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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Ernst Moritz Arndt

ziehen läßt - , wie der deutsche Gedanke schon auf den Schlachtfeldern von
Jena und Auerstädt geboren wurde -- schon, aber wirklich auch erst geboren,
denn vorher, natürlich bei ungefährer Zeitbestimmung, ist er selbst bei einem
so vollkommenen deutschen Charakter wie bei Arndt nicht zu entdecken.

Als siebzigjähriger hat Arndt in den "Erinnerungen aus dem äußeren
Leben" seinen Entwicklungsgang selber beschrieben. In seiner Bescheidenheit
meinte er dieses Unternehmen ausdrücklich rechtfertigen zu müssen. Es war
"öffentlich vielfältiglich angefochten worden", nun sollte dies Buch seine Recht¬
fertigung sein. Denn "was hätte das liebe Vaterland des Gewinn, daß irgend¬
eines seiner Kinder unverdient für einen Schurken oder Narren gälte?" Und
eine besondere Entschuldigung wird noch für die Ausführlichkeit der Jugend-
schilderungen hinzugefügt: "Das ganze Leben der Jahre von 1780 und 1790
steht schon gleich ein paar Jahrhunderten von uns geschieden, so ungeheure
Risse haben die letzten fünfzig Jahre durch die Zeit gerissen." Er malt dann
mit der kräftigen Anschaulichkeit, die alle seine Schriften auszeichnet, die Zustände
und Sitten seines Elternhauses und seiner kindlichen Umgebung. Dort war
kaum etwas von deutschen Gedanken und sicherlich nichts von politischen
Empfindungen oder gar Erwägungen zu spüren. Er war an: 26. Dezember
1769 zu Schoritz, das der Vater verwaltete, auf dem damals schwedischen
Rügen geboren. Der Vater war "der Sohn eines Hirten, ein Freigelassener,
der bei einem großen Herrn gedient und durch die Gunst der Umstände sich
ein bißchen aus dem Staube herausgebildet hatte". Er erzog seine Jungen
körperlich sehr hart, sie mußten bei jedem Wind und Wetter weite Gänge machen
und sich auch sonst auf alle Weise abhärten. Ernst Moritz fand daran das
größte Gefallen, trieb die Kunst der Abhärtung später für sich weiter und ward
besonders ein leidenschaftlicher Fußgänger, der den reichen Genuß und Nutzen
des Wanderns immer wieder mit wahrhafter Begeisterung hervorgehoben hat.
Hand in Hand mit solchen Abhärtungen ging aber auch die Erziehung in den
äußeren etwas steif-förmlichen Sitten. Diese "Abkonterfeiungen und Nach-
konterfeiungen" des feinen und vornehmen Lebens hat Arndt mit wunderhübschem
Humor beschrieben. Dagegen war von einer ernstlichen Schulung im Anfang
kaum die Rede; einen tüchtigen Hauslehrer bekam der Knabe erst mit vierzehn
Jahren. Dann aber stellten sich auch bald literarische Interessen ein. "Es war das
wirklich eine poetische Epoche, wo das liebe Deutschland nach einem langen,
matten Traum wieder zu einem eigentümlichen literarischen und poetischen
Dasein erwachte, und das war das Schöne darin, daß die Zeitgenossen viel
mehr, als es mir von den Jetztlebenden däucht, an jenen: Dasein Anteil nahmen.
Dies war nicht nur bei den Studierten und Gebildetere" der Fall, sondern
auch bei den Einfältigen und Umgekehrten, wie z. B. bei meinen Eltern "ut
ihresgleichen Seitdem ..."

Mit siebzehn Jahren kam Arndt durch fremde Unterstützung aus
das Stralsunder Gymnasium. Hier erwies sich der Ernst und die Tiefe


Ernst Moritz Arndt

ziehen läßt - , wie der deutsche Gedanke schon auf den Schlachtfeldern von
Jena und Auerstädt geboren wurde — schon, aber wirklich auch erst geboren,
denn vorher, natürlich bei ungefährer Zeitbestimmung, ist er selbst bei einem
so vollkommenen deutschen Charakter wie bei Arndt nicht zu entdecken.

