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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Geschichte des Leipziger Schulwesens

Zusammenhang mit der Universität, aber auch diese verknöcherte zu einer
wieder scholastisch denkenden und lehrenden Sippschaft. Immerhin ist es für
die Zukunft nicht ohne Bedeutung, daß sich den beiden Leipziger Lateinschulen
im Laufe des siebzehnten Jahrhunderts Elementarklassen angliedern, die Soxts,
levtiwntwin et soriptitMtinin, die nicht nur für den Eintritt in die eigentlichen
Lateinklasscn vorbereiten, sondern auch als Volksschulen von solchen benutzt
werden, die keine weitere Ausbildung begehrten. Die Lebensbilder ans der
Lehrerschaft und Schülerschaft, die uns Kaemmel aus dem Zeitalter des
Dreißigjährigen Krieges entwirft, zeigen geistigen Rückgang und sittliche Ver¬
wilderung: es kommt vor, daß der Korrektor in Gegenwart der Schüler den
Rektor beim Streit um die Leichengelder mit der Faust ins Gesicht schlägt.

Die dritte Periode des Leipziger Schulwesens ist die Zeit des Pietismus
und der Berufsbildung. Mit dem Anfang des achtzehnten Jahrhunderts
verliert der konfessionelle Kampf an Intensität, er hat sich ausgetobt. Merk¬
würdig, daß der Übertritt Augusts des Starken zum Katholizismus (1697) in
das orthodox-lutherische Kursachsen die ersten Keime der Toleranz brachte. Die
Reformierten in Leipzig erhielten 1702 ihren ersten öffentlichen Gottesdienst,
die Katholiken bekamen 1710 in der Pleißenburg eine Kapelle. Um diese Zeit
betonten die Spener, Francke, Zinzendorf innerhalb der evangelischen Kirche
wieder die Macht des Gemüts; gleichzeitig erwuchs in enger Berührung mit
den aufblühenden Naturwissenschaften das Naturrecht und im Anschluß an die
Bedürfnisse des neuen Beamtenstaats ein neues Bildungsideal, das des viel¬
seitigen, praktischen Weidmanns, des nomo xolitious. Trüger der neuen Bildung
waren einerseits der Adel (Ritterakademien), andrerseits das städtische Patriziat.
In Sachsen betonte namentlich der Zittaner Rektor Christian Weise, daß das
in den Schulen Gelernte im Leben praktisch verwertbar sein müsse. Schon
1688 hatte er in Leipzig einem jungen Theologen ins Stammbuch geschrieben:
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Leipzig nahm in dieser Zeit als werdender Mittelpunkt des deutscheu
Buchhandels und dnrch die häufigen Besuche des prachtliebenden Hofes Augusts
des Starken einen bedeutenden Aufschwung, es erneuerte seine Patrizicrhäuser
in vornehmem Barockstil, herrliche Lustgärten wurden vor den Toren angelegt,
es wurde "ein klein Paris" und ein Spiegelbid des guten Geschmacks -- aber
die Schulen haben an diesem Aufschwünge nicht in vollem Maße teilgenommen,
weil ihnen eine wirklich opferfreudige Fürsorge des Rates fehlte. Trotzdem
war zum Beispiel Jakob Thomasius (1622 bis 1684). der Vater des bekannten
stürmischen Neuerers Christian Thomasius, als Gelehrter wie als Rektor eine
imponierende Gestalt. Er leitete von 1670 bis 1676 die Nikolaischule, dann
bis zu seinem Tode die Thomasschule.

In der folgenden Periode, dem Zeitalter Friedrichs des Großen, kam die
in den Naturwissenschaften und dem Naturrecht des siebzehnten Jahrhunderts


Geschichte des Leipziger Schulwesens

Zusammenhang mit der Universität, aber auch diese verknöcherte zu einer
wieder scholastisch denkenden und lehrenden Sippschaft. Immerhin ist es für
die Zukunft nicht ohne Bedeutung, daß sich den beiden Leipziger Lateinschulen
im Laufe des siebzehnten Jahrhunderts Elementarklassen angliedern, die Soxts,
levtiwntwin et soriptitMtinin, die nicht nur für den Eintritt in die eigentlichen
Lateinklasscn vorbereiten, sondern auch als Volksschulen von solchen benutzt
werden, die keine weitere Ausbildung begehrten. Die Lebensbilder ans der
Lehrerschaft und Schülerschaft, die uns Kaemmel aus dem Zeitalter des
Dreißigjährigen Krieges entwirft, zeigen geistigen Rückgang und sittliche Ver¬
wilderung: es kommt vor, daß der Korrektor in Gegenwart der Schüler den
Rektor beim Streit um die Leichengelder mit der Faust ins Gesicht schlägt.

