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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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dem Tode offenbare, und in dem das Verhalten des Menschen in diesem
Leben von entscheidender Bedeutung sei, mag einem gewissen Rationalismus
töricht erscheinen, weil niemand über diese Dinge etwas sicheres wisse und
seine Meinung darüber beweisen könne; dem Pragmatisten bedarf eine solche
ethisch-religiöse Lebensbetrachtung keines weitern Beweises, wenn sie die
einzelnen ethischen Wertungen, die der Mensch im Leben gewonnen hat, stärkt
und belebt, wenn sie dem Leben einen befriedigenden Sinn verleiht und
praktisches Handeln im Sinne dieser ethischen Wertungen fördert. Es ist
darum klar, daß der Pragmatismus, der seine Wurzeln ganz in der Welt der
Erfahrung hat, doch metaphysische Systeme, zu denen ja auch die positiven
Religionen gehören, keineswegs nach Art des dogmatischen Rationalismus
ablehnen muß, sondern sie sehr wohl als vollberechtigte "Philosophien" an¬
sehen kann, sofern sie nur jenes ihm eigentümliche praktische Wahrheits¬
kriterium erfüllen. Derselbe Pragmatismus, der den dogmatischen Wahrheits¬
anspruch der philosophischen Systeme aufhebt und damit als der Feind jedes
positiven philosophischen oder religiösen Systems erscheint, kann doch vermöge
eben derselben Dehnbarkeit und Schmiegsamkeit seines Wahrheitskriteriums, die
dieses zu einem so vortrefflichen Hilfs- und Arbeitsmittel innerhalb der
empirischen Forschung machen, sehr wohl auch zur Rechtfertigung über¬
empirischer Spekulationen philosophischer oder religiöser Art dienen, sofern
eben nur den Vorstellungen und Lehrsätzen dieser Systeme jenes Wahrheits¬
kriterium innewohnt, das man am kürzesten wohl als "Bewährung in der
Praxis" bezeichnen kann.

Es kann hier nicht die Aufgabe sein, die Stellung des Pragmatismus
oder auch des Jamesschen Buches, dessen soeben erschienene deutsche Über¬
setzung uns den Anlaß zu diesem Hinweis gegeben hat, zu den Hauptfragen
des philosophischen Denkens eingehend zu erörtern; darüber möge sich der,
dem die in England und Amerika schon ziemlich stattliche pragmatistische
Literatur fremd ist, in dem Jamesschen Buche selbst Rats erholen, das als
ein scharfsinniger und geistvoller Führer zur Philosophie des Pragmatismus
diesem Zwecke trefflich dienen kann. Uns kam es hier nur darauf an, in
aller Kürze das Wesen dieser Denkrichtung zu kennzeichnen, die, wie man aus
den obigen Ausführungen ersieht, kaum selbst ein philosophisches System, auch
nicht im strengsten Sinne Erkenntnistheorie, sondern eine Anwendung der
Erkenntnistheorie und zugleich eine Brücke zwischen der positiven Erfahrungs¬
wissenschaft und der philosophischen oder religiösen Spekulation ist. Diese
philosophische Richtung des Pragmatismus ist im Grundgedanken nicht neu.
Man kann Anklänge an sie schon in der griechischen Philosophie finden, ja
sie geradezu als die konsequente Ausgestaltung der tiefen Einsicht der Griechen,
die den Menschen das Maß aller Dinge nannte, betrachten; man findet solche
Anklänge ebenso in der schottisch-englischen Philosophie und nicht minder
bei Kant, dessen "Kritik der praktischen Urteilskraft" sich ja in vieler Hin-


vie Philosophie des ^>sagmatismus

dem Tode offenbare, und in dem das Verhalten des Menschen in diesem
Leben von entscheidender Bedeutung sei, mag einem gewissen Rationalismus
töricht erscheinen, weil niemand über diese Dinge etwas sicheres wisse und
seine Meinung darüber beweisen könne; dem Pragmatisten bedarf eine solche
ethisch-religiöse Lebensbetrachtung keines weitern Beweises, wenn sie die
einzelnen ethischen Wertungen, die der Mensch im Leben gewonnen hat, stärkt
und belebt, wenn sie dem Leben einen befriedigenden Sinn verleiht und
praktisches Handeln im Sinne dieser ethischen Wertungen fördert. Es ist
darum klar, daß der Pragmatismus, der seine Wurzeln ganz in der Welt der
Erfahrung hat, doch metaphysische Systeme, zu denen ja auch die positiven
Religionen gehören, keineswegs nach Art des dogmatischen Rationalismus
ablehnen muß, sondern sie sehr wohl als vollberechtigte „Philosophien" an¬
sehen kann, sofern sie nur jenes ihm eigentümliche praktische Wahrheits¬
kriterium erfüllen. Derselbe Pragmatismus, der den dogmatischen Wahrheits¬
anspruch der philosophischen Systeme aufhebt und damit als der Feind jedes
positiven philosophischen oder religiösen Systems erscheint, kann doch vermöge
eben derselben Dehnbarkeit und Schmiegsamkeit seines Wahrheitskriteriums, die
dieses zu einem so vortrefflichen Hilfs- und Arbeitsmittel innerhalb der
empirischen Forschung machen, sehr wohl auch zur Rechtfertigung über¬
empirischer Spekulationen philosophischer oder religiöser Art dienen, sofern
eben nur den Vorstellungen und Lehrsätzen dieser Systeme jenes Wahrheits¬
kriterium innewohnt, das man am kürzesten wohl als „Bewährung in der
Praxis" bezeichnen kann.

