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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Geschichte des Leipziger Schulwesens

sieben Jahre später schrieb Goethe, der Schüler Ösers und Winckelmanns,
seine "Iphigenie", der Neuhumanismus wird das Lebensprinzip der deutschen
Literatur und des Schulwesens. Er betont das Griechentum vor dem Römer-
tum. "Der Deutsche sollte Heitere werden, um ein wahrer Mensch zu sein."
Die neue Richtung führte auch auf den beiden Leipziger Gelehrtenschulen all-
mühlich zu einer starkem Betonung des Griechischen: neben Homer, den schon
Reiske gelesen hatte, traten nun auch Plato und die Tragiker in größerm
Umfang hervor. Neben dem Neuhumanismus bestimmt der auf Rousseau zurück¬
gehende Naturalismus das Schulwesen des ausgehenden achtzehnten Jahr¬
hunderts. Auf ihm baute der Schweizer Heinrich Pestalozzi (1746 bis 1827)
den "Anschauungsunterricht" der modernen Volksschule auf. In Leipzig, wo
bisher das Bedürfnis nach einer lediglich elementaren Bildung durch Winkel¬
schulen und die untersten Klassen der Lateinschulen mir ganz notdürftig befriedigt
worden war, bewirkte 1789 der Bürgermeister Müller endlich die Gründung
einer Ratsfreischule für diesen Zweck. Aus den alten Baracken der Schloßmiliz
im Zwinger der Pleißenburg wurde mit geringem Aufwands ein langgestrecktes
schmales Schulhaus hergestellt, in dem am 17. April 1792 der Unterricht mit
171 Kindern eröffnet wurde; zu Ostern 1793 stieg ihre Zahl schon auf 300.
Im Jahre 1793 traten die "Schule im Arbeitshause" und die "Waisenhaus¬
schule" hinzu. Am 2. Januar 1804 wurde auch die erste Leipziger Bürgerschule
unter dem Direktor Ludwig Friedrich Gedike, der bis dahin Rektor des Bautzner
Gymnasiums gewesen war, aufgetan, und zwar sofort mit 238 Schülern und
Schülerinnen.

So hatte in Leipzig binnen wenigen Jahren die Bürgerschaft ein blühendes
Volksschulwesen geschaffen; was die Reformation nicht vermocht hatte, leistete
hier die rationalistische Aufklärung. Dagegen scheiterte der Plan des Vor¬
stehers der Nikolaischule Jakob Born, dieser Lateinschule eine "Real- und
Kaufmannsschule" (Briefschreiben, Logik, Moral, Französisch, Englisch, Italienisch,
Geographie, Rechnen und Buchhaltung) anzugliedern, im Jahre 1776 voll¬
ständig an der ganz unorganischen Verbindung der Kaufmannsschule mit einer
Lateinschule und an andern Schwierigkeiten.

Eine schwere Störung erlitt das ganze Leipziger Schulwesen durch das
Zeitalter der Franzosenkriege, das auch den materiellen Wohlstand der Stadt
vernichtete. Kaemmel zeigt in fesselnden Bildern, wie das Kriegselend auch die
Schulen heimsuchte, wie es selbst der Lehrerschaft in dem großen Kampfe an
einem entschieden deutsch-patriotischen Standpunkte fehlte und nach Lage der
Sache fehlen mußte, wie aber allmählich das deutsche Gefühl durchbrach, sodaß
Thomaner und Nikolaitaner in Lützows Freikorps eintraten oder später im
"Banner der freiwilligen Sachsen" gegen die Franzosen zu Felde zogen. Nach
dem Kriege, etwa um 1820. wurden beide Lateinschulen neu organisiert, wobei
besonders K. F. August Robbe hervortrat. Auch die materielle Lage der Rektoren
und Lehrer bessert sich und wird endlich auf eine feste Basis gestellt. Seitdem


Geschichte des Leipziger Schulwesens

sieben Jahre später schrieb Goethe, der Schüler Ösers und Winckelmanns,
seine „Iphigenie", der Neuhumanismus wird das Lebensprinzip der deutschen
Literatur und des Schulwesens. Er betont das Griechentum vor dem Römer-
tum. „Der Deutsche sollte Heitere werden, um ein wahrer Mensch zu sein."
Die neue Richtung führte auch auf den beiden Leipziger Gelehrtenschulen all-
mühlich zu einer starkem Betonung des Griechischen: neben Homer, den schon
Reiske gelesen hatte, traten nun auch Plato und die Tragiker in größerm
Umfang hervor. Neben dem Neuhumanismus bestimmt der auf Rousseau zurück¬
gehende Naturalismus das Schulwesen des ausgehenden achtzehnten Jahr¬
hunderts. Auf ihm baute der Schweizer Heinrich Pestalozzi (1746 bis 1827)
den „Anschauungsunterricht" der modernen Volksschule auf. In Leipzig, wo
bisher das Bedürfnis nach einer lediglich elementaren Bildung durch Winkel¬
schulen und die untersten Klassen der Lateinschulen mir ganz notdürftig befriedigt
worden war, bewirkte 1789 der Bürgermeister Müller endlich die Gründung
einer Ratsfreischule für diesen Zweck. Aus den alten Baracken der Schloßmiliz
im Zwinger der Pleißenburg wurde mit geringem Aufwands ein langgestrecktes
schmales Schulhaus hergestellt, in dem am 17. April 1792 der Unterricht mit
171 Kindern eröffnet wurde; zu Ostern 1793 stieg ihre Zahl schon auf 300.
Im Jahre 1793 traten die „Schule im Arbeitshause" und die „Waisenhaus¬
schule" hinzu. Am 2. Januar 1804 wurde auch die erste Leipziger Bürgerschule
unter dem Direktor Ludwig Friedrich Gedike, der bis dahin Rektor des Bautzner
Gymnasiums gewesen war, aufgetan, und zwar sofort mit 238 Schülern und
Schülerinnen.

