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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Lehrcrtragödien

dauernden Aufschwung. Das Schauspielhaus ist am entschiedensten dazu be¬
rufen, Abhilfe zu schaffen, und es wäre unverzeihlich, wenn es auf die biblische
Frage: Was will das werden? keine zufriedenstellende Antwort wüßte. Es
gibt allerdings Hasenfüße, die fürchten, daß auch die besten Vorschläge nichts
nützen, weil schließlich doch alles beim alten bleiben werde. Wer kann aber
behaupten, daß ein gutes Wort, zur rechten Zeit warm und überzeugend ge¬
sprochen, keinen Widerhall finde? "Ich werde mich wiederholen," meinte
Voltaire, "bis ihr euch bessert!" Man verlange nur das Angemessene und
Notwendige, Nützliche und Erfreuliche mit überzeugenden Gründen immer
wieder, bis entweder in der zähen Masse von selbst Bewegung eintritt oder
der lenkbare Teil des Publikums die Forderung der berechtigten Kritik zu
seiner eigenen macht. Im Berliner Schauspielhause steckt mit seiner Überlieferung,
seinen szenischen Mitteln und seiner wenn auch arg zusammengeschmolzenen
Künstlerschar immer noch eine Fülle von Lebenskraft, in die man nur kräftig
hineinzublasen braucht, um sie von neuem anzufeuern. Der Generalintendant
sollte es sich mit seinem Dramaturgen ernsthaft vergegenwärtigen, was gerade
jetzt für ihn und uns auf dem Spiel steht, wie viel an Vorsätzen, Anläufen
und Erfolgen erreicht werden kann, wenn er die Augen offen behält, und was
möglicherweise unwiederbringlich versäumt wird, wenn er wieder einnicken
sollte. Dann würden eben andere dafür sorgen müssen, daß Berlin die erste
Theaterstadt der Welt bleibt.




Lehrertragödien
Der Trcimn eines Oberlehrers
von Friedrich von Oppeln Bronikowski

N"^.-^ o°r..°.o..


Kiclencio ciieers severum

chon wieder ein Schülerselbstmord!" brummte der Gymnasial-
professor Römer in seinen ergrauenden Vollbart hinein und schlug
mit der Hand auf den Biertisch. Und während er mit seinem
gewohnten Stirnrunzeln die Gründe dieses Dramas in der Zeitung
verfolgte, neigte sich sein jüngerer Kollege, der Oberlehrer Haus¬
mann, über seinen Arm und begann die Notiz mitzulesen. Plötzlich warf der
Professor das Blätterpaket unwirsch auf einen leeren Stuhl, so daß der
hölzerne Halter laut aufschlug, und sagte ergrimmt!-

"Wenn man da?' so liest, sollte man meinen, unsre höheren Blldungs
w'statten ständen ans eiuer Stufe mit russischen Kerkern: Geistesfolter, brutale


Lehrcrtragödien

dauernden Aufschwung. Das Schauspielhaus ist am entschiedensten dazu be¬
rufen, Abhilfe zu schaffen, und es wäre unverzeihlich, wenn es auf die biblische
Frage: Was will das werden? keine zufriedenstellende Antwort wüßte. Es
gibt allerdings Hasenfüße, die fürchten, daß auch die besten Vorschläge nichts
nützen, weil schließlich doch alles beim alten bleiben werde. Wer kann aber
behaupten, daß ein gutes Wort, zur rechten Zeit warm und überzeugend ge¬
sprochen, keinen Widerhall finde? „Ich werde mich wiederholen," meinte
Voltaire, „bis ihr euch bessert!" Man verlange nur das Angemessene und
Notwendige, Nützliche und Erfreuliche mit überzeugenden Gründen immer
wieder, bis entweder in der zähen Masse von selbst Bewegung eintritt oder
der lenkbare Teil des Publikums die Forderung der berechtigten Kritik zu
seiner eigenen macht. Im Berliner Schauspielhause steckt mit seiner Überlieferung,
seinen szenischen Mitteln und seiner wenn auch arg zusammengeschmolzenen
Künstlerschar immer noch eine Fülle von Lebenskraft, in die man nur kräftig
hineinzublasen braucht, um sie von neuem anzufeuern. Der Generalintendant
sollte es sich mit seinem Dramaturgen ernsthaft vergegenwärtigen, was gerade
jetzt für ihn und uns auf dem Spiel steht, wie viel an Vorsätzen, Anläufen
und Erfolgen erreicht werden kann, wenn er die Augen offen behält, und was
möglicherweise unwiederbringlich versäumt wird, wenn er wieder einnicken
sollte. Dann würden eben andere dafür sorgen müssen, daß Berlin die erste
Theaterstadt der Welt bleibt.




