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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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"Line Hilfe zur Euthanasie

Wie plötzlich ihre Kleider aufflammten, sie selbst zu Boden stürzte und sich in
eine unförmliche Masse verwandelte. Dasselbe kann bei Explosionen über und
unter der Erde eintreten. Handelt es sich in einem Bergwerk nicht um
brennende Gase, sondern nur um Verschlechterung der Luft durch giftige Gase
oder bloß durch den Umstand, daß der Sauerstoff im Stollen allmählich ver¬
braucht wird, so kann der in solcher Lust befindliche lange und schwer leiden
^ seine Organe akkommodieren sich den sich allmählich verschlechternden Lebens¬
bedingungen --; dagegen wird vielleicht ein Mann, der als Retter einfährt
und plötzlich in die verdorbne Luftschicht eintritt, sofort tot hinfallen, während
die zu Rettenden noch am Leben sind. Solche Fälle sind vorgekommen, und
ihre Möglichkeit ist außerdem durchs Experiment erwiesen worden. Man setzt
einen Vogel unter eine Glasglocke. Er verbraucht allmählich den Sauerstoff der
Luft; man sieht ihn matt werden und nach Luft schnappen. Während er noch
lebt, wird ein zweiter Vogel hineingesteckt, und dieser stirbt augenblicklich. Wie
der Mensch sich und seine Mitmenschen durch seinen eignen Atem vergiftet, ist
auf das schauerlichste deutlich geworden durch die Untat des Suradschah Dankens,
der 146 Engländer eine Tropennacht hindurch in einem engen Gemach ge¬
fangen hielt. Am Morgen lebten noch 23. Die Unglücklichen hatten furchtbar
gelitten, wie man aus Macaulays berühmter Schilderung weiß. Ein Er¬
stickungstod ist auch der durch Erbangen und Ertrinken. Von diesem mag
nur erwähnt werden, daß, wie Bloch versichert, ein ins Wasser gefallner, der
nicht schwimmen kann, nur sehr kurze Zeit zu leiden hat. Den Atem eine
ganze Minute anzuhalten, vermögen selbst geübte Tauchkünstler nicht, und so¬
bald geatmet wird, führt das eindringende Wasser den Erstickungstod herbei.
Wer sechs Minuten unter Wasser gelegen hat, bei dem sind alle Wieder¬
belebungsversuche vergebens. Bewußtlosigkeit tritt nach Bloch auch sehr häufig
bei Verletzung durch äußere Gewalten ein, zum Beispiel bei Eisenbahnunfällen,
selbst dann, wenn nicht die edelsten Organe verletzt, sondern etwa die Hüft¬
knochen zermalmt werden. Er führt Fälle an, wo Schwerverletzte noch ein
Stück gegangen sind, zweckmäßige Handlungen vorgenommen und gesprochen,
dann aber von dem, was mit ihnen und von ihnen selbst geschehen ist, nichts
gewußt haben; ihre Bewegungen waren automatisch gewesen. Berichte über
Äußerungen Gestürzter werden viele mitgeteilt. Die meisten stimmen darin
überein, daß sie während des Sturzes keine Angst empfunden haben. Der
Geologe Heim erzählte im Züricher Alpenkind 1902, wie ihm bei einem Ab¬
sturz im Jahre 1871 zumute gewesen sei. Er sah "wie auf einer Schau¬
bühne sein ganzes verflossenes Leben sich abspiegeln". (Gegen die Berichte
über Abrollen des Lebenslaufs in Augenblicken der Lebensgefahr oder beim
Sterben verhält sich Bloch skeptisch.) Er sah sich selbst wie die Hauptperson
in diesem Schauspiel; "alles war wie verklärt in himmlischem Licht; es war
schön, ohne Angst, ohne Schmerz, ohne Qual." Der Sturz eines Seiltänzers
ist mir deshalb interessant, weil der Mann, ehe er seinen gefährlichen Weg


