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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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wie retten wir unsre alten Volkslieder?

lassen. So ist heute den Kaufleuten aller Bildungsgrade die Möglichkeit einer
gründlichen theoretischen Ausbildung gegeben, ähnlich wie den Angehörigen
der technischen Berufe, denen in gleicher Stufenfolge Gewerbeschule, Technikum
und technische Hochschule zur Verfügung stehn -- freilich mit dem Unterschiede,
daß die Angehörigen der technischen Berufe die Notwendigkeit einer theoretischen
Ausbildung längst erkannt haben und sich diese Bildung in der Regel aneignen,
während beim Kaufmann dies heute leider noch zur Ausnahme gehört.




Wie retten wir unsre alten Volkslieder?

! oller wir uns trösten mit den Worten der "Rauie" und es für
unvermeidlich ansehen, "daß das Schöne vergeht, daß das Voll-
kommne stirbt"? Denn daß etwas köstlich Schönes, Unwieder¬
bringliches im Begriff ist zu sterben, das müssen wir uns klar
machen. Die alten Volkslieder, die echten und schönsten singt
!das Volk nicht mehr, weil es sie nicht mehr kennt. Wohl sind
die Texte und Melodien gesammelt, und an Abhandlungen über ihren Wert
und ihre Eigentümlichkeiten fehlt es nicht, in Bibliotheken ist uns dieser
mumifizierte Teil erhalten, aber darum sind sie doch tot, ganz tot, wenn
das Volk sie nicht mehr singt.

Als in den siebziger Jahren die "onde Port" in Leiden, eins der schönsten
alten Stadttore, auf Befehl des Stadtrats niedergerissen wurde (angeblich
wegen Baufälligkeit), erhob sich unter den Kunstverständigen und Altertums¬
kennern Hollands ein Sturm der Entrüstung. Doch das Stadtoberhaupt wußte
dem durch die überlegne Erklärung zu begegnen, im Stadtmuseum befände sich
eine ganz vorzügliche Photographie der "vnden Port", deren Gestalt damit für
alle Liebhaber dauernd festgehalten sei, und aller Entrüstungslärm sei füglich
unnütz. Der gute Mann! Er hatte ja eigentlich so recht!

Das Volk singt noch Volkslieder! wird mir oft entgegengehalten, hören
Sie es denn nicht? Da -- zum Beispiel "Ich weiß nicht, was soll es bedeuten!"
Jawohl, das singen sie noch. Das und vielleicht drei oder vier andre, wie
"Goldne Abendsonne", "Am Brunnen vor dem Tore", "Sah ein Knab ein
Röslein stehn", "Wohlauf, noch getrunken" und in etwas "bessern" Kreisen
"Santa Lucia". Wohl gemerkt, alle sechs keine "echten" Volkslieder.

Aber hat vielleicht das Volk eine Auswahl getroffen und nur beibehalten,
was ihm am schönsten scheint -- eine Auswahl, die darum ihre Berechtigung
hat? Ich zweifle. Das Volk zeigt seine Herdennatur, es singt, was es singen
hört, und was es am meisten hört, mit Vorliebe. Der großen Masse muß sich
ein Lied ja schon recht ins Ohr hämmern, um populär zu werden. Nun sind
der Gelegenheiten zum Gemeinsamsingen auch nicht mehr so viele wie früher,
die dörflichen Zusammenkünfte unter der Linde und auf der Dorfstraße tragen
ein andres Gepräge, und die Kunkelstuben sind vergessen. Heutzutage kommt
man im Wirtshaus zusammen, und das ist nicht der Platz für die alten
schlichten innigen Lieder , die die stille Nachtluft wollen und den rauschenden
Röhrbrunnen. Sind dann am warmen Sommerabend ein paar Menschen einmal


wie retten wir unsre alten Volkslieder?

lassen. So ist heute den Kaufleuten aller Bildungsgrade die Möglichkeit einer
gründlichen theoretischen Ausbildung gegeben, ähnlich wie den Angehörigen
der technischen Berufe, denen in gleicher Stufenfolge Gewerbeschule, Technikum
und technische Hochschule zur Verfügung stehn — freilich mit dem Unterschiede,
daß die Angehörigen der technischen Berufe die Notwendigkeit einer theoretischen
Ausbildung längst erkannt haben und sich diese Bildung in der Regel aneignen,
während beim Kaufmann dies heute leider noch zur Ausnahme gehört.




Wie retten wir unsre alten Volkslieder?

! oller wir uns trösten mit den Worten der „Rauie" und es für
unvermeidlich ansehen, „daß das Schöne vergeht, daß das Voll-
kommne stirbt"? Denn daß etwas köstlich Schönes, Unwieder¬
bringliches im Begriff ist zu sterben, das müssen wir uns klar
machen. Die alten Volkslieder, die echten und schönsten singt
!das Volk nicht mehr, weil es sie nicht mehr kennt. Wohl sind
die Texte und Melodien gesammelt, und an Abhandlungen über ihren Wert
und ihre Eigentümlichkeiten fehlt es nicht, in Bibliotheken ist uns dieser
mumifizierte Teil erhalten, aber darum sind sie doch tot, ganz tot, wenn
das Volk sie nicht mehr singt.

Als in den siebziger Jahren die „onde Port" in Leiden, eins der schönsten
alten Stadttore, auf Befehl des Stadtrats niedergerissen wurde (angeblich
wegen Baufälligkeit), erhob sich unter den Kunstverständigen und Altertums¬
kennern Hollands ein Sturm der Entrüstung. Doch das Stadtoberhaupt wußte
dem durch die überlegne Erklärung zu begegnen, im Stadtmuseum befände sich
eine ganz vorzügliche Photographie der „vnden Port", deren Gestalt damit für
alle Liebhaber dauernd festgehalten sei, und aller Entrüstungslärm sei füglich
unnütz. Der gute Mann! Er hatte ja eigentlich so recht!

Das Volk singt noch Volkslieder! wird mir oft entgegengehalten, hören
Sie es denn nicht? Da — zum Beispiel „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten!"
Jawohl, das singen sie noch. Das und vielleicht drei oder vier andre, wie
„Goldne Abendsonne", „Am Brunnen vor dem Tore", „Sah ein Knab ein
Röslein stehn", „Wohlauf, noch getrunken" und in etwas „bessern" Kreisen
„Santa Lucia". Wohl gemerkt, alle sechs keine „echten" Volkslieder.

Aber hat vielleicht das Volk eine Auswahl getroffen und nur beibehalten,
was ihm am schönsten scheint — eine Auswahl, die darum ihre Berechtigung
hat? Ich zweifle. Das Volk zeigt seine Herdennatur, es singt, was es singen
hört, und was es am meisten hört, mit Vorliebe. Der großen Masse muß sich
ein Lied ja schon recht ins Ohr hämmern, um populär zu werden. Nun sind
der Gelegenheiten zum Gemeinsamsingen auch nicht mehr so viele wie früher,
die dörflichen Zusammenkünfte unter der Linde und auf der Dorfstraße tragen
ein andres Gepräge, und die Kunkelstuben sind vergessen. Heutzutage kommt
man im Wirtshaus zusammen, und das ist nicht der Platz für die alten
schlichten innigen Lieder , die die stille Nachtluft wollen und den rauschenden
Röhrbrunnen. Sind dann am warmen Sommerabend ein paar Menschen einmal


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/85>, abgerufen am 24.07.2024.