Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Neue Arbeit im Reichstag

Gelegenheit, selbst ausschlaggebende Partei, das Zünglein an der Wage zu
sein, ausnutzen wollen? "Wenn mans so hört, mondes leidlich scheinen." Aber
es bleibt dabei ein großes Fragezeichen bestehen, nämlich: wie wird die Sache,
wenn sich das Zentrum in dieses Schema nicht geduldig einfügt und nicht als
bescheidnes Mauerblümchen wartet, bis es der konservative Kavalier zum Tanze
holt? Mit andern Worten: es kann jeden Augenblick der Fall eintreten, daß
sich Konservative und Liberale als Gegner gegenüberstehen, das Zentrum aber
der freundlichen Aufforderung der Konservativen, ihnen gegen die Liberalen
beizustehn, eine runde Absage erteilt und sich den Liberalen in die Arme wirft.
Es ist von jeher der Fehler der konservativen Partei gewesen, die demokratischen
Strömungen und Neigungen im Zentrum zu gering einzuschätzen. Es kommt
das wohl daher, daß in den Landesteilen, in denen die Konservativen ihre
stärkste Stütze haben, die Hauptvertreter des Zentrums meist der katholischen
Aristokratie angehören oder sich an sie anlehnen und darum politisch konservativ
gefärbt sind. Auch spukt in den Köpfen das alte, nur in sehr engbegrenztem
Sinne richtige Schema, daß der Liberalismus den "Unglauben" repräsentiert
und Konservative und Zentrum gemeinsam den "Glauben" zu verteidigen be¬
rufen sind. Aber der mit dem Hintergrunde des Glaubens und der Weltan¬
schauung stets so scharf geführte Kampf des Zentrums gegen den Liberalismus
hindert das Zentrum selbst keinen Augenblick, nicht nur der Entwicklung des
Staats zur Demokratie jeden Vorschub zu leisten, sondern auch bei Wahlen
und Abstimmungen mit den Liberalen zusammenzugehen, sobald für sie irgend
ein Vorteil dabei herausspringt. Nun ist weiter zu bedenken, daß nicht nur
in liberalen Kreisen jedes Zusammengehen von Konservativen und Klerikalen
eine neue Flutwelle von Haß und Mißtrauen gegen die rechtsstehenden Parteien
erzeugt, sondern daß auch in konservativen Kreisen eine sehr starke Abneigung
gegen die Freundschaft der Partei mit dem Zentrum besteht. Das bedeutet,
daß das wiederholte und gewissermaßen schon prinzipiell vorgesehene Zusammen¬
gehen von Konservativen und Zentrum je länger je mehr ungünstige Folgen
haben muß. Die Konservativen ziehen damit im Schoße ihrer eignen Partei
latente Widerstände groß, die sich in Gleichgiltigkeit oder Unzufriedenheit
äußern, und sie verlieren allmählich die Möglichkeit des Bündnisses mit den
Liberalen auch in den Fällen, wo sie es im nationalen Interesse selbst suchen.
Ist aber erst einmal wieder dauerndes Mißtrauen und festsitzende Abneigung
zwischen Konservativen und Liberalen die Regel geworden, dann wird die
ganze Berechnung von der doppelten Mehrheit, die die Konservativen einmal
so und einmal so herzustellen vermögen, vollständig über den Haufen ge¬
worfen, und das Zentrum ist nun die Partei, die von Fall zu Fall zwischen
Konservativen und Liberalen optiert, gelegentlich auch mit Hilfe der Sozial¬
demokratie die ganze Gesetzgebung matt zu setzen vermag. Kurz und gut:
nicht die konservative Partei, sondern das Zentrum wird wieder die ausschlag¬
gebende Partei.


