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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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die Keime der Zukunft geknickt haben. Denn auf uns baut die Welt' schloß er, mit
Helden-Pathos an seine Brust schlagend, .und die Jugend hat immer recht!'

"Da ich noch immer die Maulsperre hatte, fuhr der Jüngling in ver¬
änderter Tonlage so in der Mitte zwischen Marquis Posa und Mephisto --
fort: .Sollte aber auch das an Ihrem verknöcherten Paukergemüt abprallen,
oder sollten Sie teuflische Mittel finden, unsern Freiheitsplau zu vereiteln, so
steht uus noch anderes offen. Wir lassen uns interviewen, veröffentlichen unsere
Tagebücher, brandmarken Sie und Ihr ganzes kapitalistisches Wuchererunter-
nchmcn durch eine Flucht in die Öffentlichkeit, so daß kein Hund ein Stück Brot
von Ihnen nimmt. . . . Und im Notfalle' -- hier blitzten die Augen des
Scholaren, während er aus seiner Hosentasche eine Pistole zog, die zum Glück
nur aus Schokolade war, .werden wir uns den Weg ins Land der Freiheit
hiermit bahnen -- ultima ratio oppressi . . .'

"In diesem Moment trat der Direktor dazwischen. Ich hatte sein Kommen
in meiner Verblüffung nicht bemerkt; wahrscheinlich hatte er dem erschütternden
Austritt schon eine Weile beigewohnt. Jetzt fiel er dem Todeskandidaten in den
Arm und dann um den Hals und sprach tiefcrregt auf ihn ein, wie ein Vater,
der seinen Liebling bereden will, so mild und honigsüß, wie ich ihn nie habe
reden hören. Der Jüngling jedoch titulierte ihn .Alte Mumie' und suchte sich
aus seiner lästigen Umarmung loszureißen, um die hingefallene Schokoladen-
Pistole aufzuheben.

"Schließlich ergriff er sie, knabberte die Spitze davon ab und sagte in einem
Anfall von Milde, während er dem Direktor seine Tintenfinger hinhielt: >Na
meinetwegen, alter Knaster, wir wollen uns diesmal noch vertragen!' Und
der Direktor zog ihn gerührt in die Ecke am Aktenschrank, nötigte ihn auf das
Sofa, auf dem er sonst dem Lehrerkolleg präsidierte, und nahm aus dem Schranke
-- ich traute meinen Augen nicht -- eine Flasche alten Rheinweins, um den
Bund zu besiegeln. Sie stand in einem Sektkühler, der von klaren Wasser-
tropfen schwitzte; ich habe dieses Kneipgerät dort bisher nie geahnt: es war die
ultima ratio rectoris. . . . Dann bot er ihm eine Havanna mit Leibbinde
an; doch der Jüngling wies sie schroff zurück, weil er sie nicht vertragen könnte,
und fuhr fort, seine Schokoladenpistole aufzulutschen, wie die Rothäute ihr Kriegs¬
beil begraben. . . . Schließlich setzte er sich dem Direktor auf den Schoß und
küßte ihn weinselig mit seinen Schokoladenlippen. ... Es versteht sich, daß
ich bei alldem staute peelo zusehen mußte und nichts abbekam; das war die
Strafe für meine Verstocktheit. . . .

"Ich wachte durstgepeinigt auf; es war aber nur der Nachdurst von unserm
Kommers; trotzdem sah ich immer noch den perlenden Sektkühler und die ge¬
füllten Römer vor mir; und ich trank ein Glas Wasser, um dieses grausam-schöne
Bild zu verscheuchen. Nachher fand ich lange keinen Schlaf und wälzte mich
mit wirren Gedanken umher. Ich fragte pries mich, wie Sie vorhin: Wohin
soll das noch führen?


Grenzboten I 1910 15
kehrertrcigödie»

die Keime der Zukunft geknickt haben. Denn auf uns baut die Welt' schloß er, mit
Helden-Pathos an seine Brust schlagend, .und die Jugend hat immer recht!'

„Da ich noch immer die Maulsperre hatte, fuhr der Jüngling in ver¬
änderter Tonlage so in der Mitte zwischen Marquis Posa und Mephisto —
fort: .Sollte aber auch das an Ihrem verknöcherten Paukergemüt abprallen,
oder sollten Sie teuflische Mittel finden, unsern Freiheitsplau zu vereiteln, so
steht uus noch anderes offen. Wir lassen uns interviewen, veröffentlichen unsere
Tagebücher, brandmarken Sie und Ihr ganzes kapitalistisches Wuchererunter-
nchmcn durch eine Flucht in die Öffentlichkeit, so daß kein Hund ein Stück Brot
von Ihnen nimmt. . . . Und im Notfalle' — hier blitzten die Augen des
Scholaren, während er aus seiner Hosentasche eine Pistole zog, die zum Glück
nur aus Schokolade war, .werden wir uns den Weg ins Land der Freiheit
hiermit bahnen — ultima ratio oppressi . . .'

„In diesem Moment trat der Direktor dazwischen. Ich hatte sein Kommen
in meiner Verblüffung nicht bemerkt; wahrscheinlich hatte er dem erschütternden
Austritt schon eine Weile beigewohnt. Jetzt fiel er dem Todeskandidaten in den
Arm und dann um den Hals und sprach tiefcrregt auf ihn ein, wie ein Vater,
der seinen Liebling bereden will, so mild und honigsüß, wie ich ihn nie habe
reden hören. Der Jüngling jedoch titulierte ihn .Alte Mumie' und suchte sich
aus seiner lästigen Umarmung loszureißen, um die hingefallene Schokoladen-
Pistole aufzuheben.

