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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Neue Arbeit im Reichstag

Auch für die Liberalen ist es jetzt die höchste Zeit, von den schweren Fehlern
zurückzukommen, in die sie sich durch die leidenschaftliche Erregung über die
Entwicklung der Dinge seit der Sprengung des Blocks und dem Rücktritt des
Fürsten Bülow haben verstricken lassen. Die beständige Aufpeitschung der Ent¬
rüstung über die neuen Steuern ist eine Torheit. Denn es bleibt doch un¬
bestreitbar richtig: wenn die Konservativen die Nachlaßsteuer bewilligt hätten,
so wären die Liberalen vor die Wahl gestellt gewesen, entweder das Odium
für das Scheitern der Neichsfincmzreform auf ihre Schultern zu nehmen oder
gerade die Steuern mitzubewilligen, über die sie jetzt in allen Tonarten
schreien. Das kann doch von den Liberalen ruhig anerkannt werden an Stelle
der Deklamationen, die auf sie nur den Schatten der Unehrlichkeit werfen.
Überdies helfen sie dadurch ihren Gegnern, sich zu rechtfertigen, und geben
ihre eigne beste Waffe aus der Hand. Der Liberalismus hat ohnehin mit
seiner Zersplitterung genug zu kämpfen und erschwert es seiner Führung, feste
Ziele ins Auge zu fassen und nach ihnen in positiver Arbeit zu streben. Also
auch auf dieser Seite ist eine Erneuerung und eine feste Zusammenfassung der
Kräfte notwendig.

Und die Regierung? Vor allem der neue Reichskanzler? Es ist jetzt viel
davon die Rede, daß Herr v. Bethmann Hollweg eine stärkere Zurückhaltung
übt, als erwartet worden ist, und als die Ungeduld der eifrigen Politiker für
richtig hält. Wir haben hier absichtlich diese Frage nicht in den Vordergrund
gestellt, weil wir meinen, daß die Schwierigkeiten, die durch die Haltung der
Parteien geschaffen worden sind, zunächst vom Volke selbst in ihrem Umfang
und Wesen erkannt werden müssen. Dann wird man sich überzeugen, daß
mit großen programmatischen Erklärungen an dem, was uns heute bedrückt,
nicht viel zu ändern ist, solange nicht die Parteien selbst erkennen, daß auf
dem Boden, wohin sie im Verlauf eines unabsehbaren Streits geraten sind,
überhaupt keine positive, zielbewußte Politik zu machen ist. Wenn wirklich
der Reichskanzler in seiner äußerst schwierigen Lage schon jetzt offiziell mit
irgendwelchen Kundgebungen hervorgetreten wäre, die in Wahrheit vor das
Forum des Reichstags gehören, so würde ihm das wahrscheinlich allgemein
als Fehler angekreidet worden sein; es wäre wohl bald genug offenbar ge¬
worden, daß die Lage nicht danach angetan war. Eine andre Frage ist, ob
es der Negierung unmöglich war, den Auseinandersetzungen der Parteien
gegenüber aufklärende, wegweisende und geschickt vermittelnde Einflüsse geltend
zu machen. Wir können nicht leugnen, daß der Eindruck dieser Tätigkeit nicht
ganz befriedigend ist. Über allgemeine Beschwichtigungen und Ermahnungen
ist man nicht hinausgekommen, und es fehlt nicht an Anzeichen, als ob tat¬
sächlich zwischen Regierung und Öffentlichkeit manche Verbindungen versagten,
die in Staat und Gesellschaft heute nicht mehr entbehrt werden können.
Dennoch wird man mit dem Urteil zurückhalten müssen. Es ist zwar un¬
wahrscheinlich, daß der Reichskanzler sogleich ein Bild großer Pläne entrollen


Neue Arbeit im Reichstag

Auch für die Liberalen ist es jetzt die höchste Zeit, von den schweren Fehlern
zurückzukommen, in die sie sich durch die leidenschaftliche Erregung über die
Entwicklung der Dinge seit der Sprengung des Blocks und dem Rücktritt des
Fürsten Bülow haben verstricken lassen. Die beständige Aufpeitschung der Ent¬
rüstung über die neuen Steuern ist eine Torheit. Denn es bleibt doch un¬
bestreitbar richtig: wenn die Konservativen die Nachlaßsteuer bewilligt hätten,
so wären die Liberalen vor die Wahl gestellt gewesen, entweder das Odium
für das Scheitern der Neichsfincmzreform auf ihre Schultern zu nehmen oder
gerade die Steuern mitzubewilligen, über die sie jetzt in allen Tonarten
schreien. Das kann doch von den Liberalen ruhig anerkannt werden an Stelle
der Deklamationen, die auf sie nur den Schatten der Unehrlichkeit werfen.
Überdies helfen sie dadurch ihren Gegnern, sich zu rechtfertigen, und geben
ihre eigne beste Waffe aus der Hand. Der Liberalismus hat ohnehin mit
seiner Zersplitterung genug zu kämpfen und erschwert es seiner Führung, feste
Ziele ins Auge zu fassen und nach ihnen in positiver Arbeit zu streben. Also
auch auf dieser Seite ist eine Erneuerung und eine feste Zusammenfassung der
Kräfte notwendig.