Es kann hier nicht die Aufgabe sein, die Stellung des Pragmatismus
oder auch des Jamesschen Buches, dessen soeben erschienene deutsche Über¬
setzung uns den Anlaß zu diesem Hinweis gegeben hat, zu den Hauptfragen
des philosophischen Denkens eingehend zu erörtern; darüber möge sich der,
dem die in England und Amerika schon ziemlich stattliche pragmatistische
Literatur fremd ist, in dem Jamesschen Buche selbst Rats erholen, das als
ein scharfsinniger und geistvoller Führer zur Philosophie des Pragmatismus
diesem Zwecke trefflich dienen kann. Uns kam es hier nur darauf an, in
aller Kürze das Wesen dieser Denkrichtung zu kennzeichnen, die, wie man aus
den obigen Ausführungen ersieht, kaum selbst ein philosophisches System, auch
nicht im strengsten Sinne Erkenntnistheorie, sondern eine Anwendung der
Erkenntnistheorie und zugleich eine Brücke zwischen der positiven Erfahrungs¬
wissenschaft und der philosophischen oder religiösen Spekulation ist. Diese
philosophische Richtung des Pragmatismus ist im Grundgedanken nicht neu.
Man kann Anklänge an sie schon in der griechischen Philosophie finden, ja
sie geradezu als die konsequente Ausgestaltung der tiefen Einsicht der Griechen,
die den Menschen das Maß aller Dinge nannte, betrachten; man findet solche
Anklänge ebenso in der schottisch-englischen Philosophie und nicht minder
bei Kant, dessen „Kritik der praktischen Urteilskraft" sich ja in vieler Hin-


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[0598] vie Philosophie des ^>sagmatismus dem Tode offenbare, und in dem das Verhalten des Menschen in diesem Leben von entscheidender Bedeutung sei, mag einem gewissen Rationalismus töricht erscheinen, weil niemand über diese Dinge etwas sicheres wisse und seine Meinung darüber beweisen könne; dem Pragmatisten bedarf eine solche ethisch-religiöse Lebensbetrachtung keines weitern Beweises, wenn sie die einzelnen ethischen Wertungen, die der Mensch im Leben gewonnen hat, stärkt und belebt, wenn sie dem Leben einen befriedigenden Sinn verleiht und praktisches Handeln im Sinne dieser ethischen Wertungen fördert. Es ist darum klar, daß der Pragmatismus, der seine Wurzeln ganz in der Welt der Erfahrung hat, doch metaphysische Systeme, zu denen ja auch die positiven Religionen gehören, keineswegs nach Art des dogmatischen Rationalismus ablehnen muß, sondern sie sehr wohl als vollberechtigte „Philosophien" an¬ sehen kann, sofern sie nur jenes ihm eigentümliche praktische Wahrheits¬ kriterium erfüllen. Derselbe Pragmatismus, der den dogmatischen Wahrheits¬ anspruch der philosophischen Systeme aufhebt und damit als der Feind jedes positiven philosophischen oder religiösen Systems erscheint, kann doch vermöge eben derselben Dehnbarkeit und Schmiegsamkeit seines Wahrheitskriteriums, die dieses zu einem so vortrefflichen Hilfs- und Arbeitsmittel innerhalb der empirischen Forschung machen, sehr wohl auch zur Rechtfertigung über¬ empirischer Spekulationen philosophischer oder religiöser Art dienen, sofern eben nur den Vorstellungen und Lehrsätzen dieser Systeme jenes Wahrheits¬ kriterium innewohnt, das man am kürzesten wohl als „Bewährung in der Praxis" bezeichnen kann. Es kann hier nicht die Aufgabe sein, die Stellung des Pragmatismus oder auch des Jamesschen Buches, dessen soeben erschienene deutsche Über¬ setzung uns den Anlaß zu diesem Hinweis gegeben hat, zu den Hauptfragen des philosophischen Denkens eingehend zu erörtern; darüber möge sich der, dem die in England und Amerika schon ziemlich stattliche pragmatistische Literatur fremd ist, in dem Jamesschen Buche selbst Rats erholen, das als ein scharfsinniger und geistvoller Führer zur Philosophie des Pragmatismus diesem Zwecke trefflich dienen kann. Uns kam es hier nur darauf an, in aller Kürze das Wesen dieser Denkrichtung zu kennzeichnen, die, wie man aus den obigen Ausführungen ersieht, kaum selbst ein philosophisches System, auch nicht im strengsten Sinne Erkenntnistheorie, sondern eine Anwendung der Erkenntnistheorie und zugleich eine Brücke zwischen der positiven Erfahrungs¬ wissenschaft und der philosophischen oder religiösen Spekulation ist. Diese philosophische Richtung des Pragmatismus ist im Grundgedanken nicht neu. Man kann Anklänge an sie schon in der griechischen Philosophie finden, ja sie geradezu als die konsequente Ausgestaltung der tiefen Einsicht der Griechen, die den Menschen das Maß aller Dinge nannte, betrachten; man findet solche Anklänge ebenso in der schottisch-englischen Philosophie und nicht minder bei Kant, dessen „Kritik der praktischen Urteilskraft" sich ja in vieler Hin-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/598>, abgerufen am 24.07.2024.