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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Neue Ziele des psychologischen Romans in Amerika

Entfernung zwischen hüben und drüben ist zu groß, als daß selbst die Nach¬
richt von einem spontanen Erfolg so rasch zu uns herüberkäme. Und die
uneingeschränkte Anerkennung der Anschauung des einen wäre auch nur wieder
ein vereinzeltes Zeichen der Zeit. Erst aus einer Häufung derartiger Er¬
scheinungen dürfte man auf einen Umschwung schließen.

Zwar will es scheinen, als ob sich auch in der Belletristik ein solcher
Umschwung vorbereite. Im psychologischen Roman, der allein schon durch
das Betonen der Persönlichkeit in ihrem Wachsen und Werden gegenüber dem
Aufeinanderprallen der Massen mit ihren gröbern Konflikten als berufner
Träger einer solchen Mission anzusehen ist, werden diese Strömungen am
ehesten nachzuweisen sein. Und zwar richtet sich die Reaktion der modernen
Schriftsteller nicht allein gegen die Realisten, die ihrer Unzufriedenheit mit
den sozialen Verhältnissen in widerwärtigen Schilderungen aus den dunkelsten
Regionen der Großstädte Luft machen; dieser junge Nachwuchs protestiert
auch -- weniger in Worten als durch sein Werk -- gegen die sogenannte
Tradition Hawthornes, die sich in psychologischen Tüfteleien verliert und ein
siebenfach verschleiertes Bild des Lebens gibt. Hinter diesen Schleiern bergen
sich die angeblich handelnden Personen, die aber kaum je zu einer entscheidenden
Tat kommen, weil sie mit dem Beobachten ihrer Impulse und Instinkte aus¬
reichend beschäftigt sind. Sie verlernen hierbei sogar, sich in der noch immer
gebräuchlichen menschlichen Sprache verständlich zu machen. Henry James,
der typische Vertreter dieser degenerierten Erzühlungskunst, sinkt allgemach von
dem hohen Piedestal, das ihm seine Zeitgenossen eingeräumt hatten, herab.
Man beginnt sich zu fragen, welcher edle Kern denn dieses schimmernde Stil¬
gewand wertvoll mache. Man überlegt, ob diese temperamentlosen Stimmungs¬
menschen, die James mit Vorliebe zum Gegenstände seiner Studien wählt,
überhaupt so viel Interesse wert sind, daß man sich über das Wie und Warum
ihrer innern Konflikte den Kopf zerbricht, geschweige denn des Verfassers
spaltenlange Analysen darüber liest. Das amerikanische Lesepublikum hat sein
Urteil über James gesprochen; nur die Romane seiner frühesten Schaffens¬
periode kursieren auf dem Büchermarkt. Der Optimismus, den das rasche
Auf und Nieder im finanziellen und sozialen Leben drüben fördert, kann in
der weltmüden Resignation der Jamesschen Schriften nichts verwandtes finden.
Er wendet sich statt dessen den Jüngeren zu, die die Probleme der Gegenwart
und ihre Bedeutung für die psychologische Entwicklung des einzelnen versteh"
und diese Wechselbeziehungen zu erfassen und zu deuten wissen. Was Haw-
thorne angeht, der steht unantastbar auf seiner einsamen Höhe. Er sah in
künstlerischer Vision den Sonnenuntergang der auf puritanischer Ethik aufge¬
bauten neuenglischen Kultur. Sie zu beleben, hieße in das frische Leben der
Gegenwart den Modergeruch erstorbner Ideale hineintragen. Doch was an
Hawthornes Kunst unsterblich ist, sein Hineinstellen des Individuums in diese
Zeit des Kampfes zwischen zwei Weltanschauungen, das suchen die Jungen


Neue Ziele des psychologischen Romans in Amerika

Entfernung zwischen hüben und drüben ist zu groß, als daß selbst die Nach¬
richt von einem spontanen Erfolg so rasch zu uns herüberkäme. Und die
uneingeschränkte Anerkennung der Anschauung des einen wäre auch nur wieder
ein vereinzeltes Zeichen der Zeit. Erst aus einer Häufung derartiger Er¬
scheinungen dürfte man auf einen Umschwung schließen.