Neue Arbeit im Reichstag

Gelegenheit, selbst ausschlaggebende Partei, das Zünglein an der Wage zu
sein, ausnutzen wollen? „Wenn mans so hört, mondes leidlich scheinen." Aber
es bleibt dabei ein großes Fragezeichen bestehen, nämlich: wie wird die Sache,
wenn sich das Zentrum in dieses Schema nicht geduldig einfügt und nicht als
bescheidnes Mauerblümchen wartet, bis es der konservative Kavalier zum Tanze
holt? Mit andern Worten: es kann jeden Augenblick der Fall eintreten, daß
sich Konservative und Liberale als Gegner gegenüberstehen, das Zentrum aber
der freundlichen Aufforderung der Konservativen, ihnen gegen die Liberalen
beizustehn, eine runde Absage erteilt und sich den Liberalen in die Arme wirft.
Es ist von jeher der Fehler der konservativen Partei gewesen, die demokratischen
Strömungen und Neigungen im Zentrum zu gering einzuschätzen. Es kommt
das wohl daher, daß in den Landesteilen, in denen die Konservativen ihre
stärkste Stütze haben, die Hauptvertreter des Zentrums meist der katholischen
Aristokratie angehören oder sich an sie anlehnen und darum politisch konservativ
gefärbt sind. Auch spukt in den Köpfen das alte, nur in sehr engbegrenztem
Sinne richtige Schema, daß der Liberalismus den „Unglauben" repräsentiert
und Konservative und Zentrum gemeinsam den „Glauben" zu verteidigen be¬
rufen sind. Aber der mit dem Hintergrunde des Glaubens und der Weltan¬
schauung stets so scharf geführte Kampf des Zentrums gegen den Liberalismus
hindert das Zentrum selbst keinen Augenblick, nicht nur der Entwicklung des
Staats zur Demokratie jeden Vorschub zu leisten, sondern auch bei Wahlen
und Abstimmungen mit den Liberalen zusammenzugehen, sobald für sie irgend
ein Vorteil dabei herausspringt. Nun ist weiter zu bedenken, daß nicht nur
in liberalen Kreisen jedes Zusammengehen von Konservativen und Klerikalen
eine neue Flutwelle von Haß und Mißtrauen gegen die rechtsstehenden Parteien
erzeugt, sondern daß auch in konservativen Kreisen eine sehr starke Abneigung
gegen die Freundschaft der Partei mit dem Zentrum besteht. Das bedeutet,
daß das wiederholte und gewissermaßen schon prinzipiell vorgesehene Zusammen¬
gehen von Konservativen und Zentrum je länger je mehr ungünstige Folgen
haben muß. Die Konservativen ziehen damit im Schoße ihrer eignen Partei
latente Widerstände groß, die sich in Gleichgiltigkeit oder Unzufriedenheit
äußern, und sie verlieren allmählich die Möglichkeit des Bündnisses mit den
Liberalen auch in den Fällen, wo sie es im nationalen Interesse selbst suchen.
