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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Graf poccis Rasperlkomödien und die Marionettenbühne

Marionettentheater zunächst, wenn auch nicht ausschließlich, für Kinder da ist, und
daß man Kindern Operngläser nicht in die Hand gibt, auch dann nicht, wenn die
Szenen schlecht wahrzunehmen sind. Als weiterer Verstoß gegen die künstlerischen
Gesetze, die in der Eigenart dieser Sache liegen, erscheint es nur, daß die Kostüme
und die Ausstattungen allzu ängstlich mit der Wirklichkeit wetteifern. Das Empire
beherrscht wie in der Mode und in der großen Bühne auch diese kleine Szene.
Dadurch empfängt dieses Marionettentheater ein wenig den Stempel eines kleinen
Modells für eine große Bühne, was entschieden eine Beeinträchtigung ist und zur
völligen Verkennung der selbständigen Geltung des Puppentheaters führt. Auf
diese Weise wächst alles Kleine ins Kleinliche, anstatt ins Größenhafte. Gerade
das Gegenteil müßte getan werden. Die Wirklichkeit kommt nnr insofern in
Betracht, als die kleine Bühne ihre Überlegenheit an ihr zeigen kann, indem sie
sie verhöhnt, verzerrt, ins Burleske wendet und so dem Gelächter preisgibt. Dasselbe
gilt für das Münchener Künstler-Puppentheater, das sich vor drei Jahren auf der
Nürnberger Ausstellung produzierte und seither in allen deutschen Städten auf
Gastrollen erscheint. Ob es dasselbe wie Papa Schmids Theater ist, weiß ich
nicht, eS ist für die Frage auch belanglos. Im Wesen ist es dasselbe.

Und trotzdem! Auch dieses kleine Spiel übte bei all seinen mir ganz offenbaren
Gebrechen seine zauberhafte Wirkung, vor der man hilflos wird. Ich kann nur
jedem sagen: Wenn Sie nach München kommen, versäumen Sie alles, aber ver¬
säumen Sie das Kasperltheater nicht. Einmal passierte etwas ganz Großartiges.
Eine Tanzeinlage wurde gemacht, zwei kleine Balletteilsen in Tarlatanröckchen
traten auf. Der Tanz war das schönste, was ich auf der kleinen Bühne überhaupt
gesehen habe. Er war so schön, weil er in Wirklichkeit überhaupt nicht
getanzt werden kann. Er kommt nirgends vor als auf der Marionettenbühne.
Das ist das Entscheidende. Wenn man das auch von dem andern Spiel sagen
kann, dann ist das Ziel erreicht. Beim alten volkstümlichen Marionettenspiel war
es der Fall. Trotzdem ist auch in dem Münchener Puppenspiel der alte, unverwüstliche
Geist lebendig. Aber er steckt mehr in den Stücken des Grafen Pocal, die den
Spielplan beherrschen, als in den Puppen. Diese "Kasperlkomödien", die nun in
einer dreibändigen schönen Gesamtausgabe im Verlag Etzold u. Co. in München
erschienen sind, haben den Stil, den ich für die große Marionettenbühne verlange.
Wenn man diese Dichtungen für sich liest, losgelöst von dem lebendigen Zusammenhang
mit der kleinen Bühne, durch die sie erst ihre Daseinsberechtigung empfangen, und
durch die sie allein lebensfähig werden, könnte man sagen, Franz Pocal habe sich
die Sache sehr leicht gemacht. Er hat nichts erfunden und nichts erschaffen, sondern
hat die Märchenstoffe, die ihm in die Hände kamen, einfach und unglaublich roh
für die Bedürfnisse der kleinen Bühne zurecht geschnitten und verballhornt. Seine
eigentliche persönliche Schöpfung, wenn man sie als solche überhaupt bezeichnen
kann, ist der Kasperl Larifari, die Personifikation des Münchener Volkswitzes, die
lustige Person, die für die mitunter recht derben Späße sorgt. Er ist die stehende
Figur, die eigentliche Angel, in der sich die Stücke drehen. Er tritt immer als
dienende Person auf, kennt nichts Höheres auf der Welt als Essen, Trinken und
Faulenzen, bildet aber mit seinem Mutterwitz das natürliche Gegengewicht zu den
romantischen Verstiegenheiten. Auf diesem Kontrast beruht die eigentliche groteske
Marionettenwirkung der Stücke Poccis. Bei aller anscheinenden Plumpheit und


