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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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durch Erziehung und Vererbung bestimmt sind. Vollends nun, wenn es
der Jugendgeliebte ist, der als Träger dieser wortlosen, heimatlichen Botschaft
die Konvention des mit Ahnenbildern geschmückten Salons, "des unbestech¬
lichen Hüters alter Vorurteile und seltsamer gesellschaftlicher Überlieferungen",
durchbricht.

Diese Konflikte zwischen zwei Aristokratien hat Edles Wharton in einer
Reihe graziöser, fein geschliffner Dialoge lebendig werden lassen. Die eigent¬
liche Heldin ist nicht die anmutige Fanny de Malrive, die der Jugendgeliebte
von den Fesseln ihrer unglücklichen Ehe befreien will, sondern ihre Schwägerin,
Madame de Treymes, die den Kampf ihrer Familie gegen den Eindringling
mit allen Waffen der Intrige führt. Am Ende aber gibt John Durhams
unbestechliche Rechtlichkeit der weltgewandter Frau den Glauben an die
Menschheit zurück, und sie benutzt ihren Einfluß, den Liebenden den Weg
zu ebnen.

Edles Whartons Kunst, komplizierte Charaktere plastisch darzustellen,
zeigt sich in diesem Kabinettstück in gleicher Vollendung wie in ihren größern
Romanen. Den starken Wellenbewegungen des sozialen Lebens in den Ver¬
einigten Staaten hat sich die Verfasserin nicht entziehen können. Und wie
ihr 1906 veröffentlichtes Werk tuo "ouse ok Airtu*) ein Sittenbild der
Newyorker Gesellschaft gab, so haben auch die tiefernsten Konflikte des jüngst
erschienenen ^de ?ruit ok ete Iree?) einen sozialen Hintergrund.

John Amherst, der sich, seiner Erziehung und seiner Zugehörigkeit zu
den höhern Gesellschaftskreisen ungeachtet, zu den Arbeitern eines großen
Fabrikbetriebes gesellt, um als einer der ihren ihr Los zu teilen und
wenn möglich zu erleichtern, ist der Trüger eines sozialen Neformgedankens.
Die junge Witwe des Besitzers lernt diesen Feuergeist kennen, und sein
Enthusiasmus für die Sache der Arbeiter läßt in ihr eine rasche Neigung
zu ihm, dem Starken, aufkeimen, der ihrer Hilflosigkeit der großen Aufgabe
gegenüber so sichere Stütze verspricht. Er hingegen sieht in dieser Ehe die
Möglichkeit, einen bedeutenden Betrieb nach seinen aus das Wohl der
Arbeiter gerichteten Plänen zu reformieren. Aber diese Hoffnung erweist sich
als trüglich. Denn Kitty ist zu sehr die Sklavin ihrer luxuriösen Gewohn¬
heiten, als daß sie für humanitäre, ihr sachlich unverständliche Zwecke auch nur
das kleinste Opfer bringen möchte. Viel eher täte sie es um des Gatten willen.
Aber John Amherst hat sich von ihr gewandt, als er gefunden, daß sie nicht
"den Gott in ihm", sondern den Mann geliebt hat. So ist Kneph Tod, der
infolge eines Sturzes mit dem Pferde nach qualvollen Leiden eintritt, eine
Erlösung für beide.

Später scheinen sich alle Ideale Amhersts in einer zweiten Ehe mit der
starkgeistigen Justine Breue verwirklichen zu wollen; aber auch dieses Glück



") Tauchnitz Edition, Leipzig.

durch Erziehung und Vererbung bestimmt sind. Vollends nun, wenn es
der Jugendgeliebte ist, der als Träger dieser wortlosen, heimatlichen Botschaft
die Konvention des mit Ahnenbildern geschmückten Salons, „des unbestech¬
lichen Hüters alter Vorurteile und seltsamer gesellschaftlicher Überlieferungen",
durchbricht.

Diese Konflikte zwischen zwei Aristokratien hat Edles Wharton in einer
Reihe graziöser, fein geschliffner Dialoge lebendig werden lassen. Die eigent¬
liche Heldin ist nicht die anmutige Fanny de Malrive, die der Jugendgeliebte
von den Fesseln ihrer unglücklichen Ehe befreien will, sondern ihre Schwägerin,
Madame de Treymes, die den Kampf ihrer Familie gegen den Eindringling
mit allen Waffen der Intrige führt. Am Ende aber gibt John Durhams
unbestechliche Rechtlichkeit der weltgewandter Frau den Glauben an die
Menschheit zurück, und sie benutzt ihren Einfluß, den Liebenden den Weg
zu ebnen.

Edles Whartons Kunst, komplizierte Charaktere plastisch darzustellen,
zeigt sich in diesem Kabinettstück in gleicher Vollendung wie in ihren größern
Romanen. Den starken Wellenbewegungen des sozialen Lebens in den Ver¬
einigten Staaten hat sich die Verfasserin nicht entziehen können. Und wie
ihr 1906 veröffentlichtes Werk tuo «ouse ok Airtu*) ein Sittenbild der
Newyorker Gesellschaft gab, so haben auch die tiefernsten Konflikte des jüngst
erschienenen ^de ?ruit ok ete Iree?) einen sozialen Hintergrund.

