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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Geschichte des Leipziger Schulwesens

aus einer Unzahl von verstreuten Programmen, Dissertationen, Aufsätzen hat
der Verfasser eine fast erdrückende Fülle des heterogensten Stoffes zusammen¬
getragen, gesichtet, disponiert und innerlich verarbeitet. Die Natur des
Riesenstoffes brachte es mit sich, daß sich der Leser durch die Fülle der Tat¬
sachen in dem Buche hier und da etwas beengt fühlt, aber mit großem Ge¬
schick hat es Kaemmel an vielen andern Stellen verstanden -- und darin sehe
ich das zweite Verdienst des Buches --, den Stoff zu lesbaren, eindrucks¬
voller Bildern zu gestalten. Drittens hat Kaemmel, dank seiner umfassenden
Kenntnisse der allgemeinen Geschichte, immer den Blick des Lesers von der
Einzelerscheinung auf das große Ganze gerichtet und die an Leipzigs
Schulwesen gemachten Beobachtungen in das System der deutschen, ja der
universalen Kulturgeschichte so geschickt eingegliedert, daß man die Schul¬
zustände als einen Ausfluß der allgemeinen Zustände empfindet und sich nach
der Lektüre des Buches in seinen gesamten geschichlichen Anschauungen ge¬
fördert fühlt.

Es ist natürlich unmöglich, auf dem Raume eines nur orientierender
Aufsatzes einen Begriff von der Fülle des von Kaemmel bewältigten Stoffes
und von seiner Bewertung zu geben. Ich muß mich darauf beschränken, einige
Hauptgedanken des Buches und einige Proben besonders interessanten Materials
hervorzuheben. Hoffentlich gelingt es mir dadurch, den oder jenen Grenzboten¬
leser dazu zu bringen, daß er selbst einmal das Werk zur Hand nimmt, das
zwar aus dem Staube der Schulen geboren ist, aber doch diesen Staub von
sich abgeschüttelt hat und uns in fesselnder Weise nicht nur vom Unterrichts¬
betrieb und den Lehrbüchern, sondern noch viel mehr von den Personen, von
sozialen Verhältnissen und den großen Ereignissen der Zeiten zu erzählen weiß.

Der Ausgangspunkt des Leipziger Schulwesens ist das 1212 gestiftete
Augustinerchorherrnkloster zu Se. Thomas. Mit ihm war bald eine Kloster¬
schule verbunden, da man die seolarss zum Kirchengesang beim Gottesdienst,
Begräbnissen und Seelenmessen brauchte. Zu den etwa zwölf Alumnen gesellten
sich bald Bürgerskinder, die gegen ein Schulgeld (xrstiv.ni) dem Unterricht
beiwohnen durften. Das Schulhaus lag an der Stelle der spätern Thomas¬
schule, der jetzigen Superintendentur. Lange Zeit genügte diese eine Latein¬
schule den Bedürfnissen der Bürgerschaft, zumal da für die geringern Ansprüche
in privaten "Winkelschulen" der "Deutschenschreiber" und "Rechenmeister"
gesorgt war. Aber gegen Ende des vierzehnten Jahrhunderts betonte die Stadt
in steigendem Selbstgefühl ihr Recht auf eine Lateinschule eignen Patronats
und erwirkte 1395 vom Papste die Erlaubnis, auf dem Nikolaikirchhof ohne
Zustimmung des Thvmasstifts eine städtische Lateinschule zu errichten. Aber
erst im Jahre 1512, als schon der humanistische Geist über Deutschland wehte
und sich an der Universität harte Kämpfe zwischen Poeten (Humanisten) und
Sophisten (Scholastikern) abspielten, wurde die Nikolaischule wirklich eröffnet.
Die neue Schöpfung war zunächst ein zartes Pflänzlein, der alten durch den


Geschichte des Leipziger Schulwesens

aus einer Unzahl von verstreuten Programmen, Dissertationen, Aufsätzen hat
der Verfasser eine fast erdrückende Fülle des heterogensten Stoffes zusammen¬
getragen, gesichtet, disponiert und innerlich verarbeitet. Die Natur des
Riesenstoffes brachte es mit sich, daß sich der Leser durch die Fülle der Tat¬
sachen in dem Buche hier und da etwas beengt fühlt, aber mit großem Ge¬
schick hat es Kaemmel an vielen andern Stellen verstanden — und darin sehe
ich das zweite Verdienst des Buches —, den Stoff zu lesbaren, eindrucks¬
voller Bildern zu gestalten. Drittens hat Kaemmel, dank seiner umfassenden
Kenntnisse der allgemeinen Geschichte, immer den Blick des Lesers von der
Einzelerscheinung auf das große Ganze gerichtet und die an Leipzigs
Schulwesen gemachten Beobachtungen in das System der deutschen, ja der
universalen Kulturgeschichte so geschickt eingegliedert, daß man die Schul¬
zustände als einen Ausfluß der allgemeinen Zustände empfindet und sich nach
der Lektüre des Buches in seinen gesamten geschichlichen Anschauungen ge¬
fördert fühlt.

Es ist natürlich unmöglich, auf dem Raume eines nur orientierender
Aufsatzes einen Begriff von der Fülle des von Kaemmel bewältigten Stoffes
und von seiner Bewertung zu geben. Ich muß mich darauf beschränken, einige
Hauptgedanken des Buches und einige Proben besonders interessanten Materials
hervorzuheben. Hoffentlich gelingt es mir dadurch, den oder jenen Grenzboten¬
leser dazu zu bringen, daß er selbst einmal das Werk zur Hand nimmt, das
zwar aus dem Staube der Schulen geboren ist, aber doch diesen Staub von
sich abgeschüttelt hat und uns in fesselnder Weise nicht nur vom Unterrichts¬
betrieb und den Lehrbüchern, sondern noch viel mehr von den Personen, von
sozialen Verhältnissen und den großen Ereignissen der Zeiten zu erzählen weiß.

