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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Geschichte des Leipziger Schulwesens

sich bereits ankündigende Aufklärung zur vollen Herrschaft im Reiche des
Geistes. "Das Ideal der Erziehung war jetzt nicht mehr die Berufserziehung
zum Weltmann, die die Nitterakademien hervorgetrieben und dem Hcmslehrer-
tum eine ungesunde Ausdehnung gegeben hatte, sondern die allgemeine Schule
der Hallischen Pädagogik. Daraus ergab sich die Forderung einer wirklichen
Volksschule, die bisher in den Städten durch die Verbindung mit der Latein¬
schule gehemmt wurde, die Idee der Realschule als einer Bildungsstätte für
die eigentlich bürgerlichen Gewerbe, die zuerst I. I. Hecker 1747 in Berlin
verwirklichte, die Betonung des Deutschen als Unterrichtssprache und Unterrichts¬
gegenstand." Drei Leipziger Rektoren haben in dieser Zeit eine nicht nur in
Kursachsen, sondern in Deutschland führende Stellung gehabt: Johann
Matthias Gesner (1691 bis 1761). der von 1730 bis 1734 Rektor der
Thomasschule war (später bekanntlich die Zierde der Göttinger Universität),
ferner sein Nachfolger Johann August Ernesti (1707 bis 1731), der Schöpfer
der berühmten kursüchsischen Schulordnung von 1773, und der Rektor der Nikolai¬
schule Johann Jakob Reiske (1716 bis 1774). Für die Unterrichtsweise
dieser Männer, die nicht Worte und Phrasen den Schülern einbleuen, sondern
das Verständnis des Schriftstellers wecken, sein Werk als ein Kunstwerk
begreiflich machen wollten, ist charakteristisch, was Gesner selbst erzählt: "Zu
gleicher Zeit wurden die Komödien des Terenz und Euripides Phönissen ge¬
lesen. Um beides hatten mich die jungen Leute gebeten, so sehr, daß einer
und der andre den Anfang der Phönissen zu deklamieren begann und sie ganz
auswendig zu lernen drohte. Ebenso war es möglich, im Terenz hinlänglich
schnell vorwärts zu gehen und die Worte nicht so sehr an die grammatischen
Regeln anzuschließen, als zu zeigen, wie sie den Personen angepaßt seien,
und welch ein großer Künstler Terenz in der Charakterzeichnung sei. Dabei
verweilten wir so, daß wir in wenigen Monaten alle seine Komödien durch¬
lasen. Da Hüttest du sehen sollen, wie begierig, schweigsam, ganz gespannt
meine Zuhörer dasaßen, auch lächelnd, ihr Vergnügen durch Miene, Auge
und Wort verratend. Ich ging freilich auch darauf aus, soweit es möglich
war, sie so in die Sache hineinzuführen, daß sie selbst auf der Bühne zu sein
glaubten." Mit ganz besondrer Liebe hat Kaemmel das Bild Neiskes, eines seiner
Vorgänger im Rektorat der Nikolaischule, als eines Schulmannes gezeichnet,
der bisher eigentlich nur als Gelehrter, und zwar als ein bahnbrechender
Kenner des Arabischen und des Griechischen bekannt war. Eines Lohgerbers
Sohn aus Zörbig wurde er für die Wissenschaften gewonnen durch den wackern
Chronisten von Altenberg, den Magister Christoph Meißner. In Leipzig,
später in Holland in achtjährigen Studien zu einem Meister der semitischen
Sprachen herangebildet, wurde er nach seiner Heimkehr in Leipzig außerordent¬
licher Professor des Arabischen mit hundert Talern Gehalt, die er meist nicht
erhielt. So lebte er zwölf lange Jahre "in Dunkelheit und Dürftigkeit", bis
er endlich am 15. Juni 1758 auf energische Empfehlung des Kurprinzen