John Amherst, der sich, seiner Erziehung und seiner Zugehörigkeit zu
den höhern Gesellschaftskreisen ungeachtet, zu den Arbeitern eines großen
Fabrikbetriebes gesellt, um als einer der ihren ihr Los zu teilen und
wenn möglich zu erleichtern, ist der Trüger eines sozialen Neformgedankens.
Die junge Witwe des Besitzers lernt diesen Feuergeist kennen, und sein
Enthusiasmus für die Sache der Arbeiter läßt in ihr eine rasche Neigung
zu ihm, dem Starken, aufkeimen, der ihrer Hilflosigkeit der großen Aufgabe
gegenüber so sichere Stütze verspricht. Er hingegen sieht in dieser Ehe die
Möglichkeit, einen bedeutenden Betrieb nach seinen aus das Wohl der
Arbeiter gerichteten Plänen zu reformieren. Aber diese Hoffnung erweist sich
als trüglich. Denn Kitty ist zu sehr die Sklavin ihrer luxuriösen Gewohn¬
heiten, als daß sie für humanitäre, ihr sachlich unverständliche Zwecke auch nur
das kleinste Opfer bringen möchte. Viel eher täte sie es um des Gatten willen.
Aber John Amherst hat sich von ihr gewandt, als er gefunden, daß sie nicht
„den Gott in ihm", sondern den Mann geliebt hat. So ist Kneph Tod, der
infolge eines Sturzes mit dem Pferde nach qualvollen Leiden eintritt, eine
Erlösung für beide.

Später scheinen sich alle Ideale Amhersts in einer zweiten Ehe mit der
starkgeistigen Justine Breue verwirklichen zu wollen; aber auch dieses Glück



") Tauchnitz Edition, Leipzig.
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[0570] durch Erziehung und Vererbung bestimmt sind. Vollends nun, wenn es der Jugendgeliebte ist, der als Träger dieser wortlosen, heimatlichen Botschaft die Konvention des mit Ahnenbildern geschmückten Salons, „des unbestech¬ lichen Hüters alter Vorurteile und seltsamer gesellschaftlicher Überlieferungen", durchbricht. Diese Konflikte zwischen zwei Aristokratien hat Edles Wharton in einer Reihe graziöser, fein geschliffner Dialoge lebendig werden lassen. Die eigent¬ liche Heldin ist nicht die anmutige Fanny de Malrive, die der Jugendgeliebte von den Fesseln ihrer unglücklichen Ehe befreien will, sondern ihre Schwägerin, Madame de Treymes, die den Kampf ihrer Familie gegen den Eindringling mit allen Waffen der Intrige führt. Am Ende aber gibt John Durhams unbestechliche Rechtlichkeit der weltgewandter Frau den Glauben an die Menschheit zurück, und sie benutzt ihren Einfluß, den Liebenden den Weg zu ebnen. Edles Whartons Kunst, komplizierte Charaktere plastisch darzustellen, zeigt sich in diesem Kabinettstück in gleicher Vollendung wie in ihren größern Romanen. Den starken Wellenbewegungen des sozialen Lebens in den Ver¬ einigten Staaten hat sich die Verfasserin nicht entziehen können. Und wie ihr 1906 veröffentlichtes Werk tuo «ouse ok Airtu*) ein Sittenbild der Newyorker Gesellschaft gab, so haben auch die tiefernsten Konflikte des jüngst erschienenen ^de ?ruit ok ete Iree?) einen sozialen Hintergrund. John Amherst, der sich, seiner Erziehung und seiner Zugehörigkeit zu den höhern Gesellschaftskreisen ungeachtet, zu den Arbeitern eines großen Fabrikbetriebes gesellt, um als einer der ihren ihr Los zu teilen und wenn möglich zu erleichtern, ist der Trüger eines sozialen Neformgedankens. Die junge Witwe des Besitzers lernt diesen Feuergeist kennen, und sein Enthusiasmus für die Sache der Arbeiter läßt in ihr eine rasche Neigung zu ihm, dem Starken, aufkeimen, der ihrer Hilflosigkeit der großen Aufgabe gegenüber so sichere Stütze verspricht. Er hingegen sieht in dieser Ehe die Möglichkeit, einen bedeutenden Betrieb nach seinen aus das Wohl der Arbeiter gerichteten Plänen zu reformieren. Aber diese Hoffnung erweist sich als trüglich. Denn Kitty ist zu sehr die Sklavin ihrer luxuriösen Gewohn¬ heiten, als daß sie für humanitäre, ihr sachlich unverständliche Zwecke auch nur das kleinste Opfer bringen möchte. Viel eher täte sie es um des Gatten willen. Aber John Amherst hat sich von ihr gewandt, als er gefunden, daß sie nicht „den Gott in ihm", sondern den Mann geliebt hat. So ist Kneph Tod, der infolge eines Sturzes mit dem Pferde nach qualvollen Leiden eintritt, eine Erlösung für beide. Später scheinen sich alle Ideale Amhersts in einer zweiten Ehe mit der starkgeistigen Justine Breue verwirklichen zu wollen; aber auch dieses Glück ") Tauchnitz Edition, Leipzig.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/570>, abgerufen am 24.07.2024.