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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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mittlern und untern Klassen wirken, mögen diese wollen oder nicht. Auch der
Wirkung des Cäsarenkultes konnte sich die junge Christengemeinde nicht ent¬
ziehen, nur daß jetzt ein religiöser Gemütskultus daraus wurde, der die scheinbar
stumpfe Masse individualisierte und veredelte, der aus den Massenseelen Einzel¬
seelen schuf.

Man sieht also: ein prinzipieller Gegensatz zwischen Hoch und Niedrig läßt
sich gerade in kultur- und religionsgeschichtlicher Hinsicht am wenigsten kon¬
struieren; wenn irgendwo, sind hier die Grenzen fließend, und es müssen Mittel¬
glieder bestanden haben, die sowohl die alte Kultur wie die neue Religion in
die Massen getragen haben, Vermittler zwischen den Gebildeten und dem Volk,
Leute, die weder Akademiker zu sein brauchten noch Handwerker, die aber uni¬
versal genug angelegt und frei genug von Stcmdesvornrteil waren, um sich mit
beiden zu verständigen. Das ist ja gerade das Machtgeheimnis des Christen¬
tums, daß es die Schranken von Stand, Besitz und Bildung niederriß, daß es
den wenigen wie den vielen die Pforten weit auftat. Wohl zündete der neue
Glaube zuerst bei den vielen, aber die ihn verkündeten, waren immer nur die
wenigen, die einzelnen, auserlesnen. Und so ist auch die Deißmannsche Auf¬
fassung des Neuen Testaments als eines Volksbuches durchaus richtig, wenn
wir es nehmen in dem Sinne, daß es für das Volk verfaßt war von Männern,
die im Volke wurzelnd weit über dem Volke standen.




Eine Hilfe zur Euthanasie

WNloethe ließ sich nicht gern an den Tod erinnern; mit Todes¬
gedanken, meinte er, beschäftigten sich nur solche Leute, die im
Leben nichts Ordentliches zu tun hätten. Lessing hatte wahrlich
genug Ordentliches zu tun, aber weil ihm ein weniger heiteres
>Los zugefallen war als der Exzellenz unter den Genies, sah
er den Tod für einen guten Freund an und widmete ihm die bekannte ästhetische
Abhandlung. Es hat, bemerkt er im Schluß, "Weltweise gegeben, welche das
Leben für eine Strafe hielten, aber den Tod für eine Strafe zu halten, das
konnte ohne Offenbarung schlechterdings in keines Menschen Gedanken kommen,
der nur seine Vernunft brauchte". Und als ihm nach kurzem Eheglück der
eben geborne Sohn starb, schrieb er an Eschenburg: "Ich verlor ihn so un¬
gern, diesen Sohn! Denn er hatte soviel Verstand, soviel Verstand! Ich weiß,
was ich sage. War es nicht Verstand, daß man ihn mit eisernen Zangen auf
die Welt ziehen mußte? Daß er sobald Unrat witterte? War es nicht Ver¬
stand, daß er die erste Gelegenheit ergriff, sich wieder davon zu machen?
Freilich zerrt mir der kleine Nuschelkopf auch die Mutter mit fort." Sie starb


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mittlern und untern Klassen wirken, mögen diese wollen oder nicht. Auch der
Wirkung des Cäsarenkultes konnte sich die junge Christengemeinde nicht ent¬
ziehen, nur daß jetzt ein religiöser Gemütskultus daraus wurde, der die scheinbar
stumpfe Masse individualisierte und veredelte, der aus den Massenseelen Einzel¬
seelen schuf.

Man sieht also: ein prinzipieller Gegensatz zwischen Hoch und Niedrig läßt
sich gerade in kultur- und religionsgeschichtlicher Hinsicht am wenigsten kon¬
struieren; wenn irgendwo, sind hier die Grenzen fließend, und es müssen Mittel¬
glieder bestanden haben, die sowohl die alte Kultur wie die neue Religion in
die Massen getragen haben, Vermittler zwischen den Gebildeten und dem Volk,
Leute, die weder Akademiker zu sein brauchten noch Handwerker, die aber uni¬
versal genug angelegt und frei genug von Stcmdesvornrteil waren, um sich mit
beiden zu verständigen. Das ist ja gerade das Machtgeheimnis des Christen¬
tums, daß es die Schranken von Stand, Besitz und Bildung niederriß, daß es
den wenigen wie den vielen die Pforten weit auftat. Wohl zündete der neue
Glaube zuerst bei den vielen, aber die ihn verkündeten, waren immer nur die
wenigen, die einzelnen, auserlesnen. Und so ist auch die Deißmannsche Auf¬
fassung des Neuen Testaments als eines Volksbuches durchaus richtig, wenn
wir es nehmen in dem Sinne, daß es für das Volk verfaßt war von Männern,
die im Volke wurzelnd weit über dem Volke standen.




