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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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"Ane Hilfe zur Luthanasie

-- von einem Turme herab -- antrat, ein Glas Wein getrunken hat. Ja,
werden die heutigen Nervenärzte sagen, wenn man ein Turmseil begehn will,
darf man eben auch nicht ein Milligramm Alkohol im Leibe haben! Der Mann
hat nämlich keinen Fehltritt getan, obwohl er mit verbundnen Augen und
einen Sack über den Kopf ging, sondern die Ungeschickten, denen er zurief, sie
möchten das Seil straffer spannen, rissen das Gestell um, an dem das untere
Ende des Seits befestigt war. Von einem wilden Tiere gefressen zu werden,
soll nicht so schlimm sein, wie es aussieht. Die Zähne der Bestie mögen
ja schließlich wehtun, aber wenigstens empfindet der Gepackte keine Angst, ehe
das Zerreißen beginnt, und selbst dieses schmerzt anfangs nicht, versichert
Livingstone. Er kam unter einen Löwen zu liegen, der ihn schüttelte, "wie
ein Foxterrier eine Ratte schüttelt", dabei aber den Blick auf einen andern
Mann gerichtet hielt, der eben anlegte. Der Schuß traf, und der Löwe ließ
sein Opfer los, um sich auf den Schützen zu stürzen. Livingstone versichert
nun, er habe weder Schmerz noch Angst empfunden, obwohl er auch gebissen
wurde, elf Wunden und einen zerschmetterten Oberarm davontrug. Wahr¬
scheinlich, meint der Forscher und Missionar, versetze die gütige Vorsehung alle
Tiere, die von Raubtieren gefressen werden, in einen solchen Zustand der
Apathie, wie er ihn selbst an sich erfahren habe. Da heute, wo xanom et
"ÄrosnsLs wieder eine beliebte Losung ist, nicht selten Helden und Heldinnen
des Zirkus in allzu intime Berührung mit deu Tatzen und Zähnen ihrer
großen Katzen kommen, dürften authentische Aufschlüsse über die Empfindungen
Angefallner und schwer Verletzter leicht zu erlangen sein. Wenn solche die
Wahrnehmungen Livingstones bestätigten, so wäre ja damit eins der Argumente
der Pessimisten aus der Welt geschafft. Über die Natur und die Wirkungen
der Verwundungen im Kriege haben uns Militärärzte so viel erzählt, daß wir
Blochs Erörterungen nicht zu studieren brauchen. Doch mag die Äußerung
eines dänischen Soldaten angeführt werden, die er mitteilt, und die Erklärung,
die er versucht. "Nein, der Tod auf dem Walplatz, unter dem Donner der
Kanonen, den Salven der Gewehre und den Hurrarufen der Soldaten ist licht
und schön!" Block) meint: Kanonendonner, das Fallen vieler Kameraden, der
Anblick der Verwundeten und Verstümmelten, ihre Schmerzensschreie machten
darum keinen Eindruck, weil so viel wechselnde Erscheinungen auf die Sinne
des Kämpfenden einstürmten, daß keiner einzigen Zeit gelassen werde, vom
Bewußtsein aufgenommen zu werden. Das läßt sich hören. Es ist eine be¬
kannte Tatsache, daß eine gewisse Wahrnehmung: ein schönes oder ein schreck¬
liches Bild, ein Wort, ein Ton, die für sich allein tiefen Eindruck machen
würde, ohne jede Wirkung vorübergleitet, wenn sie nur eine von etlichen
hundert gleichartigen ist. Hinrichtungen sind, Gott sei Dank, heute kein Gegen¬
stand täglicher Erwägungen mehr, doch mag erwähnt werden, daß Bloch eine
höchst widerwärtige Befürchtung entkräftet. Von Guillotinierten wird erzählt,
daß ihre Gesichtsmuskeln Bewegungen gemacht hätten, die bewiesen, daß im


«Ane Hilfe zur Luthanasie

— von einem Turme herab — antrat, ein Glas Wein getrunken hat. Ja,
werden die heutigen Nervenärzte sagen, wenn man ein Turmseil begehn will,
darf man eben auch nicht ein Milligramm Alkohol im Leibe haben! Der Mann
hat nämlich keinen Fehltritt getan, obwohl er mit verbundnen Augen und
einen Sack über den Kopf ging, sondern die Ungeschickten, denen er zurief, sie
möchten das Seil straffer spannen, rissen das Gestell um, an dem das untere
Ende des Seits befestigt war. Von einem wilden Tiere gefressen zu werden,
soll nicht so schlimm sein, wie es aussieht. Die Zähne der Bestie mögen
ja schließlich wehtun, aber wenigstens empfindet der Gepackte keine Angst, ehe
das Zerreißen beginnt, und selbst dieses schmerzt anfangs nicht, versichert
Livingstone. Er kam unter einen Löwen zu liegen, der ihn schüttelte, „wie
ein Foxterrier eine Ratte schüttelt", dabei aber den Blick auf einen andern
Mann gerichtet hielt, der eben anlegte. Der Schuß traf, und der Löwe ließ
sein Opfer los, um sich auf den Schützen zu stürzen. Livingstone versichert
nun, er habe weder Schmerz noch Angst empfunden, obwohl er auch gebissen
wurde, elf Wunden und einen zerschmetterten Oberarm davontrug. Wahr¬
scheinlich, meint der Forscher und Missionar, versetze die gütige Vorsehung alle
Tiere, die von Raubtieren gefressen werden, in einen solchen Zustand der
Apathie, wie er ihn selbst an sich erfahren habe. Da heute, wo xanom et
«ÄrosnsLs wieder eine beliebte Losung ist, nicht selten Helden und Heldinnen
des Zirkus in allzu intime Berührung mit deu Tatzen und Zähnen ihrer
großen Katzen kommen, dürften authentische Aufschlüsse über die Empfindungen
Angefallner und schwer Verletzter leicht zu erlangen sein. Wenn solche die
Wahrnehmungen Livingstones bestätigten, so wäre ja damit eins der Argumente
der Pessimisten aus der Welt geschafft. Über die Natur und die Wirkungen
der Verwundungen im Kriege haben uns Militärärzte so viel erzählt, daß wir
Blochs Erörterungen nicht zu studieren brauchen. Doch mag die Äußerung
eines dänischen Soldaten angeführt werden, die er mitteilt, und die Erklärung,
die er versucht. „Nein, der Tod auf dem Walplatz, unter dem Donner der
Kanonen, den Salven der Gewehre und den Hurrarufen der Soldaten ist licht
und schön!" Block) meint: Kanonendonner, das Fallen vieler Kameraden, der
Anblick der Verwundeten und Verstümmelten, ihre Schmerzensschreie machten
darum keinen Eindruck, weil so viel wechselnde Erscheinungen auf die Sinne
des Kämpfenden einstürmten, daß keiner einzigen Zeit gelassen werde, vom
Bewußtsein aufgenommen zu werden. Das läßt sich hören. Es ist eine be¬
kannte Tatsache, daß eine gewisse Wahrnehmung: ein schönes oder ein schreck¬
liches Bild, ein Wort, ein Ton, die für sich allein tiefen Eindruck machen
würde, ohne jede Wirkung vorübergleitet, wenn sie nur eine von etlichen
hundert gleichartigen ist. Hinrichtungen sind, Gott sei Dank, heute kein Gegen¬
stand täglicher Erwägungen mehr, doch mag erwähnt werden, daß Bloch eine
höchst widerwärtige Befürchtung entkräftet. Von Guillotinierten wird erzählt,
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/510>, abgerufen am 24.07.2024.