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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Pflichtgebot und Gewissen, von Recht und Unrecht redet. Das Pflichtgebot:
"du sollst" oder "du sollst nicht" hat nur einen Sinn, wenn es sich an Wesen
wendet, die sich eventuell auch anders bestimmen können, als das Pflichtgebot
fordert, aber um einer höhern innern Würde willen sich für das Gute be¬
stimmen sollen und dies auch können. Wenn dieses Wesen, vollständig unfrei
in sich, lediglich vom Kausalmechanismus beherrscht ist, so tut es in jedem
Augenblicke, was es eben muß, nach mechanischen Gesetzen tun muß, und ihm
ein Sittengesetz vorzuhalten, das von ihm auf Grund andrer Prinzipien ver¬
langt: du sollst nicht, ist ein barer Widersinn. Es hat dann auch keinen Sinn,
sich über die Bosheit und den Unverstand der Gegner zu entrüsten, wie die
Monisten es so reichlich tun. Die Gehirnfunktionen der Toren entstehn flach
demselben notwendigen Mechanismus wie die der Weisen. Daran ändert keine
Moralische Entrüstung etwas, sie ist also überflüssig.

Einheit von Materie und Geist, ein einziges weltbeherrschendes Prinzip,
der Kausalmechanismus, das auch die Entwicklung der Wesen unter Ausschluß
jedes Zweckgedankens erklärt, Einheit von Anorganischen und Organischen, ein
Urorganismus, somit Einheit des Stammbaums sämtlicher Lebewesen, Einheit
von Tier und Mensch, Einheit des Natürlichen und Sittlichen -- das ist das
Weltbild, das der heutige Monismus vor uns entrollt. Wir haben gesehen,
mit wieviel Widersprüchen und mit welcher Preisgebung wertvoller geistiger
Güter er seine Einheit erkauft. Der Trieb des Menschengeistes zur Einheit
gleicht an Übermächtigkeit dem physischen Hunger, der, falls er nichts andres
findet, auch in ungeeigneten, ja lebenzerstörenden Stoffen Nahrung und
Stillung sucht.

Seine große Macht in unsern Tagen erklärt sich aber schließlich und haupt¬
sächlich aus der Zustimmung der revolutionären Massen, die für ihre Neigungen
hier die wissenschaftliche Begründung, für ihre Überzeugungen den Beweis zu
finden glauben. Rom ö äa clirs, yuanto 8la grana'ö 1'autorits, ä'un äotto all
proksssiove, iüloroks vuot xrovaro aZii Mri is ooss, 6i oui sono Zia xersus-si*) --
in diesem Wort des italienischen Dichters Manzoni liegt das Geheimnis der
Erfolge des modernen Monismus. Über diesen verfrühten Versuch, die Einheit
de,r Weltanschauung zu gewinnen, wird die Zeit hinweggehn, wie sie über
unzählige frühere Versuche hinweggegangen ist. Der Trieb aber, aus dem er
geboren ist, ist in der Menschenseele unsterblich.





*) Es ist nicht zu sagen, wie groß die Autorität eines Gelehrten von Profession ist, "venu
er den andern die Dinge beweisen will, von denen sie schon überzeugt sind.

Pflichtgebot und Gewissen, von Recht und Unrecht redet. Das Pflichtgebot:
„du sollst" oder „du sollst nicht" hat nur einen Sinn, wenn es sich an Wesen
wendet, die sich eventuell auch anders bestimmen können, als das Pflichtgebot
fordert, aber um einer höhern innern Würde willen sich für das Gute be¬
stimmen sollen und dies auch können. Wenn dieses Wesen, vollständig unfrei
in sich, lediglich vom Kausalmechanismus beherrscht ist, so tut es in jedem
Augenblicke, was es eben muß, nach mechanischen Gesetzen tun muß, und ihm
ein Sittengesetz vorzuhalten, das von ihm auf Grund andrer Prinzipien ver¬
langt: du sollst nicht, ist ein barer Widersinn. Es hat dann auch keinen Sinn,
sich über die Bosheit und den Unverstand der Gegner zu entrüsten, wie die
Monisten es so reichlich tun. Die Gehirnfunktionen der Toren entstehn flach
demselben notwendigen Mechanismus wie die der Weisen. Daran ändert keine
Moralische Entrüstung etwas, sie ist also überflüssig.

Einheit von Materie und Geist, ein einziges weltbeherrschendes Prinzip,
der Kausalmechanismus, das auch die Entwicklung der Wesen unter Ausschluß
jedes Zweckgedankens erklärt, Einheit von Anorganischen und Organischen, ein
Urorganismus, somit Einheit des Stammbaums sämtlicher Lebewesen, Einheit
von Tier und Mensch, Einheit des Natürlichen und Sittlichen — das ist das
Weltbild, das der heutige Monismus vor uns entrollt. Wir haben gesehen,
mit wieviel Widersprüchen und mit welcher Preisgebung wertvoller geistiger
Güter er seine Einheit erkauft. Der Trieb des Menschengeistes zur Einheit
gleicht an Übermächtigkeit dem physischen Hunger, der, falls er nichts andres
findet, auch in ungeeigneten, ja lebenzerstörenden Stoffen Nahrung und
Stillung sucht.

Seine große Macht in unsern Tagen erklärt sich aber schließlich und haupt¬
sächlich aus der Zustimmung der revolutionären Massen, die für ihre Neigungen
hier die wissenschaftliche Begründung, für ihre Überzeugungen den Beweis zu
finden glauben. Rom ö äa clirs, yuanto 8la grana'ö 1'autorits, ä'un äotto all
proksssiove, iüloroks vuot xrovaro aZii Mri is ooss, 6i oui sono Zia xersus-si*) —
in diesem Wort des italienischen Dichters Manzoni liegt das Geheimnis der
Erfolge des modernen Monismus. Über diesen verfrühten Versuch, die Einheit
de,r Weltanschauung zu gewinnen, wird die Zeit hinweggehn, wie sie über
unzählige frühere Versuche hinweggegangen ist. Der Trieb aber, aus dem er
geboren ist, ist in der Menschenseele unsterblich.





*) Es ist nicht zu sagen, wie groß die Autorität eines Gelehrten von Profession ist, »venu
er den andern die Dinge beweisen will, von denen sie schon überzeugt sind.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/559>, abgerufen am 24.07.2024.