Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Parität

in Braunsberg nach Berlin kam, hatte er der Parlamentsdialektik von
A. Reichensperger zu verdanken.

Wie soll nun die Parität gewahrt werden -- mechanisch oder organisch? Um
eine Lösung zu finden, muß man etwas tiefer graben.

Ihrem Wesen nach ist die katholische Religion trotz der rechtlich-weltlichen
Außenseite mehr als jede andere Religion aufs Jenseits gerichtet. Das Ideal
des Heiligen paßt wenig zu dem des modernen Beamten, Gelehrten, Technikers,
Industriellen. Im Luthertum tritt der Diesseitsgedanke etwas mehr hervor,
noch mehr im Calvinismus und erst recht im Judentum. So ungefähr ist auch
bei uns die Skala im Wohlstande. In den größeren Städten sand die
protestantische Bewegung schnell und nachhaltig Eingang, in keiner, etwa Münster
und Aachen ausgenommen, vermag sich katholischer Einfluß geltend zu machen.
Durch Mischehen hat sich in den Städten die Zahl der katholischen Kaufleute
und Industriellen stark verringert. Wie schon angedeutet, ging der wissenschaft¬
liche Fortschritt seit dem achtzehnten Jahrhundert von Protestanten aus. Aber
in ihren Händen lag auch der wissenschaftliche Kleinbetrieb. Ihr Schulwesen,
nicht so stark in den Banden der Tradition, entwickelte sich mehr zeitgemäß und
wurde von den Unbilden der Zeit weniger berührt. Anstalten wie Schulpforta
und die sächsischen Fürstenschulen finden sich nicht in den katholischen Landes¬
teilen. Daher erklärt sich auch das Überwiegen protestantischer Privatdozenten
und Bibliothekare. Die Beamtentätigkeit ist bei vielen protestantischen Familien
durch Generationen üblich. Allein in der katholischen ländlichen und klein¬
bürgerlichen Bevölkerung gilt nur der priesterliche Beruf in seiner Verzweigung
in Weltseelsorge, Mönchstum und Heidenmission als Ideal; für andere Studierende
fehlt es meist an Unterstützung.

Zu den angegebenen Gründen der Minderheit katholischer gelehrter Personen
kommt noch das Zölibat der Priester. Wie viele ausgezeichnete Männer sind
aus den Häusern protestantischer Pastoren hervorgegangen. Die Wahrnehmung
dieser Tatsache auch bei seinen Landsleuten machte den Tschechenführer L. Rieger,
einen eifrigen Katholiken, zum Anwalt der Zölibatsaufhebung. Viel würde
damit aber nicht erreicht werden, wie ein Blick auf den griechisch-orientalischen
Klerus Rußlands, Ungarns und der Balkanstaaten zeigt.

Schon zahlenmäßig werden die deutschen Protestanten -- nicht als religiöse
Macht gedacht -- den Katholiken in den gelehrten Berufen immer überlegen
fein. Dazu kommt, daß es nicht an sich, aber tatsächlich schwer ist, den Beruf
des Gelehrten, des Beamten mit dem des gläubigen Katholiken zu vereinen.
Man blicke doch auf Frankreich, Italien, Österreich, wo protestantische Konkurrenz
oder offizielle Begünstigung der Protestanten gewiß nicht in Betracht kamen.
Als Leo Thun im Jahre 1849 -- nachdem das alte Österreich trotz aller Zensur
und sonstigen Absperrungsmaßregeln, trotz Jesuiten, zahlreichen Ordens- und
Weltgeistlichen jämmerlich Bankerott machte -- an die Reform des mittleren
und höheren Unterrichts ging, mußte er die Kräfte aus dein Auslande berufen.


Parität

in Braunsberg nach Berlin kam, hatte er der Parlamentsdialektik von
A. Reichensperger zu verdanken.

Wie soll nun die Parität gewahrt werden — mechanisch oder organisch? Um
eine Lösung zu finden, muß man etwas tiefer graben.

Ihrem Wesen nach ist die katholische Religion trotz der rechtlich-weltlichen
Außenseite mehr als jede andere Religion aufs Jenseits gerichtet. Das Ideal
des Heiligen paßt wenig zu dem des modernen Beamten, Gelehrten, Technikers,
Industriellen. Im Luthertum tritt der Diesseitsgedanke etwas mehr hervor,
noch mehr im Calvinismus und erst recht im Judentum. So ungefähr ist auch
bei uns die Skala im Wohlstande. In den größeren Städten sand die
protestantische Bewegung schnell und nachhaltig Eingang, in keiner, etwa Münster
und Aachen ausgenommen, vermag sich katholischer Einfluß geltend zu machen.
Durch Mischehen hat sich in den Städten die Zahl der katholischen Kaufleute
und Industriellen stark verringert. Wie schon angedeutet, ging der wissenschaft¬
liche Fortschritt seit dem achtzehnten Jahrhundert von Protestanten aus. Aber
in ihren Händen lag auch der wissenschaftliche Kleinbetrieb. Ihr Schulwesen,
nicht so stark in den Banden der Tradition, entwickelte sich mehr zeitgemäß und
wurde von den Unbilden der Zeit weniger berührt. Anstalten wie Schulpforta
und die sächsischen Fürstenschulen finden sich nicht in den katholischen Landes¬
teilen. Daher erklärt sich auch das Überwiegen protestantischer Privatdozenten
und Bibliothekare. Die Beamtentätigkeit ist bei vielen protestantischen Familien
durch Generationen üblich. Allein in der katholischen ländlichen und klein¬
bürgerlichen Bevölkerung gilt nur der priesterliche Beruf in seiner Verzweigung
in Weltseelsorge, Mönchstum und Heidenmission als Ideal; für andere Studierende
fehlt es meist an Unterstützung.