Graf poccis Rasperlkomödien und die Marionettenbühne

Marionettentheater zunächst, wenn auch nicht ausschließlich, für Kinder da ist, und
daß man Kindern Operngläser nicht in die Hand gibt, auch dann nicht, wenn die
Szenen schlecht wahrzunehmen sind. Als weiterer Verstoß gegen die künstlerischen
Gesetze, die in der Eigenart dieser Sache liegen, erscheint es nur, daß die Kostüme
und die Ausstattungen allzu ängstlich mit der Wirklichkeit wetteifern. Das Empire
beherrscht wie in der Mode und in der großen Bühne auch diese kleine Szene.
Dadurch empfängt dieses Marionettentheater ein wenig den Stempel eines kleinen
Modells für eine große Bühne, was entschieden eine Beeinträchtigung ist und zur
völligen Verkennung der selbständigen Geltung des Puppentheaters führt. Auf
diese Weise wächst alles Kleine ins Kleinliche, anstatt ins Größenhafte. Gerade
das Gegenteil müßte getan werden. Die Wirklichkeit kommt nnr insofern in
Betracht, als die kleine Bühne ihre Überlegenheit an ihr zeigen kann, indem sie
sie verhöhnt, verzerrt, ins Burleske wendet und so dem Gelächter preisgibt. Dasselbe
gilt für das Münchener Künstler-Puppentheater, das sich vor drei Jahren auf der
Nürnberger Ausstellung produzierte und seither in allen deutschen Städten auf
Gastrollen erscheint. Ob es dasselbe wie Papa Schmids Theater ist, weiß ich
nicht, eS ist für die Frage auch belanglos. Im Wesen ist es dasselbe.

Und trotzdem! Auch dieses kleine Spiel übte bei all seinen mir ganz offenbaren
Gebrechen seine zauberhafte Wirkung, vor der man hilflos wird. Ich kann nur
jedem sagen: Wenn Sie nach München kommen, versäumen Sie alles, aber ver¬
säumen Sie das Kasperltheater nicht. Einmal passierte etwas ganz Großartiges.
Eine Tanzeinlage wurde gemacht, zwei kleine Balletteilsen in Tarlatanröckchen
traten auf. Der Tanz war das schönste, was ich auf der kleinen Bühne überhaupt
gesehen habe. Er war so schön, weil er in Wirklichkeit überhaupt nicht
getanzt werden kann. Er kommt nirgends vor als auf der Marionettenbühne.
Das ist das Entscheidende. Wenn man das auch von dem andern Spiel sagen
kann, dann ist das Ziel erreicht. Beim alten volkstümlichen Marionettenspiel war
es der Fall. Trotzdem ist auch in dem Münchener Puppenspiel der alte, unverwüstliche
Geist lebendig. Aber er steckt mehr in den Stücken des Grafen Pocal, die den
Spielplan beherrschen, als in den Puppen. Diese „Kasperlkomödien", die nun in
einer dreibändigen schönen Gesamtausgabe im Verlag Etzold u. Co. in München
erschienen sind, haben den Stil, den ich für die große Marionettenbühne verlange.
Wenn man diese Dichtungen für sich liest, losgelöst von dem lebendigen Zusammenhang
mit der kleinen Bühne, durch die sie erst ihre Daseinsberechtigung empfangen, und
durch die sie allein lebensfähig werden, könnte man sagen, Franz Pocal habe sich
die Sache sehr leicht gemacht. Er hat nichts erfunden und nichts erschaffen, sondern
hat die Märchenstoffe, die ihm in die Hände kamen, einfach und unglaublich roh
für die Bedürfnisse der kleinen Bühne zurecht geschnitten und verballhornt. Seine
eigentliche persönliche Schöpfung, wenn man sie als solche überhaupt bezeichnen
kann, ist der Kasperl Larifari, die Personifikation des Münchener Volkswitzes, die
lustige Person, die für die mitunter recht derben Späße sorgt. Er ist die stehende
Figur, die eigentliche Angel, in der sich die Stücke drehen. Er tritt immer als
dienende Person auf, kennt nichts Höheres auf der Welt als Essen, Trinken und
Faulenzen, bildet aber mit seinem Mutterwitz das natürliche Gegengewicht zu den
romantischen Verstiegenheiten. Auf diesem Kontrast beruht die eigentliche groteske
Marionettenwirkung der Stücke Poccis. Bei aller anscheinenden Plumpheit und


