Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Philosophie des Pragmatismus

gegenüber den körperlichen Existenzen zu Wesenheiten von verminderter Wirk¬
lichkeit herunterdrücke, eigentlich als gcir nicht wahrhaft vorhanden anerkennt
und demgemäß auch jeden Wert und alle ausschlaggebende Bedeutung dieser
seelischen Besitztümer des Menschen für die Ausdeutung von Welt und Leben
ablehnt: diese "grobkörnige" Richtung des philosophischen Denkens >-- um
einen Ausdruck von James zu gebrauchen -- ist heute, was bei der Be¬
schaffenheit der philosophischen Anschauungen in zahlreichen Kreisen kaum oft
genug in der Öffentlichkeit gesagt werden kann, vollständig geschlagen. Damit
ist aber ohne weiteres grundsätzlich die Alleinberechtigung jener im einzelnen
ja der größten Verschiedenheiten fähigen, philosophischen Systeme und Welt¬
ausdeutungen festgestellt, die nicht die Körperwelt, sondern den menschlichen
Geist, die Spontaneität der menschlichen "Psyche" in ihren mannigfachen
Äußerungen zum Ausgangspunkte nehmen und von dieser Grundlage aus in
das Wesen und den Sinn der Welt und des Lebens einzudringen suchen.

Dieser einzig haltbare Ausgangspunkt des philosophischen Denkens ist
also auch dem "Pragmatismus" eigen. Allein der oben dargelegte Wahrheits¬
begriff, den er der modernen Erkenntnistheorie entnommen hat, nötigt ihn
doch zu einer ganz andern Auffassung der Bedeutung, des Sinnes und des
Wertes philosophischer Erkenntnisse und Lehrsätze, als es bei der ältern
idealistischen Philosophie, man darf wohl sagen ausnahmslos, der Fall war.
Jene ältere Philosophie suchte feste, unwandelbare, "ewige" Wahrheiten, die
man als sichern Besitz hinnehmen und bei denen man sich dann, froh, nun¬
mehr einen festen Punkt zur Betrachtung von Welt und Leben gesunden zu
haben, beruhigen konnte. Ob die Welt eine Einheit oder Vielheit sei; ob sie
einen göttlichen Schöpfer habe oder von Anbeginn vorhanden gewesen sei;
ob Glück oder Unglück auf ihr überwöge, ob das Leben mit dem Tode seinen
Abschluß erreicht habe, oder ob darüber hinaus ein Leben uns erwarte; ob
unser Wille frei sei, bestimmte Ziele zu erreichen, oder ob er als ein Sklave
höherer Gewalten uns ohne jede Freiheit der Wahl einer geheimnisvollen
Bestimmung entgegenführe; kurz auf all diese allgemeinsten Fragen, die Kant
in die Formel: "Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich
hoffen?" zusammengefaßt hat, suchte die ältere idealistische Philosophie eine
positive Antwort und war überzeugt, diese aus dem reinen Denken gewinnen
zu können. Tatsächlich gewann man diese freilich nur dadurch, daß man ent¬
weder bestimmte Einzelerkenntnisse von begrenztem Umfang und Geltungs¬
bereich kühn zu allgemeinen Weltformeln erhob, oder eine gefühlsmäßige
Bewertung von Welt und Leben, der eine ganz bestimmte Seelen- und
Geistesverfassung ihres Urhebers zugrunde lag, unter Vernachlässigung dieser
einengendem Bedingung nicht minder dogmatisch als die endlich gefundne
Wahrheit über die große und kleine Welt verkündete. Die Geschichte der
Philosophie ist voll von solchen dogmatisch aufgestellten Systemen, die selbst¬
verständlich immer wieder mit andern, mit dem gleichen Recht und Un-


Die Philosophie des Pragmatismus

gegenüber den körperlichen Existenzen zu Wesenheiten von verminderter Wirk¬
lichkeit herunterdrücke, eigentlich als gcir nicht wahrhaft vorhanden anerkennt
und demgemäß auch jeden Wert und alle ausschlaggebende Bedeutung dieser
seelischen Besitztümer des Menschen für die Ausdeutung von Welt und Leben
ablehnt: diese „grobkörnige" Richtung des philosophischen Denkens >— um
einen Ausdruck von James zu gebrauchen — ist heute, was bei der Be¬
schaffenheit der philosophischen Anschauungen in zahlreichen Kreisen kaum oft
genug in der Öffentlichkeit gesagt werden kann, vollständig geschlagen. Damit
ist aber ohne weiteres grundsätzlich die Alleinberechtigung jener im einzelnen
ja der größten Verschiedenheiten fähigen, philosophischen Systeme und Welt¬
ausdeutungen festgestellt, die nicht die Körperwelt, sondern den menschlichen
Geist, die Spontaneität der menschlichen „Psyche" in ihren mannigfachen
Äußerungen zum Ausgangspunkte nehmen und von dieser Grundlage aus in
das Wesen und den Sinn der Welt und des Lebens einzudringen suchen.

