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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Die Entstehung der Religion

unabhängigen Sittlichkeit niemals möglich gewesen wäre. Nicht minder gibt
aber an der Grenze, wo das sittliche Wirken innerhalb der empirischen Welt
sein Ende findet, erst jener Ausblick auf die Zugehörigkeit des Einzelnen wie
der Gemeinschaft und ihrer Schöpfungen zu einer übersinnlichen, die sinnliche
Wirklichkeit einschließenden Welt den Normen, die das sittliche Leben aus sich
erzeugt hat, ihren letzten Halt in der im sittlichen Leben und seiner Geschichte
nur bruchstückweise zur Entfaltung gelangenden Idee des Unendlichen."

Wie soll sich der gläubige Christ zu dieser Beschreibung der Entstehung
seiner Religion stellen? Nicht anders, meine ich, wie zur biologischen Ent¬
wicklungslehre. Es ist -- zwar nicht bewiesen, ja nicht einmal beweisbar,
aber -- höchst wahrscheinlich, daß sich alle Organismen durch Vererbung,
Anpassung und Überleben des Angepaßten aus einer oder aus mehreren Ur-
zeiten entwickelt haben. Aber es ist undenkbar, daß das ohne einen zweck¬
setzenden, planvoll waltenden und für jeden Fortschritt zu einer neuen Form
den Antrieb erteilenden vernünftigen Willen geschehen sei. Die Entstehung
der Religion auf dem von Wundt beschriebnen Wege ist nicht bloß wahr¬
scheinlich, man darf sie erwiesen nennen, denn es verhält sich bei ihr ganz
anders als bei der Entstehung der Organismen. Wie die Urzelle geworden,
wie aus der einfachen Urzelle ein komplizierter Organismus, aus einem
Reptil das erste Schnabeltier, der Stammvater der Sauger, entstanden ist,
hat niemand gesehen. Dagegen können wir täglich beobachten, wie sich aus
den einfachen Vorstellungen und Empfindungen des Kindes, des in den
Bereich der Zivilisation eingetretnen Naturmenschen höheres und höchstes
Geistesleben einschließlich der Religion entwickelt. Aber nicht minder undenk¬
bar wie dort ist es auch hier, daß sich die Entwicklung ohne die Einwirkung
des übersinnlichen Weltgrundes vollziehe. Wundt selbst betrachtet "die letzten
Früchte" der religiösen Entwicklung "auch als die latenten Keime, aus denen
sie mit der allem geistigen Werden immanenten Gesetzmäßigkeit hervorgegangen
ist". Woher diese Keime? Dürfen die Keime von Goethes Faust oder von
unserm Bürgerlichen Gesetzbuch oder von Beethovens Riffs, LolöwiuZ oder
von der Persönlichkeit Jesu im Kohlenstoff gesucht werden? Aus nichts wird
nichts; nur aus dem Urgeiste kann der geschöpfliche mit allen seinen Er¬
scheinungsformen und Leistungen hervorgegangen sein, und nur göttliche
Leitung konnte die höchste Religion bei einem Völkchen und in einer sozialen
Schicht entstehn lassen, deren bescheidne Kulturstufe von andern Völkern und
Gesellschaftsschichten hoch überragt wurde. Daß es etwas eignes sei um
Israel und um die Evangelien, gibt Wundt zu. Er hat, wie wir bei dem
Bericht über den zweiten Band gesehen haben, die jüdische Prophetie ge¬
würdigt, und er hebt auch in diesem Bande den Unterschied der jüdisch¬
christlichen Mythen von den heidnischen wiederholt hervor. Die Jonas-
legende zum Beispiel ist aus allgemein verbreiteten Märchenmotiven: Seesturm,
dessen Ursache und Beschwichtigung, Verschlingung und Truhe (die bergende


Die Entstehung der Religion

unabhängigen Sittlichkeit niemals möglich gewesen wäre. Nicht minder gibt
aber an der Grenze, wo das sittliche Wirken innerhalb der empirischen Welt
sein Ende findet, erst jener Ausblick auf die Zugehörigkeit des Einzelnen wie
der Gemeinschaft und ihrer Schöpfungen zu einer übersinnlichen, die sinnliche
Wirklichkeit einschließenden Welt den Normen, die das sittliche Leben aus sich
erzeugt hat, ihren letzten Halt in der im sittlichen Leben und seiner Geschichte
nur bruchstückweise zur Entfaltung gelangenden Idee des Unendlichen."

