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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches
Neichsspiegel

(Neue Erörterungen über die Stellung des Reichskanzlers. Agrarier und
Nationalliberale. Koloniales. Die englischen Wahlen. Hetzereien zwischen Wien
und Berlin.)

In den allgemeinen Betrachtungen, die in der Presse über die politische Lage
angestellt werden, ist man in der letzten Woche glücklich bei mehr oder weniger
tiefsinnigen Erörterungen über eine vielleicht bevorstehende Kanzlerkrisis angelangt.
Bei dieser Art, Politik zu treiben, fühlt man sich unwillkürlich an gewisse
Formen von Kurpfuscherei erinnert, wobei der Heilkünstler, ohne auch nur die
Nasenspitze seines Patienten gesehen zu haben, aus einer übersandten Haarlocke oder
einem Wäschestück eine Diagnose stellt. Die Kunst, aus einem Nichts oder aus einer
Sache, die mit der Frage, die man erörtert, in gar keinem innern Zusammenhange steht,
den tiefsten Urgrund der Zeitereignisse zu erkennen, scheint sich bei uns zur höchsten
Blüte zu entwickeln. Jetzt hat man sich also allen Ernstes den Kopf zerbrochen,
ob nicht die Amtsführung des Reichskanzlers schon in kurzer Zeit ihrem Abschluß
nahe sein werde. Es ist im Grunde gleichgültig, wie man eigentlich auf diesen
Gedanken gekommen ist; man hätte es ebensogut aus dem Kaffeesatz prophezeien
können -- das hätte wenigstens den Vorzug einer altbewährten Methode für sich gehabt,
und die Kundschaft der Damen, die sich mit solchen Künsten befassen, steht im Punkte
der Leichtgläubigkeit auf ziemlich gleicher Stufe mit denen, die es im Preußen-Deutsch¬
land unsrer Tage für möglich halten, daß der Monarch einen soeben ernannten
Staatsmann fallen läßt, ehe ihm auch nur Gelegenheit gegeben worden ist, bei
irgendeiner politischen Aufgabe von Bedeutung Hand ans Werk zu legen. Und
das alles nicht einmal wegen ernster Schwierigkeiten und Hindernisse, sondern auf
bloße Nörgeleien hin, die weder einen festen Boden unter sich, noch ein bestimmtes
Ziel vor sich haben. Es fanden sich Leute, die wissen wollten, daß der Kaiser
kein rechtes Vertrauen zu Herrn v. Bethmann Hollweg gewonnen oder auch das
gewonnene wieder verloren habe -- eine Wissenschaft, die von vornherein
unkontrollierbar ist, weil der Deutsche Kaiser sich selbstverständlich niemals dazu
herbeilassen kann, der Öffentlichkeit über seine Herzensmeinungeu Rechenschaft
abzulegen, um einem erbärmlichen Klatsch den Mund zu stopfen. Nach unserer
Meinung entspricht es ebensowohl der monarchischen Gesinnung wie der Selbst¬
achtung des unabhängigen Staatsbürgers, wenn man Schnüffeleien und Klatschereien
dieser Art grundsätzlich verachtet und sie höfischen Strebern überläßt, und ebenso
grundsätzlich sollte man sich an die öffentlichen Kundgebungen des Monarchen
halten. Es genügt daher, darauf hinzuweisen, daß der Kaiser Herrn




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Neichsspiegel

(Neue Erörterungen über die Stellung des Reichskanzlers. Agrarier und
Nationalliberale. Koloniales. Die englischen Wahlen. Hetzereien zwischen Wien
und Berlin.)