Dieser einzig haltbare Ausgangspunkt des philosophischen Denkens ist
also auch dem „Pragmatismus" eigen. Allein der oben dargelegte Wahrheits¬
begriff, den er der modernen Erkenntnistheorie entnommen hat, nötigt ihn
doch zu einer ganz andern Auffassung der Bedeutung, des Sinnes und des
Wertes philosophischer Erkenntnisse und Lehrsätze, als es bei der ältern
idealistischen Philosophie, man darf wohl sagen ausnahmslos, der Fall war.
Jene ältere Philosophie suchte feste, unwandelbare, „ewige" Wahrheiten, die
man als sichern Besitz hinnehmen und bei denen man sich dann, froh, nun¬
mehr einen festen Punkt zur Betrachtung von Welt und Leben gesunden zu
haben, beruhigen konnte. Ob die Welt eine Einheit oder Vielheit sei; ob sie
einen göttlichen Schöpfer habe oder von Anbeginn vorhanden gewesen sei;
ob Glück oder Unglück auf ihr überwöge, ob das Leben mit dem Tode seinen
Abschluß erreicht habe, oder ob darüber hinaus ein Leben uns erwarte; ob
unser Wille frei sei, bestimmte Ziele zu erreichen, oder ob er als ein Sklave
höherer Gewalten uns ohne jede Freiheit der Wahl einer geheimnisvollen
Bestimmung entgegenführe; kurz auf all diese allgemeinsten Fragen, die Kant
in die Formel: „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich
hoffen?" zusammengefaßt hat, suchte die ältere idealistische Philosophie eine
positive Antwort und war überzeugt, diese aus dem reinen Denken gewinnen
zu können. Tatsächlich gewann man diese freilich nur dadurch, daß man ent¬
weder bestimmte Einzelerkenntnisse von begrenztem Umfang und Geltungs¬
bereich kühn zu allgemeinen Weltformeln erhob, oder eine gefühlsmäßige
Bewertung von Welt und Leben, der eine ganz bestimmte Seelen- und
Geistesverfassung ihres Urhebers zugrunde lag, unter Vernachlässigung dieser
einengendem Bedingung nicht minder dogmatisch als die endlich gefundne
Wahrheit über die große und kleine Welt verkündete. Die Geschichte der
Philosophie ist voll von solchen dogmatisch aufgestellten Systemen, die selbst¬
verständlich immer wieder mit andern, mit dem gleichen Recht und Un-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0596" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/314943"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Philosophie des Pragmatismus</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2618" prev="#ID_2617"> gegenüber den körperlichen Existenzen zu Wesenheiten von verminderter Wirk¬<lb/>
lichkeit herunterdrücke, eigentlich als gcir nicht wahrhaft vorhanden anerkennt<lb/>
und demgemäß auch jeden Wert und alle ausschlaggebende Bedeutung dieser<lb/>
seelischen Besitztümer des Menschen für die Ausdeutung von Welt und Leben<lb/>
ablehnt: diese &#x201E;grobkörnige" Richtung des philosophischen Denkens &gt;&#x2014; um<lb/>
einen Ausdruck von James zu gebrauchen &#x2014; ist heute, was bei der Be¬<lb/>
schaffenheit der philosophischen Anschauungen in zahlreichen Kreisen kaum oft<lb/>
genug in der Öffentlichkeit gesagt werden kann, vollständig geschlagen. Damit<lb/>