Grenzboten IV 1909 63
Geschichte des Leipziger Schulwesens

sich bereits ankündigende Aufklärung zur vollen Herrschaft im Reiche des
Geistes. „Das Ideal der Erziehung war jetzt nicht mehr die Berufserziehung
zum Weltmann, die die Nitterakademien hervorgetrieben und dem Hcmslehrer-
tum eine ungesunde Ausdehnung gegeben hatte, sondern die allgemeine Schule
der Hallischen Pädagogik. Daraus ergab sich die Forderung einer wirklichen
Volksschule, die bisher in den Städten durch die Verbindung mit der Latein¬
schule gehemmt wurde, die Idee der Realschule als einer Bildungsstätte für
die eigentlich bürgerlichen Gewerbe, die zuerst I. I. Hecker 1747 in Berlin
verwirklichte, die Betonung des Deutschen als Unterrichtssprache und Unterrichts¬
gegenstand." Drei Leipziger Rektoren haben in dieser Zeit eine nicht nur in
Kursachsen, sondern in Deutschland führende Stellung gehabt: Johann
Matthias Gesner (1691 bis 1761). der von 1730 bis 1734 Rektor der
Thomasschule war (später bekanntlich die Zierde der Göttinger Universität),
ferner sein Nachfolger Johann August Ernesti (1707 bis 1731), der Schöpfer
der berühmten kursüchsischen Schulordnung von 1773, und der Rektor der Nikolai¬
schule Johann Jakob Reiske (1716 bis 1774). Für die Unterrichtsweise
dieser Männer, die nicht Worte und Phrasen den Schülern einbleuen, sondern
das Verständnis des Schriftstellers wecken, sein Werk als ein Kunstwerk
begreiflich machen wollten, ist charakteristisch, was Gesner selbst erzählt: „Zu
gleicher Zeit wurden die Komödien des Terenz und Euripides Phönissen ge¬
lesen. Um beides hatten mich die jungen Leute gebeten, so sehr, daß einer
und der andre den Anfang der Phönissen zu deklamieren begann und sie ganz
auswendig zu lernen drohte. Ebenso war es möglich, im Terenz hinlänglich
schnell vorwärts zu gehen und die Worte nicht so sehr an die grammatischen
Regeln anzuschließen, als zu zeigen, wie sie den Personen angepaßt seien,
und welch ein großer Künstler Terenz in der Charakterzeichnung sei. Dabei
verweilten wir so, daß wir in wenigen Monaten alle seine Komödien durch¬
lasen. Da Hüttest du sehen sollen, wie begierig, schweigsam, ganz gespannt
meine Zuhörer dasaßen, auch lächelnd, ihr Vergnügen durch Miene, Auge
und Wort verratend. Ich ging freilich auch darauf aus, soweit es möglich
war, sie so in die Sache hineinzuführen, daß sie selbst auf der Bühne zu sein
glaubten." Mit ganz besondrer Liebe hat Kaemmel das Bild Neiskes, eines seiner
Vorgänger im Rektorat der Nikolaischule, als eines Schulmannes gezeichnet,
der bisher eigentlich nur als Gelehrter, und zwar als ein bahnbrechender
Kenner des Arabischen und des Griechischen bekannt war. Eines Lohgerbers
Sohn aus Zörbig wurde er für die Wissenschaften gewonnen durch den wackern
Chronisten von Altenberg, den Magister Christoph Meißner. In Leipzig,
später in Holland in achtjährigen Studien zu einem Meister der semitischen
Sprachen herangebildet, wurde er nach seiner Heimkehr in Leipzig außerordent¬
licher Professor des Arabischen mit hundert Talern Gehalt, die er meist nicht
erhielt. So lebte er zwölf lange Jahre „in Dunkelheit und Dürftigkeit", bis
er endlich am 15. Juni 1758 auf energische Empfehlung des Kurprinzen


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[0421] Geschichte des Leipziger Schulwesens sich bereits ankündigende Aufklärung zur vollen Herrschaft im Reiche des Geistes. „Das Ideal der Erziehung war jetzt nicht mehr die Berufserziehung zum Weltmann, die die Nitterakademien hervorgetrieben und dem Hcmslehrer- tum eine ungesunde Ausdehnung gegeben hatte, sondern die allgemeine Schule der Hallischen Pädagogik. Daraus ergab sich die Forderung einer wirklichen Volksschule, die bisher in den Städten durch die Verbindung mit der Latein¬ schule gehemmt wurde, die Idee der Realschule als einer Bildungsstätte für die eigentlich bürgerlichen Gewerbe, die zuerst I. I. Hecker 1747 in Berlin verwirklichte, die Betonung des Deutschen als Unterrichtssprache und Unterrichts¬ gegenstand." Drei Leipziger Rektoren haben in dieser Zeit eine nicht nur in Kursachsen, sondern in Deutschland führende Stellung gehabt: Johann Matthias Gesner (1691 bis 1761). der von 1730 bis 1734 Rektor der Thomasschule war (später bekanntlich die Zierde der Göttinger Universität), ferner sein Nachfolger Johann August Ernesti (1707 bis 1731), der Schöpfer der berühmten kursüchsischen Schulordnung von 1773, und der Rektor der Nikolai¬ schule Johann Jakob Reiske (1716 bis 1774). Für die Unterrichtsweise dieser Männer, die nicht Worte und Phrasen den Schülern einbleuen, sondern das Verständnis des Schriftstellers wecken, sein Werk als ein Kunstwerk begreiflich machen wollten, ist charakteristisch, was Gesner selbst erzählt: „Zu gleicher Zeit wurden die Komödien des Terenz und Euripides Phönissen ge¬ lesen. Um beides hatten mich die jungen Leute gebeten, so sehr, daß einer und der andre den Anfang der Phönissen zu deklamieren begann und sie ganz auswendig zu lernen drohte. Ebenso war es möglich, im Terenz hinlänglich schnell vorwärts zu gehen und die Worte nicht so sehr an die grammatischen Regeln anzuschließen, als zu zeigen, wie sie den Personen angepaßt seien, und welch ein großer Künstler Terenz in der Charakterzeichnung sei. Dabei verweilten wir so, daß wir in wenigen Monaten alle seine Komödien durch¬ lasen. Da Hüttest du sehen sollen, wie begierig, schweigsam, ganz gespannt meine Zuhörer dasaßen, auch lächelnd, ihr Vergnügen durch Miene, Auge und Wort verratend. Ich ging freilich auch darauf aus, soweit es möglich war, sie so in die Sache hineinzuführen, daß sie selbst auf der Bühne zu sein glaubten." Mit ganz besondrer Liebe hat Kaemmel das Bild Neiskes, eines seiner Vorgänger im Rektorat der Nikolaischule, als eines Schulmannes gezeichnet, der bisher eigentlich nur als Gelehrter, und zwar als ein bahnbrechender Kenner des Arabischen und des Griechischen bekannt war. Eines Lohgerbers Sohn aus Zörbig wurde er für die Wissenschaften gewonnen durch den wackern Chronisten von Altenberg, den Magister Christoph Meißner. In Leipzig, später in Holland in achtjährigen Studien zu einem Meister der semitischen Sprachen herangebildet, wurde er nach seiner Heimkehr in Leipzig außerordent¬ licher Professor des Arabischen mit hundert Talern Gehalt, die er meist nicht erhielt. So lebte er zwölf lange Jahre „in Dunkelheit und Dürftigkeit", bis er endlich am 15. Juni 1758 auf energische Empfehlung des Kurprinzen Grenzboten IV 1909 63

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/421>, abgerufen am 24.07.2024.