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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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eine,: Strick daraus drehen, daß ein Abgeordneter von ihm versehentlich eine
französische Visitenkarte erhalten hat. Das; die Sache überhaupt an die große Glocke
gebracht worden ist, spricht zunächst nicht für den Blick und die Weltkenntnis des
beteiligten Abgeordneten, der noch dazu zu den parlamentarischen Führern gehört.
Er konnte wissen, daß ein Mann, der amtlich und gesellschaftlich mit dem
diplomatischen Korps und deu Regierungen aller Länder der Erde zu Verkehren
hat, französische Visitenkarten führen muß, und daß hier ein einfaches Versehen
eines Dieners vorlag. Die verschiedensten Zeitungen haben sich nun über diese
alberne Geschichte aufgeregt, und Leute, die augenscheinlich überhaupt keine Ahnung
von diesen Verhältnissen haben, schickten Zuschriften an ihre Zeitungen mit Beiträgen
von ähnlichen Fällen "undeutschen" Verhaltens, die aber zu diesem Fall gar nicht
paßten. Wir wollen unsrerseits diese Beispiele um eins vermehren; die Visiten¬
karte des Fürsten Bismarck, die er an fremde Diplomaten schickte, lautete: "Le
?rinLe Otliori nie IZismarLk, Luancelier nie l'Empire ^Ilemancl."
Gewiß kann man gelegentlich Erwägungen darüber anstellen, ob es vielleicht jetzt
angebracht wäre, im diplomatischen Verkehr dem englischen Beispiel zu folgen;
die Engländer setzen sich bekanntlich vielfach über den Gebrauch des Frcmzösichen
als internationale Diplomatensprache hinweg und bedienen sich ihrer Mutter¬
sprache. Erwägungen solcher Art sind Fragen der Praxis und können durchaus
unabhängig von den Rücksichten, auf die uns das nationale Selbstbewußtsein
und die Liebe zu unserer Muttersprache hinweist, angestellt werden. In jedem
Falle aber ist es ein schweres Unrecht, einem einzelnen Beamten einen
seine nationale Gesinnung anzweifelnden Vorwurf daraus zu machen, daß
er sich einem feststehenden Gebrauch nicht eigenmächtig entzieht. Man
muß bei einer mit so kleinlichen Mitteln betriebenen Hetze auf den Gedanken
kommen, daß den Zeitungen, die sich ihrerseits ohne Zweifel in guter Absicht dazu
hergegeben haben, dieses Material von Leuten zugetragen worden ist, die bewußt
oder unbewußt die Werkzeuge einer persönlichen Intrige sind. Diese Intrige
benutzt die gute Gelegenheit des zufälligen Zusammentreffens von einigen Fällen,
in denen bei der schlecht unterrichteten öffentlichen Meinung der Schein gegen den
Staatssekretär spricht. Das Fieber, das einen Teil der Presse ergriffen zu haben
scheint, streift nachgerade die Grenze des Komischen. Hat doch neuerdings sogar
ein Blatt, von dem man es nicht vermuten sollte, plötzlich daran Anstoß genommen,
daß Freiherr von Schoen ein Schreiben in Vertretung des preußischen Ministers
der auswärtigen Angelegenheiten -- des Herrn v. Bethmann Hollweg -- unter¬
zeichnet hat, obwohl es seit Bestehen des Auswärtigen Amts immer so gehandhabt
worden ist, daß der Staatssekretär dieses Reichsamts auch die Angelegenheiten des
entsprechenden preußischen Ministeriums in Vertretung des Ministers wahrnimmt:
das ist sogar durch ausdrückliche Vereinbarung zwischen beiden Behörden fest
geregelt.

Die Angelegenheit, die zu der erwähnten Kritik Anlaß gegeben hat, ist die
Beschlagnahme russischer Depots bei einem Berliner^ Bankhause auf Antrag
des Hauptmanns a. D. v. Hellfeld, der einen Anspruch an den russischen Staat
erhoben und ihn durch Herbeiführung eines Richterspruchs erstritten hatte. Der
interessante Rechtsfall hat eine ungeheure Zahl von Gutachten rechtswissenschaft¬
licher Autoritäten in der Presse hervorgerufen; daß dadurch die Sache klarer wird,
läßt sich nicht behaupten. Wenn man die Lage kennzeichnen will, so könnte mau
vielleicht folgendes sagen: Es sind zwei nicht ganz leicht zu vereinigende Interessen
wahrzunehmen. Auf der einen Seite besteht das dringende Interesse, vermögens¬
rechtliche Ansprüche eines deutschen Reichsangehörigen, die durch einen deutschen