Die dritte Periode des Leipziger Schulwesens ist die Zeit des Pietismus
und der Berufsbildung. Mit dem Anfang des achtzehnten Jahrhunderts
verliert der konfessionelle Kampf an Intensität, er hat sich ausgetobt. Merk¬
würdig, daß der Übertritt Augusts des Starken zum Katholizismus (1697) in
das orthodox-lutherische Kursachsen die ersten Keime der Toleranz brachte. Die
Reformierten in Leipzig erhielten 1702 ihren ersten öffentlichen Gottesdienst,
die Katholiken bekamen 1710 in der Pleißenburg eine Kapelle. Um diese Zeit
betonten die Spener, Francke, Zinzendorf innerhalb der evangelischen Kirche
wieder die Macht des Gemüts; gleichzeitig erwuchs in enger Berührung mit
den aufblühenden Naturwissenschaften das Naturrecht und im Anschluß an die
Bedürfnisse des neuen Beamtenstaats ein neues Bildungsideal, das des viel¬
seitigen, praktischen Weidmanns, des nomo xolitious. Trüger der neuen Bildung
waren einerseits der Adel (Ritterakademien), andrerseits das städtische Patriziat.
In Sachsen betonte namentlich der Zittaner Rektor Christian Weise, daß das
in den Schulen Gelernte im Leben praktisch verwertbar sein müsse. Schon
1688 hatte er in Leipzig einem jungen Theologen ins Stammbuch geschrieben:
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Leipzig nahm in dieser Zeit als werdender Mittelpunkt des deutscheu
Buchhandels und dnrch die häufigen Besuche des prachtliebenden Hofes Augusts
des Starken einen bedeutenden Aufschwung, es erneuerte seine Patrizicrhäuser
in vornehmem Barockstil, herrliche Lustgärten wurden vor den Toren angelegt,
es wurde „ein klein Paris" und ein Spiegelbid des guten Geschmacks — aber
die Schulen haben an diesem Aufschwünge nicht in vollem Maße teilgenommen,
weil ihnen eine wirklich opferfreudige Fürsorge des Rates fehlte. Trotzdem
war zum Beispiel Jakob Thomasius (1622 bis 1684). der Vater des bekannten
stürmischen Neuerers Christian Thomasius, als Gelehrter wie als Rektor eine
imponierende Gestalt. Er leitete von 1670 bis 1676 die Nikolaischule, dann
bis zu seinem Tode die Thomasschule.

In der folgenden Periode, dem Zeitalter Friedrichs des Großen, kam die
in den Naturwissenschaften und dem Naturrecht des siebzehnten Jahrhunderts


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[0420] Geschichte des Leipziger Schulwesens Zusammenhang mit der Universität, aber auch diese verknöcherte zu einer wieder scholastisch denkenden und lehrenden Sippschaft. Immerhin ist es für die Zukunft nicht ohne Bedeutung, daß sich den beiden Leipziger Lateinschulen im Laufe des siebzehnten Jahrhunderts Elementarklassen angliedern, die Soxts, levtiwntwin et soriptitMtinin, die nicht nur für den Eintritt in die eigentlichen Lateinklasscn vorbereiten, sondern auch als Volksschulen von solchen benutzt werden, die keine weitere Ausbildung begehrten. Die Lebensbilder ans der Lehrerschaft und Schülerschaft, die uns Kaemmel aus dem Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges entwirft, zeigen geistigen Rückgang und sittliche Ver¬ wilderung: es kommt vor, daß der Korrektor in Gegenwart der Schüler den Rektor beim Streit um die Leichengelder mit der Faust ins Gesicht schlägt. Die dritte Periode des Leipziger Schulwesens ist die Zeit des Pietismus und der Berufsbildung. Mit dem Anfang des achtzehnten Jahrhunderts verliert der konfessionelle Kampf an Intensität, er hat sich ausgetobt. Merk¬ würdig, daß der Übertritt Augusts des Starken zum Katholizismus (1697) in das orthodox-lutherische Kursachsen die ersten Keime der Toleranz brachte. Die Reformierten in Leipzig erhielten 1702 ihren ersten öffentlichen Gottesdienst, die Katholiken bekamen 1710 in der Pleißenburg eine Kapelle. Um diese Zeit betonten die Spener, Francke, Zinzendorf innerhalb der evangelischen Kirche wieder die Macht des Gemüts; gleichzeitig erwuchs in enger Berührung mit den aufblühenden Naturwissenschaften das Naturrecht und im Anschluß an die Bedürfnisse des neuen Beamtenstaats ein neues Bildungsideal, das des viel¬ seitigen, praktischen Weidmanns, des nomo xolitious. Trüger der neuen Bildung waren einerseits der Adel (Ritterakademien), andrerseits das städtische Patriziat. In Sachsen betonte namentlich der Zittaner Rektor Christian Weise, daß das in den Schulen Gelernte im Leben praktisch verwertbar sein müsse. Schon 1688 hatte er in Leipzig einem jungen Theologen ins Stammbuch geschrieben: Ueroatorsm prostitmrnt ni>«ol6eg.s merccüZ, ernclitum Stücken 8evuly minus <!0NArua. Leipzig nahm in dieser Zeit als werdender Mittelpunkt des deutscheu Buchhandels und dnrch die häufigen Besuche des prachtliebenden Hofes Augusts des Starken einen bedeutenden Aufschwung, es erneuerte seine Patrizicrhäuser in vornehmem Barockstil, herrliche Lustgärten wurden vor den Toren angelegt, es wurde „ein klein Paris" und ein Spiegelbid des guten Geschmacks — aber die Schulen haben an diesem Aufschwünge nicht in vollem Maße teilgenommen, weil ihnen eine wirklich opferfreudige Fürsorge des Rates fehlte. Trotzdem war zum Beispiel Jakob Thomasius (1622 bis 1684). der Vater des bekannten stürmischen Neuerers Christian Thomasius, als Gelehrter wie als Rektor eine imponierende Gestalt. Er leitete von 1670 bis 1676 die Nikolaischule, dann bis zu seinem Tode die Thomasschule. In der folgenden Periode, dem Zeitalter Friedrichs des Großen, kam die in den Naturwissenschaften und dem Naturrecht des siebzehnten Jahrhunderts

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/420>, abgerufen am 24.07.2024.