Lehrertragödien
Der Trcimn eines Oberlehrers
von Friedrich von Oppeln Bronikowski

N«^.-^ o°r..°.o..


Kiclencio ciieers severum

chon wieder ein Schülerselbstmord!" brummte der Gymnasial-
professor Römer in seinen ergrauenden Vollbart hinein und schlug
mit der Hand auf den Biertisch. Und während er mit seinem
gewohnten Stirnrunzeln die Gründe dieses Dramas in der Zeitung
verfolgte, neigte sich sein jüngerer Kollege, der Oberlehrer Haus¬
mann, über seinen Arm und begann die Notiz mitzulesen. Plötzlich warf der
Professor das Blätterpaket unwirsch auf einen leeren Stuhl, so daß der
hölzerne Halter laut aufschlug, und sagte ergrimmt!-

„Wenn man da?' so liest, sollte man meinen, unsre höheren Blldungs
w'statten ständen ans eiuer Stufe mit russischen Kerkern: Geistesfolter, brutale


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[0121] Lehrcrtragödien dauernden Aufschwung. Das Schauspielhaus ist am entschiedensten dazu be¬ rufen, Abhilfe zu schaffen, und es wäre unverzeihlich, wenn es auf die biblische Frage: Was will das werden? keine zufriedenstellende Antwort wüßte. Es gibt allerdings Hasenfüße, die fürchten, daß auch die besten Vorschläge nichts nützen, weil schließlich doch alles beim alten bleiben werde. Wer kann aber behaupten, daß ein gutes Wort, zur rechten Zeit warm und überzeugend ge¬ sprochen, keinen Widerhall finde? „Ich werde mich wiederholen," meinte Voltaire, „bis ihr euch bessert!" Man verlange nur das Angemessene und Notwendige, Nützliche und Erfreuliche mit überzeugenden Gründen immer wieder, bis entweder in der zähen Masse von selbst Bewegung eintritt oder der lenkbare Teil des Publikums die Forderung der berechtigten Kritik zu seiner eigenen macht. Im Berliner Schauspielhause steckt mit seiner Überlieferung, seinen szenischen Mitteln und seiner wenn auch arg zusammengeschmolzenen Künstlerschar immer noch eine Fülle von Lebenskraft, in die man nur kräftig hineinzublasen braucht, um sie von neuem anzufeuern. Der Generalintendant sollte es sich mit seinem Dramaturgen ernsthaft vergegenwärtigen, was gerade jetzt für ihn und uns auf dem Spiel steht, wie viel an Vorsätzen, Anläufen und Erfolgen erreicht werden kann, wenn er die Augen offen behält, und was möglicherweise unwiederbringlich versäumt wird, wenn er wieder einnicken sollte. Dann würden eben andere dafür sorgen müssen, daß Berlin die erste Theaterstadt der Welt bleibt. Lehrertragödien Der Trcimn eines Oberlehrers von Friedrich von Oppeln Bronikowski N«^.-^ o°r..°.o.. Kiclencio ciieers severum chon wieder ein Schülerselbstmord!" brummte der Gymnasial- professor Römer in seinen ergrauenden Vollbart hinein und schlug mit der Hand auf den Biertisch. Und während er mit seinem gewohnten Stirnrunzeln die Gründe dieses Dramas in der Zeitung verfolgte, neigte sich sein jüngerer Kollege, der Oberlehrer Haus¬ mann, über seinen Arm und begann die Notiz mitzulesen. Plötzlich warf der Professor das Blätterpaket unwirsch auf einen leeren Stuhl, so daß der hölzerne Halter laut aufschlug, und sagte ergrimmt!- „Wenn man da?' so liest, sollte man meinen, unsre höheren Blldungs w'statten ständen ans eiuer Stufe mit russischen Kerkern: Geistesfolter, brutale

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/121>, abgerufen am 21.12.2024.