ist aber ohne weiteres grundsätzlich die Alleinberechtigung jener im einzelnen<lb/>
ja der größten Verschiedenheiten fähigen, philosophischen Systeme und Welt¬<lb/>
ausdeutungen festgestellt, die nicht die Körperwelt, sondern den menschlichen<lb/>
Geist, die Spontaneität der menschlichen &#x201E;Psyche" in ihren mannigfachen<lb/>
Äußerungen zum Ausgangspunkte nehmen und von dieser Grundlage aus in<lb/>
das Wesen und den Sinn der Welt und des Lebens einzudringen suchen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2619" next="#ID_2620"> Dieser einzig haltbare Ausgangspunkt des philosophischen Denkens ist<lb/>
also auch dem &#x201E;Pragmatismus" eigen. Allein der oben dargelegte Wahrheits¬<lb/>
begriff, den er der modernen Erkenntnistheorie entnommen hat, nötigt ihn<lb/>
doch zu einer ganz andern Auffassung der Bedeutung, des Sinnes und des<lb/>
Wertes philosophischer Erkenntnisse und Lehrsätze, als es bei der ältern<lb/>
idealistischen Philosophie, man darf wohl sagen ausnahmslos, der Fall war.<lb/>
Jene ältere Philosophie suchte feste, unwandelbare, &#x201E;ewige" Wahrheiten, die<lb/>
man als sichern Besitz hinnehmen und bei denen man sich dann, froh, nun¬<lb/>
mehr einen festen Punkt zur Betrachtung von Welt und Leben gesunden zu<lb/>
haben, beruhigen konnte. Ob die Welt eine Einheit oder Vielheit sei; ob sie<lb/>
einen göttlichen Schöpfer habe oder von Anbeginn vorhanden gewesen sei;<lb/>
ob Glück oder Unglück auf ihr überwöge, ob das Leben mit dem Tode seinen<lb/>
Abschluß erreicht habe, oder ob darüber hinaus ein Leben uns erwarte; ob<lb/>
unser Wille frei sei, bestimmte Ziele zu erreichen, oder ob er als ein Sklave<lb/>
höherer Gewalten uns ohne jede Freiheit der Wahl einer geheimnisvollen<lb/>
Bestimmung entgegenführe; kurz auf all diese allgemeinsten Fragen, die Kant<lb/>
in die Formel: &#x201E;Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich<lb/>
hoffen?" zusammengefaßt hat, suchte die ältere idealistische Philosophie eine<lb/>
positive Antwort und war überzeugt, diese aus dem reinen Denken gewinnen<lb/>
zu können. Tatsächlich gewann man diese freilich nur dadurch, daß man ent¬<lb/>
weder bestimmte Einzelerkenntnisse von begrenztem Umfang und Geltungs¬<lb/>
bereich kühn zu allgemeinen Weltformeln erhob, oder eine gefühlsmäßige<lb/>
Bewertung von Welt und Leben, der eine ganz bestimmte Seelen- und<lb/>
Geistesverfassung ihres Urhebers zugrunde lag, unter Vernachlässigung dieser<lb/>
einengendem Bedingung nicht minder dogmatisch als die endlich gefundne<lb/>
Wahrheit über die große und kleine Welt verkündete. Die Geschichte der<lb/>
Philosophie ist voll von solchen dogmatisch aufgestellten Systemen, die selbst¬<lb/>