Grenzboten IV 1909 64
«Line Hilfe zur Euthanasie

Wie plötzlich ihre Kleider aufflammten, sie selbst zu Boden stürzte und sich in
eine unförmliche Masse verwandelte. Dasselbe kann bei Explosionen über und
unter der Erde eintreten. Handelt es sich in einem Bergwerk nicht um
brennende Gase, sondern nur um Verschlechterung der Luft durch giftige Gase
oder bloß durch den Umstand, daß der Sauerstoff im Stollen allmählich ver¬
braucht wird, so kann der in solcher Lust befindliche lange und schwer leiden
^ seine Organe akkommodieren sich den sich allmählich verschlechternden Lebens¬
bedingungen —; dagegen wird vielleicht ein Mann, der als Retter einfährt
und plötzlich in die verdorbne Luftschicht eintritt, sofort tot hinfallen, während
die zu Rettenden noch am Leben sind. Solche Fälle sind vorgekommen, und
ihre Möglichkeit ist außerdem durchs Experiment erwiesen worden. Man setzt
einen Vogel unter eine Glasglocke. Er verbraucht allmählich den Sauerstoff der
Luft; man sieht ihn matt werden und nach Luft schnappen. Während er noch
lebt, wird ein zweiter Vogel hineingesteckt, und dieser stirbt augenblicklich. Wie
der Mensch sich und seine Mitmenschen durch seinen eignen Atem vergiftet, ist
auf das schauerlichste deutlich geworden durch die Untat des Suradschah Dankens,
der 146 Engländer eine Tropennacht hindurch in einem engen Gemach ge¬
fangen hielt. Am Morgen lebten noch 23. Die Unglücklichen hatten furchtbar
gelitten, wie man aus Macaulays berühmter Schilderung weiß. Ein Er¬
stickungstod ist auch der durch Erbangen und Ertrinken. Von diesem mag
nur erwähnt werden, daß, wie Bloch versichert, ein ins Wasser gefallner, der
nicht schwimmen kann, nur sehr kurze Zeit zu leiden hat. Den Atem eine
ganze Minute anzuhalten, vermögen selbst geübte Tauchkünstler nicht, und so¬
bald geatmet wird, führt das eindringende Wasser den Erstickungstod herbei.
Wer sechs Minuten unter Wasser gelegen hat, bei dem sind alle Wieder¬
belebungsversuche vergebens. Bewußtlosigkeit tritt nach Bloch auch sehr häufig
bei Verletzung durch äußere Gewalten ein, zum Beispiel bei Eisenbahnunfällen,
selbst dann, wenn nicht die edelsten Organe verletzt, sondern etwa die Hüft¬
knochen zermalmt werden. Er führt Fälle an, wo Schwerverletzte noch ein
Stück gegangen sind, zweckmäßige Handlungen vorgenommen und gesprochen,
dann aber von dem, was mit ihnen und von ihnen selbst geschehen ist, nichts
gewußt haben; ihre Bewegungen waren automatisch gewesen. Berichte über
Äußerungen Gestürzter werden viele mitgeteilt. Die meisten stimmen darin
überein, daß sie während des Sturzes keine Angst empfunden haben. Der
Geologe Heim erzählte im Züricher Alpenkind 1902, wie ihm bei einem Ab¬
sturz im Jahre 1871 zumute gewesen sei. Er sah „wie auf einer Schau¬
bühne sein ganzes verflossenes Leben sich abspiegeln". (Gegen die Berichte
über Abrollen des Lebenslaufs in Augenblicken der Lebensgefahr oder beim
Sterben verhält sich Bloch skeptisch.) Er sah sich selbst wie die Hauptperson
in diesem Schauspiel; „alles war wie verklärt in himmlischem Licht; es war
schön, ohne Angst, ohne Schmerz, ohne Qual." Der Sturz eines Seiltänzers
ist mir deshalb interessant, weil der Mann, ehe er seinen gefährlichen Weg