Zu den angegebenen Gründen der Minderheit katholischer gelehrter Personen
kommt noch das Zölibat der Priester. Wie viele ausgezeichnete Männer sind
aus den Häusern protestantischer Pastoren hervorgegangen. Die Wahrnehmung
dieser Tatsache auch bei seinen Landsleuten machte den Tschechenführer L. Rieger,
einen eifrigen Katholiken, zum Anwalt der Zölibatsaufhebung. Viel würde
damit aber nicht erreicht werden, wie ein Blick auf den griechisch-orientalischen
Klerus Rußlands, Ungarns und der Balkanstaaten zeigt.

Schon zahlenmäßig werden die deutschen Protestanten — nicht als religiöse
Macht gedacht — den Katholiken in den gelehrten Berufen immer überlegen
fein. Dazu kommt, daß es nicht an sich, aber tatsächlich schwer ist, den Beruf
des Gelehrten, des Beamten mit dem des gläubigen Katholiken zu vereinen.
Man blicke doch auf Frankreich, Italien, Österreich, wo protestantische Konkurrenz
oder offizielle Begünstigung der Protestanten gewiß nicht in Betracht kamen.
Als Leo Thun im Jahre 1849 — nachdem das alte Österreich trotz aller Zensur
und sonstigen Absperrungsmaßregeln, trotz Jesuiten, zahlreichen Ordens- und
Weltgeistlichen jämmerlich Bankerott machte — an die Reform des mittleren
und höheren Unterrichts ging, mußte er die Kräfte aus dein Auslande berufen.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0256" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/315253"/>
          <fw type="header" place="top"> Parität</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_990" prev="#ID_989"> in Braunsberg nach Berlin kam, hatte er der Parlamentsdialektik von<lb/>
A. Reichensperger zu verdanken.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_991"> Wie soll nun die Parität gewahrt werden &#x2014; mechanisch oder organisch? Um<lb/>
eine Lösung zu finden, muß man etwas tiefer graben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_992"> Ihrem Wesen nach ist die katholische Religion trotz der rechtlich-weltlichen<lb/>
Außenseite mehr als jede andere Religion aufs Jenseits gerichtet. Das Ideal<lb/>
des Heiligen paßt wenig zu dem des modernen Beamten, Gelehrten, Technikers,<lb/>
Industriellen. Im Luthertum tritt der Diesseitsgedanke etwas mehr hervor,<lb/>
noch mehr im Calvinismus und erst recht im Judentum. So ungefähr ist auch<lb/>
bei uns die Skala im Wohlstande. In den größeren Städten sand die<lb/>
protestantische Bewegung schnell und nachhaltig Eingang, in keiner, etwa Münster<lb/>
und Aachen ausgenommen, vermag sich katholischer Einfluß geltend zu machen.<lb/>
Durch Mischehen hat sich in den Städten die Zahl der katholischen Kaufleute<lb/>
und Industriellen stark verringert. Wie schon angedeutet, ging der wissenschaft¬<lb/>
liche Fortschritt seit dem achtzehnten Jahrhundert von Protestanten aus. Aber<lb/>
in ihren Händen lag auch der wissenschaftliche Kleinbetrieb. Ihr Schulwesen,<lb/>
nicht so stark in den Banden der Tradition, entwickelte sich mehr zeitgemäß und<lb/>
wurde von den Unbilden der Zeit weniger berührt. Anstalten wie Schulpforta<lb/>
und die sächsischen Fürstenschulen finden sich nicht in den katholischen Landes¬<lb/>
teilen. Daher erklärt sich auch das Überwiegen protestantischer Privatdozenten<lb/>
und Bibliothekare. Die Beamtentätigkeit ist bei vielen protestantischen Familien<lb/>
durch Generationen üblich. Allein in der katholischen ländlichen und klein¬<lb/>
bürgerlichen Bevölkerung gilt nur der priesterliche Beruf in seiner Verzweigung<lb/>
in Weltseelsorge, Mönchstum und Heidenmission als Ideal; für andere Studierende<lb/>
fehlt es meist an Unterstützung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_993"> Zu den angegebenen Gründen der Minderheit katholischer gelehrter Personen<lb/>
kommt noch das Zölibat der Priester. Wie viele ausgezeichnete Männer sind<lb/>
aus den Häusern protestantischer Pastoren hervorgegangen. Die Wahrnehmung<lb/>
dieser Tatsache auch bei seinen Landsleuten machte den Tschechenführer L. Rieger,<lb/>
einen eifrigen Katholiken, zum Anwalt der Zölibatsaufhebung. Viel würde<lb/>
damit aber nicht erreicht werden, wie ein Blick auf den griechisch-orientalischen<lb/>
