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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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mit Hilfe einiger Überredung und mehrerer Medjedies Lohnerhöhung wird sie die
Stelle bei ihm annehmen. So ist es schon manch einem noch schöneren Tatavla-
mädchen ergangen.

In Tatavla drüben sind alle Häuschen ungemalt. Der Sturzregen hat sie
grau gemacht, und die unaufhörlichen Erdbeben haben die Wände geborsten, so daß
sie eingesunken aneinander lehnen, wie bereit, die Berglehne hinabzugleiten. Kleine
Gärtchen klettern um sie herum, wie in der Absicht, sie zusammenzubinden zu etwas,
was in der Entfernung idyllisch erscheint, in nächster Nähe sich aber als ein
unentwirrbares Chaos von Behausungen entpuppt, mit einer Menge schreiender,
halbbekleideter Kinder und keifender, magerer Weiber und dunkeln, über eine Arbeit
gebeugten Mädchenköpfen in fast allen Fenstern.

In der kosmopolitischen, weitgestreckten und unregelmäßigen Sammlung von
Kleinstädter, die sich Konstantinopel nennt, ist Tatavla etwas für sich Getrenntes.
Die türkischen Gesetze, die in Stambul nach dem Buchstaben befolgt, in Per" nach
Hausbedarf angenommen werden, sie werden in Tatavla verlacht. Wenn das
Dunkel einfällt, stellt die Polizei sich, als gebe es kein Tatavla, und für den
Fremden ist es selbst am Tage nicht rätlich, durch Tatavlas einsame Gassen zu
gehen.

Des Nachts aber brennt Licht in so manchem Fensterchen. Nadeln und
Maschinen arbeiten. Bloß die kleinen Perserjungen ziehen singend durch die
schweigenden, hügeligen Gassen, um ihre süße Hafersuppe feilzubieten. Und
allnächtlich ertönt ihr eintöniger Gesang:

Aus dem kleinen Häuschen oben am Hügel pflegt dann Fvlica zu treten mit
Blechkrügen an den Armen, um für sich und Tante Luchiccr Suppe zu holen. Ein
Tuch hat sie auf dem Kopfe und um die Achseln einen geflickten türkischen Halat
(Schlafrock). Sie ist ganz Müdigkeit, Schlaftrunkenheit und Frösteln. In den
schwarzen Augen ist kein Carmen-Gefunkel, nur sehnsüchtiges Schlafbedürfnis.
Sie geht auf den Zehen über die Treppen, um die Kinder nicht zu wecken. Wie
sie die Türe öffnet, ist die Gasse vor ihr nur ein schwarzes bodenloses Dunkel, aus dem
die kleine Laterne des Perserknaben ihren einzigen schaukelnden Lichtpunkt entsendet.

Dann muß sie wieder zurückkehren in die kleine Stube mit dem wandfesten
Sofa beim Fenster, um weiterzunühen -- immer dieselbe Arbeit in immer der¬
selben Stellung. Da ist sie nichts als ein viereckiges zusammengesunkenes Bündel
in aufgelösten Kleidern: die Arbeit dicht unter den ein wenig kurzsichtigen Augen,
den Rücken gekrümmt, die Beine nach türkischer Art gekreuzt.

singen die Perserknaben in der Ferne. Man kann viel denken, während die Hände
mechanisch Knopfloch um Knopfloch nähen. Jedes fertiggenähte Loch ist ein
kleiner Schritt näher zum Ziele. Es ist ein Tropfen zur Mitgift. Sie näht und
näht, ohne aufzublicken. Nur an der Anzahl der leeren Rollen vor sich kann sie
ungefähr bemessen, welche Stunde der Nacht es sein mag. In wie vielen Stuben
Tatavlas sitzen nicht in dieser Nacht junge Mädchen und arbeiten! Und fast alle
für dasselbe Ziel: die Mitgift.


mit Hilfe einiger Überredung und mehrerer Medjedies Lohnerhöhung wird sie die
Stelle bei ihm annehmen. So ist es schon manch einem noch schöneren Tatavla-
mädchen ergangen.

In Tatavla drüben sind alle Häuschen ungemalt. Der Sturzregen hat sie
grau gemacht, und die unaufhörlichen Erdbeben haben die Wände geborsten, so daß
sie eingesunken aneinander lehnen, wie bereit, die Berglehne hinabzugleiten. Kleine
Gärtchen klettern um sie herum, wie in der Absicht, sie zusammenzubinden zu etwas,
was in der Entfernung idyllisch erscheint, in nächster Nähe sich aber als ein
unentwirrbares Chaos von Behausungen entpuppt, mit einer Menge schreiender,
halbbekleideter Kinder und keifender, magerer Weiber und dunkeln, über eine Arbeit
gebeugten Mädchenköpfen in fast allen Fenstern.

In der kosmopolitischen, weitgestreckten und unregelmäßigen Sammlung von
Kleinstädter, die sich Konstantinopel nennt, ist Tatavla etwas für sich Getrenntes.
Die türkischen Gesetze, die in Stambul nach dem Buchstaben befolgt, in Per« nach
Hausbedarf angenommen werden, sie werden in Tatavla verlacht. Wenn das
Dunkel einfällt, stellt die Polizei sich, als gebe es kein Tatavla, und für den
Fremden ist es selbst am Tage nicht rätlich, durch Tatavlas einsame Gassen zu
gehen.

Des Nachts aber brennt Licht in so manchem Fensterchen. Nadeln und
Maschinen arbeiten. Bloß die kleinen Perserjungen ziehen singend durch die
schweigenden, hügeligen Gassen, um ihre süße Hafersuppe feilzubieten. Und
allnächtlich ertönt ihr eintöniger Gesang:

Aus dem kleinen Häuschen oben am Hügel pflegt dann Fvlica zu treten mit
Blechkrügen an den Armen, um für sich und Tante Luchiccr Suppe zu holen. Ein
Tuch hat sie auf dem Kopfe und um die Achseln einen geflickten türkischen Halat
(Schlafrock). Sie ist ganz Müdigkeit, Schlaftrunkenheit und Frösteln. In den
schwarzen Augen ist kein Carmen-Gefunkel, nur sehnsüchtiges Schlafbedürfnis.
Sie geht auf den Zehen über die Treppen, um die Kinder nicht zu wecken. Wie
sie die Türe öffnet, ist die Gasse vor ihr nur ein schwarzes bodenloses Dunkel, aus dem
die kleine Laterne des Perserknaben ihren einzigen schaukelnden Lichtpunkt entsendet.

Dann muß sie wieder zurückkehren in die kleine Stube mit dem wandfesten
Sofa beim Fenster, um weiterzunühen — immer dieselbe Arbeit in immer der¬
selben Stellung. Da ist sie nichts als ein viereckiges zusammengesunkenes Bündel
in aufgelösten Kleidern: die Arbeit dicht unter den ein wenig kurzsichtigen Augen,
den Rücken gekrümmt, die Beine nach türkischer Art gekreuzt.

singen die Perserknaben in der Ferne. Man kann viel denken, während die Hände
mechanisch Knopfloch um Knopfloch nähen. Jedes fertiggenähte Loch ist ein
kleiner Schritt näher zum Ziele. Es ist ein Tropfen zur Mitgift. Sie näht und
näht, ohne aufzublicken. Nur an der Anzahl der leeren Rollen vor sich kann sie
ungefähr bemessen, welche Stunde der Nacht es sein mag. In wie vielen Stuben
Tatavlas sitzen nicht in dieser Nacht junge Mädchen und arbeiten! Und fast alle
für dasselbe Ziel: die Mitgift.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/238>, abgerufen am 04.07.2024.