Grenzboten IV 1909 64
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[0509] «Line Hilfe zur Euthanasie Wie plötzlich ihre Kleider aufflammten, sie selbst zu Boden stürzte und sich in eine unförmliche Masse verwandelte. Dasselbe kann bei Explosionen über und unter der Erde eintreten. Handelt es sich in einem Bergwerk nicht um brennende Gase, sondern nur um Verschlechterung der Luft durch giftige Gase oder bloß durch den Umstand, daß der Sauerstoff im Stollen allmählich ver¬ braucht wird, so kann der in solcher Lust befindliche lange und schwer leiden ^ seine Organe akkommodieren sich den sich allmählich verschlechternden Lebens¬ bedingungen —; dagegen wird vielleicht ein Mann, der als Retter einfährt und plötzlich in die verdorbne Luftschicht eintritt, sofort tot hinfallen, während die zu Rettenden noch am Leben sind. Solche Fälle sind vorgekommen, und ihre Möglichkeit ist außerdem durchs Experiment erwiesen worden. Man setzt einen Vogel unter eine Glasglocke. Er verbraucht allmählich den Sauerstoff der Luft; man sieht ihn matt werden und nach Luft schnappen. Während er noch lebt, wird ein zweiter Vogel hineingesteckt, und dieser stirbt augenblicklich. Wie der Mensch sich und seine Mitmenschen durch seinen eignen Atem vergiftet, ist auf das schauerlichste deutlich geworden durch die Untat des Suradschah Dankens, der 146 Engländer eine Tropennacht hindurch in einem engen Gemach ge¬ fangen hielt. Am Morgen lebten noch 23. Die Unglücklichen hatten furchtbar gelitten, wie man aus Macaulays berühmter Schilderung weiß. Ein Er¬ stickungstod ist auch der durch Erbangen und Ertrinken. Von diesem mag nur erwähnt werden, daß, wie Bloch versichert, ein ins Wasser gefallner, der nicht schwimmen kann, nur sehr kurze Zeit zu leiden hat. Den Atem eine ganze Minute anzuhalten, vermögen selbst geübte Tauchkünstler nicht, und so¬ bald geatmet wird, führt das eindringende Wasser den Erstickungstod herbei. Wer sechs Minuten unter Wasser gelegen hat, bei dem sind alle Wieder¬ belebungsversuche vergebens. Bewußtlosigkeit tritt nach Bloch auch sehr häufig bei Verletzung durch äußere Gewalten ein, zum Beispiel bei Eisenbahnunfällen, selbst dann, wenn nicht die edelsten Organe verletzt, sondern etwa die Hüft¬ knochen zermalmt werden. Er führt Fälle an, wo Schwerverletzte noch ein Stück gegangen sind, zweckmäßige Handlungen vorgenommen und gesprochen, dann aber von dem, was mit ihnen und von ihnen selbst geschehen ist, nichts gewußt haben; ihre Bewegungen waren automatisch gewesen. Berichte über Äußerungen Gestürzter werden viele mitgeteilt. Die meisten stimmen darin überein, daß sie während des Sturzes keine Angst empfunden haben. Der Geologe Heim erzählte im Züricher Alpenkind 1902, wie ihm bei einem Ab¬ sturz im Jahre 1871 zumute gewesen sei. Er sah „wie auf einer Schau¬ bühne sein ganzes verflossenes Leben sich abspiegeln". (Gegen die Berichte über Abrollen des Lebenslaufs in Augenblicken der Lebensgefahr oder beim Sterben verhält sich Bloch skeptisch.) Er sah sich selbst wie die Hauptperson in diesem Schauspiel; „alles war wie verklärt in himmlischem Licht; es war schön, ohne Angst, ohne Schmerz, ohne Qual." Der Sturz eines Seiltänzers ist mir deshalb interessant, weil der Mann, ehe er seinen gefährlichen Weg Grenzboten IV 1909 64

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/509>, abgerufen am 24.07.2024.