verständlich immer wieder mit andern, mit dem gleichen Recht und Un-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0596] Die Philosophie des Pragmatismus gegenüber den körperlichen Existenzen zu Wesenheiten von verminderter Wirk¬ lichkeit herunterdrücke, eigentlich als gcir nicht wahrhaft vorhanden anerkennt und demgemäß auch jeden Wert und alle ausschlaggebende Bedeutung dieser seelischen Besitztümer des Menschen für die Ausdeutung von Welt und Leben ablehnt: diese „grobkörnige" Richtung des philosophischen Denkens >— um einen Ausdruck von James zu gebrauchen — ist heute, was bei der Be¬ schaffenheit der philosophischen Anschauungen in zahlreichen Kreisen kaum oft genug in der Öffentlichkeit gesagt werden kann, vollständig geschlagen. Damit ist aber ohne weiteres grundsätzlich die Alleinberechtigung jener im einzelnen ja der größten Verschiedenheiten fähigen, philosophischen Systeme und Welt¬ ausdeutungen festgestellt, die nicht die Körperwelt, sondern den menschlichen Geist, die Spontaneität der menschlichen „Psyche" in ihren mannigfachen Äußerungen zum Ausgangspunkte nehmen und von dieser Grundlage aus in das Wesen und den Sinn der Welt und des Lebens einzudringen suchen. Dieser einzig haltbare Ausgangspunkt des philosophischen Denkens ist also auch dem „Pragmatismus" eigen. Allein der oben dargelegte Wahrheits¬ begriff, den er der modernen Erkenntnistheorie entnommen hat, nötigt ihn doch zu einer ganz andern Auffassung der Bedeutung, des Sinnes und des Wertes philosophischer Erkenntnisse und Lehrsätze, als es bei der ältern idealistischen Philosophie, man darf wohl sagen ausnahmslos, der Fall war. Jene ältere Philosophie suchte feste, unwandelbare, „ewige" Wahrheiten, die man als sichern Besitz hinnehmen und bei denen man sich dann, froh, nun¬ mehr einen festen Punkt zur Betrachtung von Welt und Leben gesunden zu haben, beruhigen konnte. Ob die Welt eine Einheit oder Vielheit sei; ob sie einen göttlichen Schöpfer habe oder von Anbeginn vorhanden gewesen sei; ob Glück oder Unglück auf ihr überwöge, ob das Leben mit dem Tode seinen Abschluß erreicht habe, oder ob darüber hinaus ein Leben uns erwarte; ob unser Wille frei sei, bestimmte Ziele zu erreichen, oder ob er als ein Sklave höherer Gewalten uns ohne jede Freiheit der Wahl einer geheimnisvollen Bestimmung entgegenführe; kurz auf all diese allgemeinsten Fragen, die Kant in die Formel: „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?" zusammengefaßt hat, suchte die ältere idealistische Philosophie eine positive Antwort und war überzeugt, diese aus dem reinen Denken gewinnen zu können. Tatsächlich gewann man diese freilich nur dadurch, daß man ent¬ weder bestimmte Einzelerkenntnisse von begrenztem Umfang und Geltungs¬ bereich kühn zu allgemeinen Weltformeln erhob, oder eine gefühlsmäßige Bewertung von Welt und Leben, der eine ganz bestimmte Seelen- und Geistesverfassung ihres Urhebers zugrunde lag, unter Vernachlässigung dieser einengendem Bedingung nicht minder dogmatisch als die endlich gefundne Wahrheit über die große und kleine Welt verkündete. Die Geschichte der Philosophie ist voll von solchen dogmatisch aufgestellten Systemen, die selbst¬ verständlich immer wieder mit andern, mit dem gleichen Recht und Un-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/596
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/596>, abgerufen am 24.07.2024.