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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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von der Vstmarkensahrt süddeutscher Parlamentarier und Journalisten

"Neiseeindrücken" hervorzutreten, so geschieht es deshalb, weil so vieles "im
Gelände" ganz anders aussah, als ich es nach der Literatur -- die ich doch
seit Jahren verfolgt habe -- erwartet hatte. Außerdem vermute ich: es wird
uoch vielen wie mir so gehn, daß sie die historische, politische und rechtliche
Seite der Polenfrage einigermaßen kennen und doch nicht wissen, wie eigentlich
ein Ansiedlerdorf aussieht, und wie es entsteht.

Ich will mich also daran machen, einfach Land und Leute zu schildern,
wie ich sie gesehen habe, obgleich ich mir bewußt bin, daß für einen Stadt¬
menschen, der im Hügelland zu Haus ist, verschiedne Stellen der norddeutschen
Ebene und verschiedne Formen kleinbäuerlicher Gehöfte so ähnlich aussehen
wie für den Europäer die -- unter sich sehr unähnlichen -- Neger.

Das erste, was wir zu sehen bekamen, war das 6000 preußische Morgen
^ 1530 Hektar) große Gut Seeheim des Herrn Major von Tiedemann, das
etwa 60 Kilometer von der brandenburgischen Grenze und 24 Kilometer von
Posen entfernt ist. Seine Erwähnung ist für weitere Kreise interessant, erstens
weil es von einem deutschen Privatmann aus polnischer Hand erworben und
zu einer Musterwirtschaft gemacht wurde, zweitens weil sein Besitzer einen Ver¬
such der Ansiedlung deutscher Landarbeiter unter ganz modernen Bedingungen
gemacht hat. Er hat eine Anzahl einfacher, hübsch aussehender Einfamilien¬
häuser gebaut, zu denen je vier Morgen ein Hektar) Land und eine kleine
Scheune gehören.

Diese Stellen vermietet er an Deutsche wie ein Hausbesitzer in der Stadt
eine Wohnung mit Werkstatt. Sein Mieter sitzt als freier Mann auf seinen
vier Morgen, er ist -- und darin liegt das Neue -- in keiner Weise ver¬
pflichtet, zu gewissen Zeiten, zum Beispiel in der Ernte, bei seinem Vermieter
gegen Lohn Arbeit zu nehmen. Er kann die Arbeitskraft, die sein Feld ihm
übrig läßt, verwenden, bei wem er will.

Herr von Tiedemann kann sein großes Gut vorläufig natürlich auch nur
mit einer überwiegenden Zahl polnischer Arbeiter umtreiben, und es müßten noch
viele viele deutsche Landarbeiter von ihm ansässig gemacht werden, ehe sich
das Zahlenverhältnis umkehrt. Wenn der Großgrundbesitz aber überall so
von nationalen Gesichtspunkten aus handeln wollte, würden seine polnischen
Arbeiterheere eine nationale Gefahr nicht in dem Maße bedeuten, als sie es
unter den gegenwärtigen Verhältnissen tatsächlich sind.

Den Reiseteilnehmern wird Herr von Tiedemann, der Mitgründer des
Ostmarkenvereins, unvergeßlich bleiben als eine der ausgeprägtesten Persönlich¬
keiten, mit denen wir in Berührung gekommen sind, unvergeßlich auch durch die
eindrucksvolle in einem Kaiserhoch gipfelnde Geleitsrede auf unsre Reise.

Übrigens hatten wir die Reise schon einmal, wenn auch nur Augenblicke,
unterbrochen, nämlich in Berthchen; dort hatte die Ortsgruppe des Ostmarken¬
vereins die wenigen Minuten des Aufenthalts des Schnellzugs zu einem herz¬
lichen Willkomm auf dem Boden Posens benutzt.


von der Vstmarkensahrt süddeutscher Parlamentarier und Journalisten

„Neiseeindrücken" hervorzutreten, so geschieht es deshalb, weil so vieles „im
Gelände" ganz anders aussah, als ich es nach der Literatur — die ich doch
seit Jahren verfolgt habe — erwartet hatte. Außerdem vermute ich: es wird
uoch vielen wie mir so gehn, daß sie die historische, politische und rechtliche
Seite der Polenfrage einigermaßen kennen und doch nicht wissen, wie eigentlich
ein Ansiedlerdorf aussieht, und wie es entsteht.

Ich will mich also daran machen, einfach Land und Leute zu schildern,
wie ich sie gesehen habe, obgleich ich mir bewußt bin, daß für einen Stadt¬
menschen, der im Hügelland zu Haus ist, verschiedne Stellen der norddeutschen
Ebene und verschiedne Formen kleinbäuerlicher Gehöfte so ähnlich aussehen
wie für den Europäer die — unter sich sehr unähnlichen — Neger.

Das erste, was wir zu sehen bekamen, war das 6000 preußische Morgen
^ 1530 Hektar) große Gut Seeheim des Herrn Major von Tiedemann, das
etwa 60 Kilometer von der brandenburgischen Grenze und 24 Kilometer von
Posen entfernt ist. Seine Erwähnung ist für weitere Kreise interessant, erstens
weil es von einem deutschen Privatmann aus polnischer Hand erworben und
zu einer Musterwirtschaft gemacht wurde, zweitens weil sein Besitzer einen Ver¬
such der Ansiedlung deutscher Landarbeiter unter ganz modernen Bedingungen
gemacht hat. Er hat eine Anzahl einfacher, hübsch aussehender Einfamilien¬
häuser gebaut, zu denen je vier Morgen ein Hektar) Land und eine kleine
Scheune gehören.

Diese Stellen vermietet er an Deutsche wie ein Hausbesitzer in der Stadt
eine Wohnung mit Werkstatt. Sein Mieter sitzt als freier Mann auf seinen
vier Morgen, er ist — und darin liegt das Neue — in keiner Weise ver¬
pflichtet, zu gewissen Zeiten, zum Beispiel in der Ernte, bei seinem Vermieter
gegen Lohn Arbeit zu nehmen. Er kann die Arbeitskraft, die sein Feld ihm
übrig läßt, verwenden, bei wem er will.

Herr von Tiedemann kann sein großes Gut vorläufig natürlich auch nur
mit einer überwiegenden Zahl polnischer Arbeiter umtreiben, und es müßten noch
viele viele deutsche Landarbeiter von ihm ansässig gemacht werden, ehe sich
das Zahlenverhältnis umkehrt. Wenn der Großgrundbesitz aber überall so
von nationalen Gesichtspunkten aus handeln wollte, würden seine polnischen
Arbeiterheere eine nationale Gefahr nicht in dem Maße bedeuten, als sie es
unter den gegenwärtigen Verhältnissen tatsächlich sind.

Den Reiseteilnehmern wird Herr von Tiedemann, der Mitgründer des
Ostmarkenvereins, unvergeßlich bleiben als eine der ausgeprägtesten Persönlich¬
keiten, mit denen wir in Berührung gekommen sind, unvergeßlich auch durch die
eindrucksvolle in einem Kaiserhoch gipfelnde Geleitsrede auf unsre Reise.

Übrigens hatten wir die Reise schon einmal, wenn auch nur Augenblicke,
unterbrochen, nämlich in Berthchen; dort hatte die Ortsgruppe des Ostmarken¬
vereins die wenigen Minuten des Aufenthalts des Schnellzugs zu einem herz¬
lichen Willkomm auf dem Boden Posens benutzt.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/67>, abgerufen am 24.07.2024.