Eine Hilfe zur Euthanasie

WNloethe ließ sich nicht gern an den Tod erinnern; mit Todes¬
gedanken, meinte er, beschäftigten sich nur solche Leute, die im
Leben nichts Ordentliches zu tun hätten. Lessing hatte wahrlich
genug Ordentliches zu tun, aber weil ihm ein weniger heiteres
>Los zugefallen war als der Exzellenz unter den Genies, sah
er den Tod für einen guten Freund an und widmete ihm die bekannte ästhetische
Abhandlung. Es hat, bemerkt er im Schluß, „Weltweise gegeben, welche das
Leben für eine Strafe hielten, aber den Tod für eine Strafe zu halten, das
konnte ohne Offenbarung schlechterdings in keines Menschen Gedanken kommen,
der nur seine Vernunft brauchte". Und als ihm nach kurzem Eheglück der
eben geborne Sohn starb, schrieb er an Eschenburg: „Ich verlor ihn so un¬
gern, diesen Sohn! Denn er hatte soviel Verstand, soviel Verstand! Ich weiß,
was ich sage. War es nicht Verstand, daß man ihn mit eisernen Zangen auf
die Welt ziehen mußte? Daß er sobald Unrat witterte? War es nicht Ver¬
stand, daß er die erste Gelegenheit ergriff, sich wieder davon zu machen?
Freilich zerrt mir der kleine Nuschelkopf auch die Mutter mit fort." Sie starb


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[0502] «Line Hilfe zur Euthanasie mittlern und untern Klassen wirken, mögen diese wollen oder nicht. Auch der Wirkung des Cäsarenkultes konnte sich die junge Christengemeinde nicht ent¬ ziehen, nur daß jetzt ein religiöser Gemütskultus daraus wurde, der die scheinbar stumpfe Masse individualisierte und veredelte, der aus den Massenseelen Einzel¬ seelen schuf. Man sieht also: ein prinzipieller Gegensatz zwischen Hoch und Niedrig läßt sich gerade in kultur- und religionsgeschichtlicher Hinsicht am wenigsten kon¬ struieren; wenn irgendwo, sind hier die Grenzen fließend, und es müssen Mittel¬ glieder bestanden haben, die sowohl die alte Kultur wie die neue Religion in die Massen getragen haben, Vermittler zwischen den Gebildeten und dem Volk, Leute, die weder Akademiker zu sein brauchten noch Handwerker, die aber uni¬ versal genug angelegt und frei genug von Stcmdesvornrteil waren, um sich mit beiden zu verständigen. Das ist ja gerade das Machtgeheimnis des Christen¬ tums, daß es die Schranken von Stand, Besitz und Bildung niederriß, daß es den wenigen wie den vielen die Pforten weit auftat. Wohl zündete der neue Glaube zuerst bei den vielen, aber die ihn verkündeten, waren immer nur die wenigen, die einzelnen, auserlesnen. Und so ist auch die Deißmannsche Auf¬ fassung des Neuen Testaments als eines Volksbuches durchaus richtig, wenn wir es nehmen in dem Sinne, daß es für das Volk verfaßt war von Männern, die im Volke wurzelnd weit über dem Volke standen. Eine Hilfe zur Euthanasie WNloethe ließ sich nicht gern an den Tod erinnern; mit Todes¬ gedanken, meinte er, beschäftigten sich nur solche Leute, die im Leben nichts Ordentliches zu tun hätten. Lessing hatte wahrlich genug Ordentliches zu tun, aber weil ihm ein weniger heiteres >Los zugefallen war als der Exzellenz unter den Genies, sah er den Tod für einen guten Freund an und widmete ihm die bekannte ästhetische Abhandlung. Es hat, bemerkt er im Schluß, „Weltweise gegeben, welche das Leben für eine Strafe hielten, aber den Tod für eine Strafe zu halten, das konnte ohne Offenbarung schlechterdings in keines Menschen Gedanken kommen, der nur seine Vernunft brauchte". Und als ihm nach kurzem Eheglück der eben geborne Sohn starb, schrieb er an Eschenburg: „Ich verlor ihn so un¬ gern, diesen Sohn! Denn er hatte soviel Verstand, soviel Verstand! Ich weiß, was ich sage. War es nicht Verstand, daß man ihn mit eisernen Zangen auf die Welt ziehen mußte? Daß er sobald Unrat witterte? War es nicht Ver¬ stand, daß er die erste Gelegenheit ergriff, sich wieder davon zu machen? Freilich zerrt mir der kleine Nuschelkopf auch die Mutter mit fort." Sie starb

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/502>, abgerufen am 24.07.2024.