So hatte in Leipzig binnen wenigen Jahren die Bürgerschaft ein blühendes
Volksschulwesen geschaffen; was die Reformation nicht vermocht hatte, leistete
hier die rationalistische Aufklärung. Dagegen scheiterte der Plan des Vor¬
stehers der Nikolaischule Jakob Born, dieser Lateinschule eine „Real- und
Kaufmannsschule" (Briefschreiben, Logik, Moral, Französisch, Englisch, Italienisch,
Geographie, Rechnen und Buchhaltung) anzugliedern, im Jahre 1776 voll¬
ständig an der ganz unorganischen Verbindung der Kaufmannsschule mit einer
Lateinschule und an andern Schwierigkeiten.

Eine schwere Störung erlitt das ganze Leipziger Schulwesen durch das
Zeitalter der Franzosenkriege, das auch den materiellen Wohlstand der Stadt
vernichtete. Kaemmel zeigt in fesselnden Bildern, wie das Kriegselend auch die
Schulen heimsuchte, wie es selbst der Lehrerschaft in dem großen Kampfe an
einem entschieden deutsch-patriotischen Standpunkte fehlte und nach Lage der
Sache fehlen mußte, wie aber allmählich das deutsche Gefühl durchbrach, sodaß
Thomaner und Nikolaitaner in Lützows Freikorps eintraten oder später im
»Banner der freiwilligen Sachsen" gegen die Franzosen zu Felde zogen. Nach
dem Kriege, etwa um 1820. wurden beide Lateinschulen neu organisiert, wobei
besonders K. F. August Robbe hervortrat. Auch die materielle Lage der Rektoren
und Lehrer bessert sich und wird endlich auf eine feste Basis gestellt. Seitdem


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[0423] Geschichte des Leipziger Schulwesens sieben Jahre später schrieb Goethe, der Schüler Ösers und Winckelmanns, seine „Iphigenie", der Neuhumanismus wird das Lebensprinzip der deutschen Literatur und des Schulwesens. Er betont das Griechentum vor dem Römer- tum. „Der Deutsche sollte Heitere werden, um ein wahrer Mensch zu sein." Die neue Richtung führte auch auf den beiden Leipziger Gelehrtenschulen all- mühlich zu einer starkem Betonung des Griechischen: neben Homer, den schon Reiske gelesen hatte, traten nun auch Plato und die Tragiker in größerm Umfang hervor. Neben dem Neuhumanismus bestimmt der auf Rousseau zurück¬ gehende Naturalismus das Schulwesen des ausgehenden achtzehnten Jahr¬ hunderts. Auf ihm baute der Schweizer Heinrich Pestalozzi (1746 bis 1827) den „Anschauungsunterricht" der modernen Volksschule auf. In Leipzig, wo bisher das Bedürfnis nach einer lediglich elementaren Bildung durch Winkel¬ schulen und die untersten Klassen der Lateinschulen mir ganz notdürftig befriedigt worden war, bewirkte 1789 der Bürgermeister Müller endlich die Gründung einer Ratsfreischule für diesen Zweck. Aus den alten Baracken der Schloßmiliz im Zwinger der Pleißenburg wurde mit geringem Aufwands ein langgestrecktes schmales Schulhaus hergestellt, in dem am 17. April 1792 der Unterricht mit 171 Kindern eröffnet wurde; zu Ostern 1793 stieg ihre Zahl schon auf 300. Im Jahre 1793 traten die „Schule im Arbeitshause" und die „Waisenhaus¬ schule" hinzu. Am 2. Januar 1804 wurde auch die erste Leipziger Bürgerschule unter dem Direktor Ludwig Friedrich Gedike, der bis dahin Rektor des Bautzner Gymnasiums gewesen war, aufgetan, und zwar sofort mit 238 Schülern und Schülerinnen. So hatte in Leipzig binnen wenigen Jahren die Bürgerschaft ein blühendes Volksschulwesen geschaffen; was die Reformation nicht vermocht hatte, leistete hier die rationalistische Aufklärung. Dagegen scheiterte der Plan des Vor¬ stehers der Nikolaischule Jakob Born, dieser Lateinschule eine „Real- und Kaufmannsschule" (Briefschreiben, Logik, Moral, Französisch, Englisch, Italienisch, Geographie, Rechnen und Buchhaltung) anzugliedern, im Jahre 1776 voll¬ ständig an der ganz unorganischen Verbindung der Kaufmannsschule mit einer Lateinschule und an andern Schwierigkeiten. Eine schwere Störung erlitt das ganze Leipziger Schulwesen durch das Zeitalter der Franzosenkriege, das auch den materiellen Wohlstand der Stadt vernichtete. Kaemmel zeigt in fesselnden Bildern, wie das Kriegselend auch die Schulen heimsuchte, wie es selbst der Lehrerschaft in dem großen Kampfe an einem entschieden deutsch-patriotischen Standpunkte fehlte und nach Lage der Sache fehlen mußte, wie aber allmählich das deutsche Gefühl durchbrach, sodaß Thomaner und Nikolaitaner in Lützows Freikorps eintraten oder später im »Banner der freiwilligen Sachsen" gegen die Franzosen zu Felde zogen. Nach dem Kriege, etwa um 1820. wurden beide Lateinschulen neu organisiert, wobei besonders K. F. August Robbe hervortrat. Auch die materielle Lage der Rektoren und Lehrer bessert sich und wird endlich auf eine feste Basis gestellt. Seitdem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/423>, abgerufen am 24.07.2024.