Zwar will es scheinen, als ob sich auch in der Belletristik ein solcher
Umschwung vorbereite. Im psychologischen Roman, der allein schon durch
das Betonen der Persönlichkeit in ihrem Wachsen und Werden gegenüber dem
Aufeinanderprallen der Massen mit ihren gröbern Konflikten als berufner
Träger einer solchen Mission anzusehen ist, werden diese Strömungen am
ehesten nachzuweisen sein. Und zwar richtet sich die Reaktion der modernen
Schriftsteller nicht allein gegen die Realisten, die ihrer Unzufriedenheit mit
den sozialen Verhältnissen in widerwärtigen Schilderungen aus den dunkelsten
Regionen der Großstädte Luft machen; dieser junge Nachwuchs protestiert
auch — weniger in Worten als durch sein Werk — gegen die sogenannte
Tradition Hawthornes, die sich in psychologischen Tüfteleien verliert und ein
siebenfach verschleiertes Bild des Lebens gibt. Hinter diesen Schleiern bergen
sich die angeblich handelnden Personen, die aber kaum je zu einer entscheidenden
Tat kommen, weil sie mit dem Beobachten ihrer Impulse und Instinkte aus¬
reichend beschäftigt sind. Sie verlernen hierbei sogar, sich in der noch immer
gebräuchlichen menschlichen Sprache verständlich zu machen. Henry James,
der typische Vertreter dieser degenerierten Erzühlungskunst, sinkt allgemach von
dem hohen Piedestal, das ihm seine Zeitgenossen eingeräumt hatten, herab.
Man beginnt sich zu fragen, welcher edle Kern denn dieses schimmernde Stil¬
gewand wertvoll mache. Man überlegt, ob diese temperamentlosen Stimmungs¬
menschen, die James mit Vorliebe zum Gegenstände seiner Studien wählt,
überhaupt so viel Interesse wert sind, daß man sich über das Wie und Warum
ihrer innern Konflikte den Kopf zerbricht, geschweige denn des Verfassers
spaltenlange Analysen darüber liest. Das amerikanische Lesepublikum hat sein
Urteil über James gesprochen; nur die Romane seiner frühesten Schaffens¬
periode kursieren auf dem Büchermarkt. Der Optimismus, den das rasche
Auf und Nieder im finanziellen und sozialen Leben drüben fördert, kann in
der weltmüden Resignation der Jamesschen Schriften nichts verwandtes finden.
Er wendet sich statt dessen den Jüngeren zu, die die Probleme der Gegenwart
und ihre Bedeutung für die psychologische Entwicklung des einzelnen versteh»
und diese Wechselbeziehungen zu erfassen und zu deuten wissen. Was Haw-
thorne angeht, der steht unantastbar auf seiner einsamen Höhe. Er sah in
künstlerischer Vision den Sonnenuntergang der auf puritanischer Ethik aufge¬
bauten neuenglischen Kultur. Sie zu beleben, hieße in das frische Leben der
Gegenwart den Modergeruch erstorbner Ideale hineintragen. Doch was an
Hawthornes Kunst unsterblich ist, sein Hineinstellen des Individuums in diese
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[0566] Neue Ziele des psychologischen Romans in Amerika Entfernung zwischen hüben und drüben ist zu groß, als daß selbst die Nach¬ richt von einem spontanen Erfolg so rasch zu uns herüberkäme. Und die uneingeschränkte Anerkennung der Anschauung des einen wäre auch nur wieder ein vereinzeltes Zeichen der Zeit. Erst aus einer Häufung derartiger Er¬ scheinungen dürfte man auf einen Umschwung schließen. Zwar will es scheinen, als ob sich auch in der Belletristik ein solcher Umschwung vorbereite. Im psychologischen Roman, der allein schon durch das Betonen der Persönlichkeit in ihrem Wachsen und Werden gegenüber dem Aufeinanderprallen der Massen mit ihren gröbern Konflikten als berufner Träger einer solchen Mission anzusehen ist, werden diese Strömungen am ehesten nachzuweisen sein. Und zwar richtet sich die Reaktion der modernen Schriftsteller nicht allein gegen die Realisten, die ihrer Unzufriedenheit mit den sozialen Verhältnissen in widerwärtigen Schilderungen aus den dunkelsten Regionen der Großstädte Luft machen; dieser junge Nachwuchs protestiert auch — weniger in Worten als durch sein Werk — gegen die sogenannte Tradition Hawthornes, die sich in psychologischen Tüfteleien verliert und ein siebenfach verschleiertes Bild des Lebens gibt. Hinter diesen Schleiern bergen sich die angeblich handelnden Personen, die aber kaum je zu einer entscheidenden Tat kommen, weil sie mit dem Beobachten ihrer Impulse und Instinkte aus¬ reichend beschäftigt sind. Sie verlernen hierbei sogar, sich in der noch immer gebräuchlichen menschlichen Sprache verständlich zu machen. Henry James, der typische Vertreter dieser degenerierten Erzühlungskunst, sinkt allgemach von dem hohen Piedestal, das ihm seine Zeitgenossen eingeräumt hatten, herab. Man beginnt sich zu fragen, welcher edle Kern denn dieses schimmernde Stil¬ gewand wertvoll mache. Man überlegt, ob diese temperamentlosen Stimmungs¬ menschen, die James mit Vorliebe zum Gegenstände seiner Studien wählt, überhaupt so viel Interesse wert sind, daß man sich über das Wie und Warum ihrer innern Konflikte den Kopf zerbricht, geschweige denn des Verfassers spaltenlange Analysen darüber liest. Das amerikanische Lesepublikum hat sein Urteil über James gesprochen; nur die Romane seiner frühesten Schaffens¬ periode kursieren auf dem Büchermarkt. Der Optimismus, den das rasche Auf und Nieder im finanziellen und sozialen Leben drüben fördert, kann in der weltmüden Resignation der Jamesschen Schriften nichts verwandtes finden. Er wendet sich statt dessen den Jüngeren zu, die die Probleme der Gegenwart und ihre Bedeutung für die psychologische Entwicklung des einzelnen versteh» und diese Wechselbeziehungen zu erfassen und zu deuten wissen. Was Haw- thorne angeht, der steht unantastbar auf seiner einsamen Höhe. Er sah in künstlerischer Vision den Sonnenuntergang der auf puritanischer Ethik aufge¬ bauten neuenglischen Kultur. Sie zu beleben, hieße in das frische Leben der Gegenwart den Modergeruch erstorbner Ideale hineintragen. Doch was an Hawthornes Kunst unsterblich ist, sein Hineinstellen des Individuums in diese Zeit des Kampfes zwischen zwei Weltanschauungen, das suchen die Jungen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/566>, abgerufen am 24.07.2024.