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[0250] Graf poccis Rasperlkomödien und die Marionettenbühne Marionettentheater zunächst, wenn auch nicht ausschließlich, für Kinder da ist, und daß man Kindern Operngläser nicht in die Hand gibt, auch dann nicht, wenn die Szenen schlecht wahrzunehmen sind. Als weiterer Verstoß gegen die künstlerischen Gesetze, die in der Eigenart dieser Sache liegen, erscheint es nur, daß die Kostüme und die Ausstattungen allzu ängstlich mit der Wirklichkeit wetteifern. Das Empire beherrscht wie in der Mode und in der großen Bühne auch diese kleine Szene. Dadurch empfängt dieses Marionettentheater ein wenig den Stempel eines kleinen Modells für eine große Bühne, was entschieden eine Beeinträchtigung ist und zur völligen Verkennung der selbständigen Geltung des Puppentheaters führt. Auf diese Weise wächst alles Kleine ins Kleinliche, anstatt ins Größenhafte. Gerade das Gegenteil müßte getan werden. Die Wirklichkeit kommt nnr insofern in Betracht, als die kleine Bühne ihre Überlegenheit an ihr zeigen kann, indem sie sie verhöhnt, verzerrt, ins Burleske wendet und so dem Gelächter preisgibt. Dasselbe gilt für das Münchener Künstler-Puppentheater, das sich vor drei Jahren auf der Nürnberger Ausstellung produzierte und seither in allen deutschen Städten auf Gastrollen erscheint. Ob es dasselbe wie Papa Schmids Theater ist, weiß ich nicht, eS ist für die Frage auch belanglos. Im Wesen ist es dasselbe. Und trotzdem! Auch dieses kleine Spiel übte bei all seinen mir ganz offenbaren Gebrechen seine zauberhafte Wirkung, vor der man hilflos wird. Ich kann nur jedem sagen: Wenn Sie nach München kommen, versäumen Sie alles, aber ver¬ säumen Sie das Kasperltheater nicht. Einmal passierte etwas ganz Großartiges. Eine Tanzeinlage wurde gemacht, zwei kleine Balletteilsen in Tarlatanröckchen traten auf. Der Tanz war das schönste, was ich auf der kleinen Bühne überhaupt gesehen habe. Er war so schön, weil er in Wirklichkeit überhaupt nicht getanzt werden kann. Er kommt nirgends vor als auf der Marionettenbühne. Das ist das Entscheidende. Wenn man das auch von dem andern Spiel sagen kann, dann ist das Ziel erreicht. Beim alten volkstümlichen Marionettenspiel war es der Fall. Trotzdem ist auch in dem Münchener Puppenspiel der alte, unverwüstliche Geist lebendig. Aber er steckt mehr in den Stücken des Grafen Pocal, die den Spielplan beherrschen, als in den Puppen. Diese „Kasperlkomödien", die nun in einer dreibändigen schönen Gesamtausgabe im Verlag Etzold u. Co. in München erschienen sind, haben den Stil, den ich für die große Marionettenbühne verlange. Wenn man diese Dichtungen für sich liest, losgelöst von dem lebendigen Zusammenhang mit der kleinen Bühne, durch die sie erst ihre Daseinsberechtigung empfangen, und durch die sie allein lebensfähig werden, könnte man sagen, Franz Pocal habe sich die Sache sehr leicht gemacht. Er hat nichts erfunden und nichts erschaffen, sondern hat die Märchenstoffe, die ihm in die Hände kamen, einfach und unglaublich roh für die Bedürfnisse der kleinen Bühne zurecht geschnitten und verballhornt. Seine eigentliche persönliche Schöpfung, wenn man sie als solche überhaupt bezeichnen kann, ist der Kasperl Larifari, die Personifikation des Münchener Volkswitzes, die lustige Person, die für die mitunter recht derben Späße sorgt. Er ist die stehende Figur, die eigentliche Angel, in der sich die Stücke drehen. Er tritt immer als dienende Person auf, kennt nichts Höheres auf der Welt als Essen, Trinken und Faulenzen, bildet aber mit seinem Mutterwitz das natürliche Gegengewicht zu den romantischen Verstiegenheiten. Auf diesem Kontrast beruht die eigentliche groteske Marionettenwirkung der Stücke Poccis. Bei aller anscheinenden Plumpheit und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/250>, abgerufen am 22.12.2024.