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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Lehrertragödie"

Unterdrückung aller Menschenrechte, Mord aller Individualitäten und als Folge
davon Selbstmordepidemien. . . Nur die feige Masse, die sich sklavisch der
Zuchtrute beugt, übersteht diese Prozeduren, aber geistig und moralisch gebrochen,
während die höheren Geister, das Salz der Erde, zugrunde gehen. Selbst Ge¬
lehrte fangen schon an, in diese Kerbe zu hauen, und was noch schlimmer ist:
das Publikum glaubt das und hält unsereins für Tyrannen und Büttel."

Der Professor Römer hatte manchmal das Bedürfnis, sich seiner Galle zu
erleichtern. Er war mit dem Idealismus und der Liebe eines geborenen Lehrers
in seinen Beruf getreten, aber durch allerlei MißHelligkeiten verbittert worden
und wünschte sich jetzt oft im stillen, noch unisatteln zu können, wenn das in
seinen Jahren mit Frau und Kindern nur noch gegangen wäre!

"Diese romantische Auflehnung gegen die Schulzucht," begütigte der Ober¬
lehrer, ein jüngerer unverheirateter Mann mit strohblonden: Schnurrbart und
trockenem Witz, "ist ein allgemeines Zeichen der Zeit, die überall die Partei der
Extreme gegen die Mittelmäßigkeit' nimmt. Es ist in der Kunst so, in der
Ethik; überall die kraftvollen, reizsamen Persönlichkeiten, wie Kollege Lamprecht
sie nennt, die nervösen Titanen, die der bourgeoisen Moral spotten ^und ihre
Hausmiete nicht bezahlen..."

"Ja, aber wo soll das enden?" platzte der Professor heraus. "Schlie߬
lich muß sich unsereins noch schämen, daß er nicht ebenso verstiegen ist, und vor
der Gesellschaft ins Mauseloch kriechen..."

"Dann kommt vielleicht die Reaktion des Gesunden und Normalen," sagte
der Oberlehrer, seinen goldnen Kneifer zurechtsetzend, "und bringt das gute Ge¬
wissen wieder auf ihre Seite. Die Menge bewegt sich ja stets zwischen Gegensätzen.
Man wird dann vermutlich von Eltern- und Lehrertragödien lesen und sie auf
die Bühne bringen: vom unglücklichen Vater, der seinem Sprößling gegenüber
absolut keine Rechte, sondern nur Pflichten hat, während dieser das Recht auf
Persönlichkeit, Selbstbestimmung und natürlich auch das Recht auf das dazu
gehörige Kleingeld hat. Oder die Tragödie von dem unglücklichen Lehrer, der
fortwährend zarte Rücksicht auf das Ich seiner Schüler nehmen muß, während
diese sich in voller Freiheit ausleben dürfen."

Der Professor hörte mit ingrimmigen Lächeln zu. "Es ist ja heute
bereits so weit," nickte er, "daß man in Privatschulen keinen mehr sitzen läßt,
sei er noch so faul oder dumm, nur weil die sitzengebliebenen auf andre Schulen
abwandern, wo man weniger verlangt, so daß also schließlich das ganze Unter¬
nehmen zu verkrachen droht. Na, und wir auf den: Gymnasium, wir wagen
die Bengels doch auch kaum mehr zu rügen oder ihnen schlechte Zensuren zu
geben, damit sich nur keiner totschießt oder aufhängt und uns damit auch einen
Strick dreht, an dem man sich dann am liebsten selber aufhinge!"

Der Oberlehrer zwinkerte hinter feinen Brillengläsern mit schalkhaften
Äuglein, als freute er sich diebisch. "Kennen Sie nicht die schöne Geschichte
.aus dem Tagebuche der Goncourts," fragte er launig, "von einem Theater in


Lehrertragödie»

Unterdrückung aller Menschenrechte, Mord aller Individualitäten und als Folge
davon Selbstmordepidemien. . . Nur die feige Masse, die sich sklavisch der
Zuchtrute beugt, übersteht diese Prozeduren, aber geistig und moralisch gebrochen,
während die höheren Geister, das Salz der Erde, zugrunde gehen. Selbst Ge¬
lehrte fangen schon an, in diese Kerbe zu hauen, und was noch schlimmer ist:
das Publikum glaubt das und hält unsereins für Tyrannen und Büttel."

Der Professor Römer hatte manchmal das Bedürfnis, sich seiner Galle zu
erleichtern. Er war mit dem Idealismus und der Liebe eines geborenen Lehrers
in seinen Beruf getreten, aber durch allerlei MißHelligkeiten verbittert worden
und wünschte sich jetzt oft im stillen, noch unisatteln zu können, wenn das in
seinen Jahren mit Frau und Kindern nur noch gegangen wäre!

„Diese romantische Auflehnung gegen die Schulzucht," begütigte der Ober¬
lehrer, ein jüngerer unverheirateter Mann mit strohblonden: Schnurrbart und
trockenem Witz, „ist ein allgemeines Zeichen der Zeit, die überall die Partei der
Extreme gegen die Mittelmäßigkeit' nimmt. Es ist in der Kunst so, in der
Ethik; überall die kraftvollen, reizsamen Persönlichkeiten, wie Kollege Lamprecht
sie nennt, die nervösen Titanen, die der bourgeoisen Moral spotten ^und ihre
Hausmiete nicht bezahlen..."

„Ja, aber wo soll das enden?" platzte der Professor heraus. „Schlie߬
lich muß sich unsereins noch schämen, daß er nicht ebenso verstiegen ist, und vor
der Gesellschaft ins Mauseloch kriechen..."