Als siebzigjähriger hat Arndt in den „Erinnerungen aus dem äußeren
Leben" seinen Entwicklungsgang selber beschrieben. In seiner Bescheidenheit
meinte er dieses Unternehmen ausdrücklich rechtfertigen zu müssen. Es war
„öffentlich vielfältiglich angefochten worden", nun sollte dies Buch seine Recht¬
fertigung sein. Denn „was hätte das liebe Vaterland des Gewinn, daß irgend¬
eines seiner Kinder unverdient für einen Schurken oder Narren gälte?" Und
eine besondere Entschuldigung wird noch für die Ausführlichkeit der Jugend-
schilderungen hinzugefügt: „Das ganze Leben der Jahre von 1780 und 1790
steht schon gleich ein paar Jahrhunderten von uns geschieden, so ungeheure
Risse haben die letzten fünfzig Jahre durch die Zeit gerissen." Er malt dann
mit der kräftigen Anschaulichkeit, die alle seine Schriften auszeichnet, die Zustände
und Sitten seines Elternhauses und seiner kindlichen Umgebung. Dort war
kaum etwas von deutschen Gedanken und sicherlich nichts von politischen
Empfindungen oder gar Erwägungen zu spüren. Er war an: 26. Dezember
1769 zu Schoritz, das der Vater verwaltete, auf dem damals schwedischen
Rügen geboren. Der Vater war „der Sohn eines Hirten, ein Freigelassener,
der bei einem großen Herrn gedient und durch die Gunst der Umstände sich
ein bißchen aus dem Staube herausgebildet hatte". Er erzog seine Jungen
körperlich sehr hart, sie mußten bei jedem Wind und Wetter weite Gänge machen
und sich auch sonst auf alle Weise abhärten. Ernst Moritz fand daran das
größte Gefallen, trieb die Kunst der Abhärtung später für sich weiter und ward
besonders ein leidenschaftlicher Fußgänger, der den reichen Genuß und Nutzen
des Wanderns immer wieder mit wahrhafter Begeisterung hervorgehoben hat.
Hand in Hand mit solchen Abhärtungen ging aber auch die Erziehung in den
äußeren etwas steif-förmlichen Sitten. Diese „Abkonterfeiungen und Nach-
konterfeiungen" des feinen und vornehmen Lebens hat Arndt mit wunderhübschem
Humor beschrieben. Dagegen war von einer ernstlichen Schulung im Anfang
kaum die Rede; einen tüchtigen Hauslehrer bekam der Knabe erst mit vierzehn
Jahren. Dann aber stellten sich auch bald literarische Interessen ein. „Es war das
wirklich eine poetische Epoche, wo das liebe Deutschland nach einem langen,
matten Traum wieder zu einem eigentümlichen literarischen und poetischen
Dasein erwachte, und das war das Schöne darin, daß die Zeitgenossen viel
mehr, als es mir von den Jetztlebenden däucht, an jenen: Dasein Anteil nahmen.
Dies war nicht nur bei den Studierten und Gebildetere» der Fall, sondern
auch bei den Einfältigen und Umgekehrten, wie z. B. bei meinen Eltern »ut
ihresgleichen Seitdem ..."

Mit siebzehn Jahren kam Arndt durch fremde Unterstützung aus
das Stralsunder Gymnasium. Hier erwies sich der Ernst und die Tiefe


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[0163] Ernst Moritz Arndt ziehen läßt - , wie der deutsche Gedanke schon auf den Schlachtfeldern von Jena und Auerstädt geboren wurde — schon, aber wirklich auch erst geboren, denn vorher, natürlich bei ungefährer Zeitbestimmung, ist er selbst bei einem so vollkommenen deutschen Charakter wie bei Arndt nicht zu entdecken. Als siebzigjähriger hat Arndt in den „Erinnerungen aus dem äußeren Leben" seinen Entwicklungsgang selber beschrieben. In seiner Bescheidenheit meinte er dieses Unternehmen ausdrücklich rechtfertigen zu müssen. Es war „öffentlich vielfältiglich angefochten worden", nun sollte dies Buch seine Recht¬ fertigung sein. Denn „was hätte das liebe Vaterland des Gewinn, daß irgend¬ eines seiner Kinder unverdient für einen Schurken oder Narren gälte?" Und eine besondere Entschuldigung wird noch für die Ausführlichkeit der Jugend- schilderungen hinzugefügt: „Das ganze Leben der Jahre von 1780 und 1790 steht schon gleich ein paar Jahrhunderten von uns geschieden, so ungeheure Risse haben die letzten fünfzig Jahre durch die Zeit gerissen." Er malt dann mit der kräftigen Anschaulichkeit, die alle seine Schriften auszeichnet, die Zustände und Sitten seines Elternhauses und seiner kindlichen Umgebung. Dort war kaum etwas von deutschen Gedanken und sicherlich nichts von politischen Empfindungen oder gar Erwägungen zu spüren. Er war an: 26. Dezember 1769 zu Schoritz, das der Vater verwaltete, auf dem damals schwedischen Rügen geboren. Der Vater war „der Sohn eines Hirten, ein Freigelassener, der bei einem großen Herrn gedient und durch die Gunst der Umstände sich ein bißchen aus dem Staube herausgebildet hatte". Er erzog seine Jungen körperlich sehr hart, sie mußten bei jedem Wind und Wetter weite Gänge machen und sich auch sonst auf alle Weise abhärten. Ernst Moritz fand daran das größte Gefallen, trieb die Kunst der Abhärtung später für sich weiter und ward besonders ein leidenschaftlicher Fußgänger, der den reichen Genuß und Nutzen des Wanderns immer wieder mit wahrhafter Begeisterung hervorgehoben hat. Hand in Hand mit solchen Abhärtungen ging aber auch die Erziehung in den äußeren etwas steif-förmlichen Sitten. Diese „Abkonterfeiungen und Nach- konterfeiungen" des feinen und vornehmen Lebens hat Arndt mit wunderhübschem Humor beschrieben. Dagegen war von einer ernstlichen Schulung im Anfang kaum die Rede; einen tüchtigen Hauslehrer bekam der Knabe erst mit vierzehn Jahren. Dann aber stellten sich auch bald literarische Interessen ein. „Es war das wirklich eine poetische Epoche, wo das liebe Deutschland nach einem langen, matten Traum wieder zu einem eigentümlichen literarischen und poetischen Dasein erwachte, und das war das Schöne darin, daß die Zeitgenossen viel mehr, als es mir von den Jetztlebenden däucht, an jenen: Dasein Anteil nahmen. Dies war nicht nur bei den Studierten und Gebildetere» der Fall, sondern auch bei den Einfältigen und Umgekehrten, wie z. B. bei meinen Eltern »ut ihresgleichen Seitdem ..." Mit siebzehn Jahren kam Arndt durch fremde Unterstützung aus das Stralsunder Gymnasium. Hier erwies sich der Ernst und die Tiefe

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/163>, abgerufen am 04.07.2024.