Grenzboten l 1910 12

eine,: Strick daraus drehen, daß ein Abgeordneter von ihm versehentlich eine
französische Visitenkarte erhalten hat. Das; die Sache überhaupt an die große Glocke
gebracht worden ist, spricht zunächst nicht für den Blick und die Weltkenntnis des
beteiligten Abgeordneten, der noch dazu zu den parlamentarischen Führern gehört.
Er konnte wissen, daß ein Mann, der amtlich und gesellschaftlich mit dem
diplomatischen Korps und deu Regierungen aller Länder der Erde zu Verkehren
hat, französische Visitenkarten führen muß, und daß hier ein einfaches Versehen
eines Dieners vorlag. Die verschiedensten Zeitungen haben sich nun über diese
alberne Geschichte aufgeregt, und Leute, die augenscheinlich überhaupt keine Ahnung
von diesen Verhältnissen haben, schickten Zuschriften an ihre Zeitungen mit Beiträgen
von ähnlichen Fällen „undeutschen" Verhaltens, die aber zu diesem Fall gar nicht
paßten. Wir wollen unsrerseits diese Beispiele um eins vermehren; die Visiten¬
karte des Fürsten Bismarck, die er an fremde Diplomaten schickte, lautete: „Le
?rinLe Otliori nie IZismarLk, Luancelier nie l'Empire ^Ilemancl."
Gewiß kann man gelegentlich Erwägungen darüber anstellen, ob es vielleicht jetzt
angebracht wäre, im diplomatischen Verkehr dem englischen Beispiel zu folgen;
die Engländer setzen sich bekanntlich vielfach über den Gebrauch des Frcmzösichen
als internationale Diplomatensprache hinweg und bedienen sich ihrer Mutter¬
sprache. Erwägungen solcher Art sind Fragen der Praxis und können durchaus
unabhängig von den Rücksichten, auf die uns das nationale Selbstbewußtsein
und die Liebe zu unserer Muttersprache hinweist, angestellt werden. In jedem
Falle aber ist es ein schweres Unrecht, einem einzelnen Beamten einen
seine nationale Gesinnung anzweifelnden Vorwurf daraus zu machen, daß
er sich einem feststehenden Gebrauch nicht eigenmächtig entzieht. Man
muß bei einer mit so kleinlichen Mitteln betriebenen Hetze auf den Gedanken
kommen, daß den Zeitungen, die sich ihrerseits ohne Zweifel in guter Absicht dazu
hergegeben haben, dieses Material von Leuten zugetragen worden ist, die bewußt
oder unbewußt die Werkzeuge einer persönlichen Intrige sind. Diese Intrige
benutzt die gute Gelegenheit des zufälligen Zusammentreffens von einigen Fällen,
in denen bei der schlecht unterrichteten öffentlichen Meinung der Schein gegen den
Staatssekretär spricht. Das Fieber, das einen Teil der Presse ergriffen zu haben
scheint, streift nachgerade die Grenze des Komischen. Hat doch neuerdings sogar
ein Blatt, von dem man es nicht vermuten sollte, plötzlich daran Anstoß genommen,
daß Freiherr von Schoen ein Schreiben in Vertretung des preußischen Ministers
der auswärtigen Angelegenheiten — des Herrn v. Bethmann Hollweg — unter¬
zeichnet hat, obwohl es seit Bestehen des Auswärtigen Amts immer so gehandhabt
worden ist, daß der Staatssekretär dieses Reichsamts auch die Angelegenheiten des
entsprechenden preußischen Ministeriums in Vertretung des Ministers wahrnimmt:
das ist sogar durch ausdrückliche Vereinbarung zwischen beiden Behörden fest
geregelt.

Die Angelegenheit, die zu der erwähnten Kritik Anlaß gegeben hat, ist die
Beschlagnahme russischer Depots bei einem Berliner^ Bankhause auf Antrag
des Hauptmanns a. D. v. Hellfeld, der einen Anspruch an den russischen Staat
erhoben und ihn durch Herbeiführung eines Richterspruchs erstritten hatte. Der
interessante Rechtsfall hat eine ungeheure Zahl von Gutachten rechtswissenschaft¬
licher Autoritäten in der Presse hervorgerufen; daß dadurch die Sache klarer wird,
läßt sich nicht behaupten. Wenn man die Lage kennzeichnen will, so könnte mau
vielleicht folgendes sagen: Es sind zwei nicht ganz leicht zu vereinigende Interessen
wahrzunehmen. Auf der einen Seite besteht das dringende Interesse, vermögens¬
rechtliche Ansprüche eines deutschen Reichsangehörigen, die durch einen deutschen


Grenzboten l 1910 12
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/101>, abgerufen am 22.12.2024.