„Dann kommt vielleicht die Reaktion des Gesunden und Normalen," sagte
der Oberlehrer, seinen goldnen Kneifer zurechtsetzend, „und bringt das gute Ge¬
wissen wieder auf ihre Seite. Die Menge bewegt sich ja stets zwischen Gegensätzen.
Man wird dann vermutlich von Eltern- und Lehrertragödien lesen und sie auf
die Bühne bringen: vom unglücklichen Vater, der seinem Sprößling gegenüber
absolut keine Rechte, sondern nur Pflichten hat, während dieser das Recht auf
Persönlichkeit, Selbstbestimmung und natürlich auch das Recht auf das dazu
gehörige Kleingeld hat. Oder die Tragödie von dem unglücklichen Lehrer, der
fortwährend zarte Rücksicht auf das Ich seiner Schüler nehmen muß, während
diese sich in voller Freiheit ausleben dürfen."

Der Professor hörte mit ingrimmigen Lächeln zu. „Es ist ja heute
bereits so weit," nickte er, „daß man in Privatschulen keinen mehr sitzen läßt,
sei er noch so faul oder dumm, nur weil die sitzengebliebenen auf andre Schulen
abwandern, wo man weniger verlangt, so daß also schließlich das ganze Unter¬
nehmen zu verkrachen droht. Na, und wir auf den: Gymnasium, wir wagen
die Bengels doch auch kaum mehr zu rügen oder ihnen schlechte Zensuren zu
geben, damit sich nur keiner totschießt oder aufhängt und uns damit auch einen
Strick dreht, an dem man sich dann am liebsten selber aufhinge!"

Der Oberlehrer zwinkerte hinter feinen Brillengläsern mit schalkhaften
Äuglein, als freute er sich diebisch. „Kennen Sie nicht die schöne Geschichte
.aus dem Tagebuche der Goncourts," fragte er launig, „von einem Theater in


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[0122] Lehrertragödie» Unterdrückung aller Menschenrechte, Mord aller Individualitäten und als Folge davon Selbstmordepidemien. . . Nur die feige Masse, die sich sklavisch der Zuchtrute beugt, übersteht diese Prozeduren, aber geistig und moralisch gebrochen, während die höheren Geister, das Salz der Erde, zugrunde gehen. Selbst Ge¬ lehrte fangen schon an, in diese Kerbe zu hauen, und was noch schlimmer ist: das Publikum glaubt das und hält unsereins für Tyrannen und Büttel." Der Professor Römer hatte manchmal das Bedürfnis, sich seiner Galle zu erleichtern. Er war mit dem Idealismus und der Liebe eines geborenen Lehrers in seinen Beruf getreten, aber durch allerlei MißHelligkeiten verbittert worden und wünschte sich jetzt oft im stillen, noch unisatteln zu können, wenn das in seinen Jahren mit Frau und Kindern nur noch gegangen wäre! „Diese romantische Auflehnung gegen die Schulzucht," begütigte der Ober¬ lehrer, ein jüngerer unverheirateter Mann mit strohblonden: Schnurrbart und trockenem Witz, „ist ein allgemeines Zeichen der Zeit, die überall die Partei der Extreme gegen die Mittelmäßigkeit' nimmt. Es ist in der Kunst so, in der Ethik; überall die kraftvollen, reizsamen Persönlichkeiten, wie Kollege Lamprecht sie nennt, die nervösen Titanen, die der bourgeoisen Moral spotten ^und ihre Hausmiete nicht bezahlen..." „Ja, aber wo soll das enden?" platzte der Professor heraus. „Schlie߬ lich muß sich unsereins noch schämen, daß er nicht ebenso verstiegen ist, und vor der Gesellschaft ins Mauseloch kriechen..." „Dann kommt vielleicht die Reaktion des Gesunden und Normalen," sagte der Oberlehrer, seinen goldnen Kneifer zurechtsetzend, „und bringt das gute Ge¬ wissen wieder auf ihre Seite. Die Menge bewegt sich ja stets zwischen Gegensätzen. Man wird dann vermutlich von Eltern- und Lehrertragödien lesen und sie auf die Bühne bringen: vom unglücklichen Vater, der seinem Sprößling gegenüber absolut keine Rechte, sondern nur Pflichten hat, während dieser das Recht auf Persönlichkeit, Selbstbestimmung und natürlich auch das Recht auf das dazu gehörige Kleingeld hat. Oder die Tragödie von dem unglücklichen Lehrer, der fortwährend zarte Rücksicht auf das Ich seiner Schüler nehmen muß, während diese sich in voller Freiheit ausleben dürfen." Der Professor hörte mit ingrimmigen Lächeln zu. „Es ist ja heute bereits so weit," nickte er, „daß man in Privatschulen keinen mehr sitzen läßt, sei er noch so faul oder dumm, nur weil die sitzengebliebenen auf andre Schulen abwandern, wo man weniger verlangt, so daß also schließlich das ganze Unter¬ nehmen zu verkrachen droht. Na, und wir auf den: Gymnasium, wir wagen die Bengels doch auch kaum mehr zu rügen oder ihnen schlechte Zensuren zu geben, damit sich nur keiner totschießt oder aufhängt und uns damit auch einen Strick dreht, an dem man sich dann am liebsten selber aufhinge!" Der Oberlehrer zwinkerte hinter feinen Brillengläsern mit schalkhaften Äuglein, als freute er sich diebisch. „Kennen Sie nicht die schöne Geschichte .aus dem Tagebuche der Goncourts," fragte er launig, „von einem Theater in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/122>, abgerufen am 24.07.2024.