Wie soll sich der gläubige Christ zu dieser Beschreibung der Entstehung
seiner Religion stellen? Nicht anders, meine ich, wie zur biologischen Ent¬
wicklungslehre. Es ist — zwar nicht bewiesen, ja nicht einmal beweisbar,
aber — höchst wahrscheinlich, daß sich alle Organismen durch Vererbung,
Anpassung und Überleben des Angepaßten aus einer oder aus mehreren Ur-
zeiten entwickelt haben. Aber es ist undenkbar, daß das ohne einen zweck¬
setzenden, planvoll waltenden und für jeden Fortschritt zu einer neuen Form
den Antrieb erteilenden vernünftigen Willen geschehen sei. Die Entstehung
der Religion auf dem von Wundt beschriebnen Wege ist nicht bloß wahr¬
scheinlich, man darf sie erwiesen nennen, denn es verhält sich bei ihr ganz
anders als bei der Entstehung der Organismen. Wie die Urzelle geworden,
wie aus der einfachen Urzelle ein komplizierter Organismus, aus einem
Reptil das erste Schnabeltier, der Stammvater der Sauger, entstanden ist,
hat niemand gesehen. Dagegen können wir täglich beobachten, wie sich aus
den einfachen Vorstellungen und Empfindungen des Kindes, des in den
Bereich der Zivilisation eingetretnen Naturmenschen höheres und höchstes
Geistesleben einschließlich der Religion entwickelt. Aber nicht minder undenk¬
bar wie dort ist es auch hier, daß sich die Entwicklung ohne die Einwirkung
des übersinnlichen Weltgrundes vollziehe. Wundt selbst betrachtet „die letzten
Früchte" der religiösen Entwicklung „auch als die latenten Keime, aus denen
sie mit der allem geistigen Werden immanenten Gesetzmäßigkeit hervorgegangen
ist". Woher diese Keime? Dürfen die Keime von Goethes Faust oder von
unserm Bürgerlichen Gesetzbuch oder von Beethovens Riffs, LolöwiuZ oder
von der Persönlichkeit Jesu im Kohlenstoff gesucht werden? Aus nichts wird
nichts; nur aus dem Urgeiste kann der geschöpfliche mit allen seinen Er¬
scheinungsformen und Leistungen hervorgegangen sein, und nur göttliche
Leitung konnte die höchste Religion bei einem Völkchen und in einer sozialen
Schicht entstehn lassen, deren bescheidne Kulturstufe von andern Völkern und
Gesellschaftsschichten hoch überragt wurde. Daß es etwas eignes sei um
Israel und um die Evangelien, gibt Wundt zu. Er hat, wie wir bei dem
Bericht über den zweiten Band gesehen haben, die jüdische Prophetie ge¬
würdigt, und er hebt auch in diesem Bande den Unterschied der jüdisch¬
christlichen Mythen von den heidnischen wiederholt hervor. Die Jonas-
legende zum Beispiel ist aus allgemein verbreiteten Märchenmotiven: Seesturm,
dessen Ursache und Beschwichtigung, Verschlingung und Truhe (die bergende


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[0414] Die Entstehung der Religion unabhängigen Sittlichkeit niemals möglich gewesen wäre. Nicht minder gibt aber an der Grenze, wo das sittliche Wirken innerhalb der empirischen Welt sein Ende findet, erst jener Ausblick auf die Zugehörigkeit des Einzelnen wie der Gemeinschaft und ihrer Schöpfungen zu einer übersinnlichen, die sinnliche Wirklichkeit einschließenden Welt den Normen, die das sittliche Leben aus sich erzeugt hat, ihren letzten Halt in der im sittlichen Leben und seiner Geschichte nur bruchstückweise zur Entfaltung gelangenden Idee des Unendlichen." Wie soll sich der gläubige Christ zu dieser Beschreibung der Entstehung seiner Religion stellen? Nicht anders, meine ich, wie zur biologischen Ent¬ wicklungslehre. Es ist — zwar nicht bewiesen, ja nicht einmal beweisbar, aber — höchst wahrscheinlich, daß sich alle Organismen durch Vererbung, Anpassung und Überleben des Angepaßten aus einer oder aus mehreren Ur- zeiten entwickelt haben. Aber es ist undenkbar, daß das ohne einen zweck¬ setzenden, planvoll waltenden und für jeden Fortschritt zu einer neuen Form den Antrieb erteilenden vernünftigen Willen geschehen sei. Die Entstehung der Religion auf dem von Wundt beschriebnen Wege ist nicht bloß wahr¬ scheinlich, man darf sie erwiesen nennen, denn es verhält sich bei ihr ganz anders als bei der Entstehung der Organismen. Wie die Urzelle geworden, wie aus der einfachen Urzelle ein komplizierter Organismus, aus einem Reptil das erste Schnabeltier, der Stammvater der Sauger, entstanden ist, hat niemand gesehen. Dagegen können wir täglich beobachten, wie sich aus den einfachen Vorstellungen und Empfindungen des Kindes, des in den Bereich der Zivilisation eingetretnen Naturmenschen höheres und höchstes Geistesleben einschließlich der Religion entwickelt. Aber nicht minder undenk¬ bar wie dort ist es auch hier, daß sich die Entwicklung ohne die Einwirkung des übersinnlichen Weltgrundes vollziehe. Wundt selbst betrachtet „die letzten Früchte" der religiösen Entwicklung „auch als die latenten Keime, aus denen sie mit der allem geistigen Werden immanenten Gesetzmäßigkeit hervorgegangen ist". Woher diese Keime? Dürfen die Keime von Goethes Faust oder von unserm Bürgerlichen Gesetzbuch oder von Beethovens Riffs, LolöwiuZ oder von der Persönlichkeit Jesu im Kohlenstoff gesucht werden? Aus nichts wird nichts; nur aus dem Urgeiste kann der geschöpfliche mit allen seinen Er¬ scheinungsformen und Leistungen hervorgegangen sein, und nur göttliche Leitung konnte die höchste Religion bei einem Völkchen und in einer sozialen Schicht entstehn lassen, deren bescheidne Kulturstufe von andern Völkern und Gesellschaftsschichten hoch überragt wurde. Daß es etwas eignes sei um Israel und um die Evangelien, gibt Wundt zu. Er hat, wie wir bei dem Bericht über den zweiten Band gesehen haben, die jüdische Prophetie ge¬ würdigt, und er hebt auch in diesem Bande den Unterschied der jüdisch¬ christlichen Mythen von den heidnischen wiederholt hervor. Die Jonas- legende zum Beispiel ist aus allgemein verbreiteten Märchenmotiven: Seesturm, dessen Ursache und Beschwichtigung, Verschlingung und Truhe (die bergende

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/414>, abgerufen am 24.07.2024.