Und die Regierung? Vor allem der neue Reichskanzler? Es ist jetzt viel
davon die Rede, daß Herr v. Bethmann Hollweg eine stärkere Zurückhaltung
übt, als erwartet worden ist, und als die Ungeduld der eifrigen Politiker für
richtig hält. Wir haben hier absichtlich diese Frage nicht in den Vordergrund
gestellt, weil wir meinen, daß die Schwierigkeiten, die durch die Haltung der
Parteien geschaffen worden sind, zunächst vom Volke selbst in ihrem Umfang
und Wesen erkannt werden müssen. Dann wird man sich überzeugen, daß
mit großen programmatischen Erklärungen an dem, was uns heute bedrückt,
nicht viel zu ändern ist, solange nicht die Parteien selbst erkennen, daß auf
dem Boden, wohin sie im Verlauf eines unabsehbaren Streits geraten sind,
überhaupt keine positive, zielbewußte Politik zu machen ist. Wenn wirklich
der Reichskanzler in seiner äußerst schwierigen Lage schon jetzt offiziell mit
irgendwelchen Kundgebungen hervorgetreten wäre, die in Wahrheit vor das
Forum des Reichstags gehören, so würde ihm das wahrscheinlich allgemein
als Fehler angekreidet worden sein; es wäre wohl bald genug offenbar ge¬
worden, daß die Lage nicht danach angetan war. Eine andre Frage ist, ob
es der Negierung unmöglich war, den Auseinandersetzungen der Parteien
gegenüber aufklärende, wegweisende und geschickt vermittelnde Einflüsse geltend
zu machen. Wir können nicht leugnen, daß der Eindruck dieser Tätigkeit nicht
ganz befriedigend ist. Über allgemeine Beschwichtigungen und Ermahnungen
ist man nicht hinausgekommen, und es fehlt nicht an Anzeichen, als ob tat¬
sächlich zwischen Regierung und Öffentlichkeit manche Verbindungen versagten,
die in Staat und Gesellschaft heute nicht mehr entbehrt werden können.
Dennoch wird man mit dem Urteil zurückhalten müssen. Es ist zwar un¬
wahrscheinlich, daß der Reichskanzler sogleich ein Bild großer Pläne entrollen


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[0404] Neue Arbeit im Reichstag Auch für die Liberalen ist es jetzt die höchste Zeit, von den schweren Fehlern zurückzukommen, in die sie sich durch die leidenschaftliche Erregung über die Entwicklung der Dinge seit der Sprengung des Blocks und dem Rücktritt des Fürsten Bülow haben verstricken lassen. Die beständige Aufpeitschung der Ent¬ rüstung über die neuen Steuern ist eine Torheit. Denn es bleibt doch un¬ bestreitbar richtig: wenn die Konservativen die Nachlaßsteuer bewilligt hätten, so wären die Liberalen vor die Wahl gestellt gewesen, entweder das Odium für das Scheitern der Neichsfincmzreform auf ihre Schultern zu nehmen oder gerade die Steuern mitzubewilligen, über die sie jetzt in allen Tonarten schreien. Das kann doch von den Liberalen ruhig anerkannt werden an Stelle der Deklamationen, die auf sie nur den Schatten der Unehrlichkeit werfen. Überdies helfen sie dadurch ihren Gegnern, sich zu rechtfertigen, und geben ihre eigne beste Waffe aus der Hand. Der Liberalismus hat ohnehin mit seiner Zersplitterung genug zu kämpfen und erschwert es seiner Führung, feste Ziele ins Auge zu fassen und nach ihnen in positiver Arbeit zu streben. Also auch auf dieser Seite ist eine Erneuerung und eine feste Zusammenfassung der Kräfte notwendig. Und die Regierung? Vor allem der neue Reichskanzler? Es ist jetzt viel davon die Rede, daß Herr v. Bethmann Hollweg eine stärkere Zurückhaltung übt, als erwartet worden ist, und als die Ungeduld der eifrigen Politiker für richtig hält. Wir haben hier absichtlich diese Frage nicht in den Vordergrund gestellt, weil wir meinen, daß die Schwierigkeiten, die durch die Haltung der Parteien geschaffen worden sind, zunächst vom Volke selbst in ihrem Umfang und Wesen erkannt werden müssen. Dann wird man sich überzeugen, daß mit großen programmatischen Erklärungen an dem, was uns heute bedrückt, nicht viel zu ändern ist, solange nicht die Parteien selbst erkennen, daß auf dem Boden, wohin sie im Verlauf eines unabsehbaren Streits geraten sind, überhaupt keine positive, zielbewußte Politik zu machen ist. Wenn wirklich der Reichskanzler in seiner äußerst schwierigen Lage schon jetzt offiziell mit irgendwelchen Kundgebungen hervorgetreten wäre, die in Wahrheit vor das Forum des Reichstags gehören, so würde ihm das wahrscheinlich allgemein als Fehler angekreidet worden sein; es wäre wohl bald genug offenbar ge¬ worden, daß die Lage nicht danach angetan war. Eine andre Frage ist, ob es der Negierung unmöglich war, den Auseinandersetzungen der Parteien gegenüber aufklärende, wegweisende und geschickt vermittelnde Einflüsse geltend zu machen. Wir können nicht leugnen, daß der Eindruck dieser Tätigkeit nicht ganz befriedigend ist. Über allgemeine Beschwichtigungen und Ermahnungen ist man nicht hinausgekommen, und es fehlt nicht an Anzeichen, als ob tat¬ sächlich zwischen Regierung und Öffentlichkeit manche Verbindungen versagten, die in Staat und Gesellschaft heute nicht mehr entbehrt werden können. Dennoch wird man mit dem Urteil zurückhalten müssen. Es ist zwar un¬ wahrscheinlich, daß der Reichskanzler sogleich ein Bild großer Pläne entrollen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/404>, abgerufen am 04.07.2024.