In den allgemeinen Betrachtungen, die in der Presse über die politische Lage
angestellt werden, ist man in der letzten Woche glücklich bei mehr oder weniger
tiefsinnigen Erörterungen über eine vielleicht bevorstehende Kanzlerkrisis angelangt.
Bei dieser Art, Politik zu treiben, fühlt man sich unwillkürlich an gewisse
Formen von Kurpfuscherei erinnert, wobei der Heilkünstler, ohne auch nur die
Nasenspitze seines Patienten gesehen zu haben, aus einer übersandten Haarlocke oder
einem Wäschestück eine Diagnose stellt. Die Kunst, aus einem Nichts oder aus einer
Sache, die mit der Frage, die man erörtert, in gar keinem innern Zusammenhange steht,
den tiefsten Urgrund der Zeitereignisse zu erkennen, scheint sich bei uns zur höchsten
Blüte zu entwickeln. Jetzt hat man sich also allen Ernstes den Kopf zerbrochen,
ob nicht die Amtsführung des Reichskanzlers schon in kurzer Zeit ihrem Abschluß
nahe sein werde. Es ist im Grunde gleichgültig, wie man eigentlich auf diesen
Gedanken gekommen ist; man hätte es ebensogut aus dem Kaffeesatz prophezeien
können — das hätte wenigstens den Vorzug einer altbewährten Methode für sich gehabt,
und die Kundschaft der Damen, die sich mit solchen Künsten befassen, steht im Punkte
der Leichtgläubigkeit auf ziemlich gleicher Stufe mit denen, die es im Preußen-Deutsch¬
land unsrer Tage für möglich halten, daß der Monarch einen soeben ernannten
Staatsmann fallen läßt, ehe ihm auch nur Gelegenheit gegeben worden ist, bei
irgendeiner politischen Aufgabe von Bedeutung Hand ans Werk zu legen. Und
das alles nicht einmal wegen ernster Schwierigkeiten und Hindernisse, sondern auf
bloße Nörgeleien hin, die weder einen festen Boden unter sich, noch ein bestimmtes
Ziel vor sich haben. Es fanden sich Leute, die wissen wollten, daß der Kaiser
kein rechtes Vertrauen zu Herrn v. Bethmann Hollweg gewonnen oder auch das
gewonnene wieder verloren habe — eine Wissenschaft, die von vornherein
unkontrollierbar ist, weil der Deutsche Kaiser sich selbstverständlich niemals dazu
herbeilassen kann, der Öffentlichkeit über seine Herzensmeinungeu Rechenschaft
abzulegen, um einem erbärmlichen Klatsch den Mund zu stopfen. Nach unserer
Meinung entspricht es ebensowohl der monarchischen Gesinnung wie der Selbst¬
achtung des unabhängigen Staatsbürgers, wenn man Schnüffeleien und Klatschereien
dieser Art grundsätzlich verachtet und sie höfischen Strebern überläßt, und ebenso
grundsätzlich sollte man sich an die öffentlichen Kundgebungen des Monarchen
halten. Es genügt daher, darauf hinzuweisen, daß der Kaiser Herrn


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[0244] [Abbildung] Maßgebliches und Unmaßgebliches Neichsspiegel (Neue Erörterungen über die Stellung des Reichskanzlers. Agrarier und Nationalliberale. Koloniales. Die englischen Wahlen. Hetzereien zwischen Wien und Berlin.) In den allgemeinen Betrachtungen, die in der Presse über die politische Lage angestellt werden, ist man in der letzten Woche glücklich bei mehr oder weniger tiefsinnigen Erörterungen über eine vielleicht bevorstehende Kanzlerkrisis angelangt. Bei dieser Art, Politik zu treiben, fühlt man sich unwillkürlich an gewisse Formen von Kurpfuscherei erinnert, wobei der Heilkünstler, ohne auch nur die Nasenspitze seines Patienten gesehen zu haben, aus einer übersandten Haarlocke oder einem Wäschestück eine Diagnose stellt. Die Kunst, aus einem Nichts oder aus einer Sache, die mit der Frage, die man erörtert, in gar keinem innern Zusammenhange steht, den tiefsten Urgrund der Zeitereignisse zu erkennen, scheint sich bei uns zur höchsten Blüte zu entwickeln. Jetzt hat man sich also allen Ernstes den Kopf zerbrochen, ob nicht die Amtsführung des Reichskanzlers schon in kurzer Zeit ihrem Abschluß nahe sein werde. Es ist im Grunde gleichgültig, wie man eigentlich auf diesen Gedanken gekommen ist; man hätte es ebensogut aus dem Kaffeesatz prophezeien können — das hätte wenigstens den Vorzug einer altbewährten Methode für sich gehabt, und die Kundschaft der Damen, die sich mit solchen Künsten befassen, steht im Punkte der Leichtgläubigkeit auf ziemlich gleicher Stufe mit denen, die es im Preußen-Deutsch¬ land unsrer Tage für möglich halten, daß der Monarch einen soeben ernannten Staatsmann fallen läßt, ehe ihm auch nur Gelegenheit gegeben worden ist, bei irgendeiner politischen Aufgabe von Bedeutung Hand ans Werk zu legen. Und das alles nicht einmal wegen ernster Schwierigkeiten und Hindernisse, sondern auf bloße Nörgeleien hin, die weder einen festen Boden unter sich, noch ein bestimmtes Ziel vor sich haben. Es fanden sich Leute, die wissen wollten, daß der Kaiser kein rechtes Vertrauen zu Herrn v. Bethmann Hollweg gewonnen oder auch das gewonnene wieder verloren habe — eine Wissenschaft, die von vornherein unkontrollierbar ist, weil der Deutsche Kaiser sich selbstverständlich niemals dazu herbeilassen kann, der Öffentlichkeit über seine Herzensmeinungeu Rechenschaft abzulegen, um einem erbärmlichen Klatsch den Mund zu stopfen. Nach unserer Meinung entspricht es ebensowohl der monarchischen Gesinnung wie der Selbst¬ achtung des unabhängigen Staatsbürgers, wenn man Schnüffeleien und Klatschereien dieser Art grundsätzlich verachtet und sie höfischen Strebern überläßt, und ebenso grundsätzlich sollte man sich an die öffentlichen Kundgebungen des Monarchen halten. Es genügt daher, darauf hinzuweisen, daß der Kaiser Herrn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/244>, abgerufen am 04.07.2024.