Klerus Rußlands, Ungarns und der Balkanstaaten zeigt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_994" next="#ID_995"> Schon zahlenmäßig werden die deutschen Protestanten &#x2014; nicht als religiöse<lb/>
Macht gedacht &#x2014; den Katholiken in den gelehrten Berufen immer überlegen<lb/>
fein. Dazu kommt, daß es nicht an sich, aber tatsächlich schwer ist, den Beruf<lb/>
des Gelehrten, des Beamten mit dem des gläubigen Katholiken zu vereinen.<lb/>
Man blicke doch auf Frankreich, Italien, Österreich, wo protestantische Konkurrenz<lb/>
oder offizielle Begünstigung der Protestanten gewiß nicht in Betracht kamen.<lb/>
Als Leo Thun im Jahre 1849 &#x2014; nachdem das alte Österreich trotz aller Zensur<lb/>
und sonstigen Absperrungsmaßregeln, trotz Jesuiten, zahlreichen Ordens- und<lb/>
Weltgeistlichen jämmerlich Bankerott machte &#x2014; an die Reform des mittleren<lb/>
und höheren Unterrichts ging, mußte er die Kräfte aus dein Auslande berufen.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0256] Parität in Braunsberg nach Berlin kam, hatte er der Parlamentsdialektik von A. Reichensperger zu verdanken. Wie soll nun die Parität gewahrt werden — mechanisch oder organisch? Um eine Lösung zu finden, muß man etwas tiefer graben. Ihrem Wesen nach ist die katholische Religion trotz der rechtlich-weltlichen Außenseite mehr als jede andere Religion aufs Jenseits gerichtet. Das Ideal des Heiligen paßt wenig zu dem des modernen Beamten, Gelehrten, Technikers, Industriellen. Im Luthertum tritt der Diesseitsgedanke etwas mehr hervor, noch mehr im Calvinismus und erst recht im Judentum. So ungefähr ist auch bei uns die Skala im Wohlstande. In den größeren Städten sand die protestantische Bewegung schnell und nachhaltig Eingang, in keiner, etwa Münster und Aachen ausgenommen, vermag sich katholischer Einfluß geltend zu machen. Durch Mischehen hat sich in den Städten die Zahl der katholischen Kaufleute und Industriellen stark verringert. Wie schon angedeutet, ging der wissenschaft¬ liche Fortschritt seit dem achtzehnten Jahrhundert von Protestanten aus. Aber in ihren Händen lag auch der wissenschaftliche Kleinbetrieb. Ihr Schulwesen, nicht so stark in den Banden der Tradition, entwickelte sich mehr zeitgemäß und wurde von den Unbilden der Zeit weniger berührt. Anstalten wie Schulpforta und die sächsischen Fürstenschulen finden sich nicht in den katholischen Landes¬ teilen. Daher erklärt sich auch das Überwiegen protestantischer Privatdozenten und Bibliothekare. Die Beamtentätigkeit ist bei vielen protestantischen Familien durch Generationen üblich. Allein in der katholischen ländlichen und klein¬ bürgerlichen Bevölkerung gilt nur der priesterliche Beruf in seiner Verzweigung in Weltseelsorge, Mönchstum und Heidenmission als Ideal; für andere Studierende fehlt es meist an Unterstützung. Zu den angegebenen Gründen der Minderheit katholischer gelehrter Personen kommt noch das Zölibat der Priester. Wie viele ausgezeichnete Männer sind aus den Häusern protestantischer Pastoren hervorgegangen. Die Wahrnehmung dieser Tatsache auch bei seinen Landsleuten machte den Tschechenführer L. Rieger, einen eifrigen Katholiken, zum Anwalt der Zölibatsaufhebung. Viel würde damit aber nicht erreicht werden, wie ein Blick auf den griechisch-orientalischen Klerus Rußlands, Ungarns und der Balkanstaaten zeigt. Schon zahlenmäßig werden die deutschen Protestanten — nicht als religiöse Macht gedacht — den Katholiken in den gelehrten Berufen immer überlegen fein. Dazu kommt, daß es nicht an sich, aber tatsächlich schwer ist, den Beruf des Gelehrten, des Beamten mit dem des gläubigen Katholiken zu vereinen. Man blicke doch auf Frankreich, Italien, Österreich, wo protestantische Konkurrenz oder offizielle Begünstigung der Protestanten gewiß nicht in Betracht kamen. Als Leo Thun im Jahre 1849 — nachdem das alte Österreich trotz aller Zensur und sonstigen Absperrungsmaßregeln, trotz Jesuiten, zahlreichen Ordens- und Weltgeistlichen jämmerlich Bankerott machte — an die Reform des mittleren und höheren Unterrichts ging, mußte er die Kräfte aus dein Auslande berufen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/256
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/256>, abgerufen am 22.12.2024.