Der Ausgangspunkt des Leipziger Schulwesens ist das 1212 gestiftete
Augustinerchorherrnkloster zu Se. Thomas. Mit ihm war bald eine Kloster¬
schule verbunden, da man die seolarss zum Kirchengesang beim Gottesdienst,
Begräbnissen und Seelenmessen brauchte. Zu den etwa zwölf Alumnen gesellten
sich bald Bürgerskinder, die gegen ein Schulgeld (xrstiv.ni) dem Unterricht
beiwohnen durften. Das Schulhaus lag an der Stelle der spätern Thomas¬
schule, der jetzigen Superintendentur. Lange Zeit genügte diese eine Latein¬
schule den Bedürfnissen der Bürgerschaft, zumal da für die geringern Ansprüche
in privaten „Winkelschulen" der „Deutschenschreiber" und „Rechenmeister"
gesorgt war. Aber gegen Ende des vierzehnten Jahrhunderts betonte die Stadt
in steigendem Selbstgefühl ihr Recht auf eine Lateinschule eignen Patronats
und erwirkte 1395 vom Papste die Erlaubnis, auf dem Nikolaikirchhof ohne
Zustimmung des Thvmasstifts eine städtische Lateinschule zu errichten. Aber
erst im Jahre 1512, als schon der humanistische Geist über Deutschland wehte
und sich an der Universität harte Kämpfe zwischen Poeten (Humanisten) und
Sophisten (Scholastikern) abspielten, wurde die Nikolaischule wirklich eröffnet.
Die neue Schöpfung war zunächst ein zartes Pflänzlein, der alten durch den


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[0418] Geschichte des Leipziger Schulwesens aus einer Unzahl von verstreuten Programmen, Dissertationen, Aufsätzen hat der Verfasser eine fast erdrückende Fülle des heterogensten Stoffes zusammen¬ getragen, gesichtet, disponiert und innerlich verarbeitet. Die Natur des Riesenstoffes brachte es mit sich, daß sich der Leser durch die Fülle der Tat¬ sachen in dem Buche hier und da etwas beengt fühlt, aber mit großem Ge¬ schick hat es Kaemmel an vielen andern Stellen verstanden — und darin sehe ich das zweite Verdienst des Buches —, den Stoff zu lesbaren, eindrucks¬ voller Bildern zu gestalten. Drittens hat Kaemmel, dank seiner umfassenden Kenntnisse der allgemeinen Geschichte, immer den Blick des Lesers von der Einzelerscheinung auf das große Ganze gerichtet und die an Leipzigs Schulwesen gemachten Beobachtungen in das System der deutschen, ja der universalen Kulturgeschichte so geschickt eingegliedert, daß man die Schul¬ zustände als einen Ausfluß der allgemeinen Zustände empfindet und sich nach der Lektüre des Buches in seinen gesamten geschichlichen Anschauungen ge¬ fördert fühlt. Es ist natürlich unmöglich, auf dem Raume eines nur orientierender Aufsatzes einen Begriff von der Fülle des von Kaemmel bewältigten Stoffes und von seiner Bewertung zu geben. Ich muß mich darauf beschränken, einige Hauptgedanken des Buches und einige Proben besonders interessanten Materials hervorzuheben. Hoffentlich gelingt es mir dadurch, den oder jenen Grenzboten¬ leser dazu zu bringen, daß er selbst einmal das Werk zur Hand nimmt, das zwar aus dem Staube der Schulen geboren ist, aber doch diesen Staub von sich abgeschüttelt hat und uns in fesselnder Weise nicht nur vom Unterrichts¬ betrieb und den Lehrbüchern, sondern noch viel mehr von den Personen, von sozialen Verhältnissen und den großen Ereignissen der Zeiten zu erzählen weiß. Der Ausgangspunkt des Leipziger Schulwesens ist das 1212 gestiftete Augustinerchorherrnkloster zu Se. Thomas. Mit ihm war bald eine Kloster¬ schule verbunden, da man die seolarss zum Kirchengesang beim Gottesdienst, Begräbnissen und Seelenmessen brauchte. Zu den etwa zwölf Alumnen gesellten sich bald Bürgerskinder, die gegen ein Schulgeld (xrstiv.ni) dem Unterricht beiwohnen durften. Das Schulhaus lag an der Stelle der spätern Thomas¬ schule, der jetzigen Superintendentur. Lange Zeit genügte diese eine Latein¬ schule den Bedürfnissen der Bürgerschaft, zumal da für die geringern Ansprüche in privaten „Winkelschulen" der „Deutschenschreiber" und „Rechenmeister" gesorgt war. Aber gegen Ende des vierzehnten Jahrhunderts betonte die Stadt in steigendem Selbstgefühl ihr Recht auf eine Lateinschule eignen Patronats und erwirkte 1395 vom Papste die Erlaubnis, auf dem Nikolaikirchhof ohne Zustimmung des Thvmasstifts eine städtische Lateinschule zu errichten. Aber erst im Jahre 1512, als schon der humanistische Geist über Deutschland wehte und sich an der Universität harte Kämpfe zwischen Poeten (Humanisten) und Sophisten (Scholastikern) abspielten, wurde die Nikolaischule wirklich eröffnet. Die neue Schöpfung war zunächst ein zartes Pflänzlein, der alten durch den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/418>, abgerufen am 24.07.2024.