte an einem inneren Zusammen¬
hang. Von verbindenden Gliedern, von sogenannten Zwischenstufen wußte man
nichts, oder verschloß sich absichtlich deren Kenutuisncchme. Die gesamte
Pflanzen- und Tierwelt vorausgegangener Epochen glaubte man allemal durch
eine besondere Erdkatastrophe restlos vernichtet. Die in den Gesteinsschichten, in
den Ablagerungen ehemaliger Meeresboden eingebettet liegenden Fossilien lief; man
entweder ganz unbeachtet, oder man mißdeutete sie in ihren: Werten für die Bestimmung
eines inneren genetischen Zusammenhangs mit noch lebenden Organismen.

So hielt man die in den Erdstraten des Tertiärs oder Diluviums vielfach
aufgefundenen Riesenknochen großer Säugetiere für Überbleibsel von solchen
Wesen, an denen der Schöpfer sein Schaffenskönnen noch erst probiert habe, die
ihm also bei der Erschaffung mißlungen oder mißraten wären. Geoffroy de
Samt Hilaire dagegen bekannte sich zu der Ansicht des namentlich von Cuvier
und seiner Schule totgeschwiegenen Lamarck, der im ganzen Tier- oder Pflanzen¬
reich nur eine einzige im inneren Aufbau zusammenhängende Stufenleiter nach
immer größerer Vervollkommnung strebender, immer höher differenzierter
Organismen sah. Die scharf zu unterscheidenden Arten betrachtete er nicht als
unverrückt feststehende Typen einer jeweils von Grund aus geschehenen Neu¬
schöpfung, vielmehr galten sie ihm als schwankende Formen, deren Organe sich
den auf der Erdoberfläche gerade herrschenden Lebensbedingungen anzupassen
verstanden. Die so allmählich als zweckmäßig erworbenen Einrichtungen und
Funktionen des Körpers gingen dann durch Vererbung auf ungezählt viele nach¬
folgende Generationen über, bis sie ihre typische Vollendung erreicht hatten.
Lamarck nahm also schon ein halbes Jahrhundert vor Darwin den Standpunkt
der Deszendenzlehre ein. Neu hinzu brachte der englische Naturforscher uur die
Wandlungsfähigkeit der Einzelindividuen einer feststehend gewordenen Art und
die züchtende Naturauslese im Kampf ums Dasein. Samt Hilaire zählte auch


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[0276] Wandlungen des Naturcrkenncns auf der Akademie zu Paris prüfte mau sie uach, hieß sie gut oder verwarf sie. Hier erst erhielt jede naturwissenschaftliche Errungenschaft ihre höhere Weihe, hier erst wurde ihr der Stempel der Echtheit aufgedrückt, daß sie sich ohne Scheu vor aller Welt sehen lassen durfte. Und die Acadsmie des sciences zu Paris genoß zu keiner Zeit ein größeres Ansehen als in den ersten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts, da Cuvier — damals der bedeutendste vergleichende Anatom — zu ihren Mitgliedern gehörte. Hier an der Akademie zu Paris war es auch, wo dermalen der wissen¬ schaftliche Streit zwischen Cuvier und Geoffroy de Samt Hilaire entbrannte und ausgefochten wurde, ein Streit, der fast ein halbes Menschenalter lang die ganze Kulturwelt in Bewegung hielt, ein Streit, an dem auch Goethe bis an sein Lebensende den regsten Anteil nahm. Cuvier vertrat noch immer die damals allgemein herrschende Katastrophentheorie. Die Paläontologie lag noch im argen. Man betrachtete alle noch lebendenden Tierstämme, die Klassen, Ordnungen, Gattungen und Arten als genetisch scharf getrennte Produkte einer jeweils besonderen Schöpsungsphase. Man zweifelte an einem inneren Zusammen¬ hang. Von verbindenden Gliedern, von sogenannten Zwischenstufen wußte man nichts, oder verschloß sich absichtlich deren Kenutuisncchme. Die gesamte Pflanzen- und Tierwelt vorausgegangener Epochen glaubte man allemal durch eine besondere Erdkatastrophe restlos vernichtet. Die in den Gesteinsschichten, in den Ablagerungen ehemaliger Meeresboden eingebettet liegenden Fossilien lief; man entweder ganz unbeachtet, oder man mißdeutete sie in ihren: Werten für die Bestimmung eines inneren genetischen Zusammenhangs mit noch lebenden Organismen. So hielt man die in den Erdstraten des Tertiärs oder Diluviums vielfach aufgefundenen Riesenknochen großer Säugetiere für Überbleibsel von solchen Wesen, an denen der Schöpfer sein Schaffenskönnen noch erst probiert habe, die ihm also bei der Erschaffung mißlungen oder mißraten wären. Geoffroy de Samt Hilaire dagegen bekannte sich zu der Ansicht des namentlich von Cuvier und seiner Schule totgeschwiegenen Lamarck, der im ganzen Tier- oder Pflanzen¬ reich nur eine einzige im inneren Aufbau zusammenhängende Stufenleiter nach immer größerer Vervollkommnung strebender, immer höher differenzierter Organismen sah. Die scharf zu unterscheidenden Arten betrachtete er nicht als unverrückt feststehende Typen einer jeweils von Grund aus geschehenen Neu¬ schöpfung, vielmehr galten sie ihm als schwankende Formen, deren Organe sich den auf der Erdoberfläche gerade herrschenden Lebensbedingungen anzupassen verstanden. Die so allmählich als zweckmäßig erworbenen Einrichtungen und Funktionen des Körpers gingen dann durch Vererbung auf ungezählt viele nach¬ folgende Generationen über, bis sie ihre typische Vollendung erreicht hatten. Lamarck nahm also schon ein halbes Jahrhundert vor Darwin den Standpunkt der Deszendenzlehre ein. Neu hinzu brachte der englische Naturforscher uur die Wandlungsfähigkeit der Einzelindividuen einer feststehend gewordenen Art und die züchtende Naturauslese im Kampf ums Dasein. Samt Hilaire zählte auch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/276>, abgerufen am 24.07.2024.