„Schließlich ergriff er sie, knabberte die Spitze davon ab und sagte in einem
Anfall von Milde, während er dem Direktor seine Tintenfinger hinhielt: >Na
meinetwegen, alter Knaster, wir wollen uns diesmal noch vertragen!' Und
der Direktor zog ihn gerührt in die Ecke am Aktenschrank, nötigte ihn auf das
Sofa, auf dem er sonst dem Lehrerkolleg präsidierte, und nahm aus dem Schranke
— ich traute meinen Augen nicht — eine Flasche alten Rheinweins, um den
Bund zu besiegeln. Sie stand in einem Sektkühler, der von klaren Wasser-
tropfen schwitzte; ich habe dieses Kneipgerät dort bisher nie geahnt: es war die
ultima ratio rectoris. . . . Dann bot er ihm eine Havanna mit Leibbinde
an; doch der Jüngling wies sie schroff zurück, weil er sie nicht vertragen könnte,
und fuhr fort, seine Schokoladenpistole aufzulutschen, wie die Rothäute ihr Kriegs¬
beil begraben. . . . Schließlich setzte er sich dem Direktor auf den Schoß und
küßte ihn weinselig mit seinen Schokoladenlippen. ... Es versteht sich, daß
ich bei alldem staute peelo zusehen mußte und nichts abbekam; das war die
Strafe für meine Verstocktheit. . . .

„Ich wachte durstgepeinigt auf; es war aber nur der Nachdurst von unserm
Kommers; trotzdem sah ich immer noch den perlenden Sektkühler und die ge¬
füllten Römer vor mir; und ich trank ein Glas Wasser, um dieses grausam-schöne
Bild zu verscheuchen. Nachher fand ich lange keinen Schlaf und wälzte mich
mit wirren Gedanken umher. Ich fragte pries mich, wie Sie vorhin: Wohin
soll das noch führen?


Grenzboten I 1910 15
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[0125] kehrertrcigödie» die Keime der Zukunft geknickt haben. Denn auf uns baut die Welt' schloß er, mit Helden-Pathos an seine Brust schlagend, .und die Jugend hat immer recht!' „Da ich noch immer die Maulsperre hatte, fuhr der Jüngling in ver¬ änderter Tonlage so in der Mitte zwischen Marquis Posa und Mephisto — fort: .Sollte aber auch das an Ihrem verknöcherten Paukergemüt abprallen, oder sollten Sie teuflische Mittel finden, unsern Freiheitsplau zu vereiteln, so steht uus noch anderes offen. Wir lassen uns interviewen, veröffentlichen unsere Tagebücher, brandmarken Sie und Ihr ganzes kapitalistisches Wuchererunter- nchmcn durch eine Flucht in die Öffentlichkeit, so daß kein Hund ein Stück Brot von Ihnen nimmt. . . . Und im Notfalle' — hier blitzten die Augen des Scholaren, während er aus seiner Hosentasche eine Pistole zog, die zum Glück nur aus Schokolade war, .werden wir uns den Weg ins Land der Freiheit hiermit bahnen — ultima ratio oppressi . . .' „In diesem Moment trat der Direktor dazwischen. Ich hatte sein Kommen in meiner Verblüffung nicht bemerkt; wahrscheinlich hatte er dem erschütternden Austritt schon eine Weile beigewohnt. Jetzt fiel er dem Todeskandidaten in den Arm und dann um den Hals und sprach tiefcrregt auf ihn ein, wie ein Vater, der seinen Liebling bereden will, so mild und honigsüß, wie ich ihn nie habe reden hören. Der Jüngling jedoch titulierte ihn .Alte Mumie' und suchte sich aus seiner lästigen Umarmung loszureißen, um die hingefallene Schokoladen- Pistole aufzuheben. „Schließlich ergriff er sie, knabberte die Spitze davon ab und sagte in einem Anfall von Milde, während er dem Direktor seine Tintenfinger hinhielt: >Na meinetwegen, alter Knaster, wir wollen uns diesmal noch vertragen!' Und der Direktor zog ihn gerührt in die Ecke am Aktenschrank, nötigte ihn auf das Sofa, auf dem er sonst dem Lehrerkolleg präsidierte, und nahm aus dem Schranke — ich traute meinen Augen nicht — eine Flasche alten Rheinweins, um den Bund zu besiegeln. Sie stand in einem Sektkühler, der von klaren Wasser- tropfen schwitzte; ich habe dieses Kneipgerät dort bisher nie geahnt: es war die ultima ratio rectoris. . . . Dann bot er ihm eine Havanna mit Leibbinde an; doch der Jüngling wies sie schroff zurück, weil er sie nicht vertragen könnte, und fuhr fort, seine Schokoladenpistole aufzulutschen, wie die Rothäute ihr Kriegs¬ beil begraben. . . . Schließlich setzte er sich dem Direktor auf den Schoß und küßte ihn weinselig mit seinen Schokoladenlippen. ... Es versteht sich, daß ich bei alldem staute peelo zusehen mußte und nichts abbekam; das war die Strafe für meine Verstocktheit. . . . „Ich wachte durstgepeinigt auf; es war aber nur der Nachdurst von unserm Kommers; trotzdem sah ich immer noch den perlenden Sektkühler und die ge¬ füllten Römer vor mir; und ich trank ein Glas Wasser, um dieses grausam-schöne Bild zu verscheuchen. Nachher fand ich lange keinen Schlaf und wälzte mich mit wirren Gedanken umher. Ich fragte pries mich, wie Sie vorhin: Wohin soll das noch führen? Grenzboten I 1910 15

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/125>, abgerufen am 24.07.2024.