Ist aber erst einmal wieder dauerndes Mißtrauen und festsitzende Abneigung
zwischen Konservativen und Liberalen die Regel geworden, dann wird die
ganze Berechnung von der doppelten Mehrheit, die die Konservativen einmal
so und einmal so herzustellen vermögen, vollständig über den Haufen ge¬
worfen, und das Zentrum ist nun die Partei, die von Fall zu Fall zwischen
Konservativen und Liberalen optiert, gelegentlich auch mit Hilfe der Sozial¬
demokratie die ganze Gesetzgebung matt zu setzen vermag. Kurz und gut:
nicht die konservative Partei, sondern das Zentrum wird wieder die ausschlag¬
gebende Partei.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0402" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/314749"/>
          <fw type="header" place="top"> Neue Arbeit im Reichstag</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1923" prev="#ID_1922"> Gelegenheit, selbst ausschlaggebende Partei, das Zünglein an der Wage zu<lb/>
sein, ausnutzen wollen? &#x201E;Wenn mans so hört, mondes leidlich scheinen." Aber<lb/>
es bleibt dabei ein großes Fragezeichen bestehen, nämlich: wie wird die Sache,<lb/>
wenn sich das Zentrum in dieses Schema nicht geduldig einfügt und nicht als<lb/>
bescheidnes Mauerblümchen wartet, bis es der konservative Kavalier zum Tanze<lb/>
holt? Mit andern Worten: es kann jeden Augenblick der Fall eintreten, daß<lb/>
sich Konservative und Liberale als Gegner gegenüberstehen, das Zentrum aber<lb/>
der freundlichen Aufforderung der Konservativen, ihnen gegen die Liberalen<lb/>
beizustehn, eine runde Absage erteilt und sich den Liberalen in die Arme wirft.<lb/>
Es ist von jeher der Fehler der konservativen Partei gewesen, die demokratischen<lb/>
Strömungen und Neigungen im Zentrum zu gering einzuschätzen. Es kommt<lb/>
das wohl daher, daß in den Landesteilen, in denen die Konservativen ihre<lb/>
stärkste Stütze haben, die Hauptvertreter des Zentrums meist der katholischen<lb/>
Aristokratie angehören oder sich an sie anlehnen und darum politisch konservativ<lb/>
gefärbt sind. Auch spukt in den Köpfen das alte, nur in sehr engbegrenztem<lb/>
Sinne richtige Schema, daß der Liberalismus den &#x201E;Unglauben" repräsentiert<lb/>
und Konservative und Zentrum gemeinsam den &#x201E;Glauben" zu verteidigen be¬<lb/>
rufen sind. Aber der mit dem Hintergrunde des Glaubens und der Weltan¬<lb/>
schauung stets so scharf geführte Kampf des Zentrums gegen den Liberalismus<lb/>
hindert das Zentrum selbst keinen Augenblick, nicht nur der Entwicklung des<lb/>
Staats zur Demokratie jeden Vorschub zu leisten, sondern auch bei Wahlen<lb/>
und Abstimmungen mit den Liberalen zusammenzugehen, sobald für sie irgend<lb/>
ein Vorteil dabei herausspringt. Nun ist weiter zu bedenken, daß nicht nur<lb/>
in liberalen Kreisen jedes Zusammengehen von Konservativen und Klerikalen<lb/>
eine neue Flutwelle von Haß und Mißtrauen gegen die rechtsstehenden Parteien<lb/>
erzeugt, sondern daß auch in konservativen Kreisen eine sehr starke Abneigung<lb/>
gegen die Freundschaft der Partei mit dem Zentrum besteht. Das bedeutet,<lb/>
daß das wiederholte und gewissermaßen schon prinzipiell vorgesehene Zusammen¬<lb/>
gehen von Konservativen und Zentrum je länger je mehr ungünstige Folgen<lb/>
haben muß. Die Konservativen ziehen damit im Schoße ihrer eignen Partei<lb/>
latente Widerstände groß, die sich in Gleichgiltigkeit oder Unzufriedenheit<lb/>
äußern, und sie verlieren allmählich die Möglichkeit des Bündnisses mit den<lb/>
Liberalen auch in den Fällen, wo sie es im nationalen Interesse selbst suchen.<lb/>
Ist aber erst einmal wieder dauerndes Mißtrauen und festsitzende Abneigung<lb/>
zwischen Konservativen und Liberalen die Regel geworden, dann wird die<lb/>
ganze Berechnung von der doppelten Mehrheit, die die Konservativen einmal<lb/>
so und einmal so herzustellen vermögen, vollständig über den Haufen ge¬<lb/>
worfen, und das Zentrum ist nun die Partei, die von Fall zu Fall zwischen<lb/>
Konservativen und Liberalen optiert, gelegentlich auch mit Hilfe der Sozial¬<lb/>
demokratie die ganze Gesetzgebung matt zu setzen vermag. Kurz und gut:<lb/>
nicht die konservative Partei, sondern das Zentrum wird wieder die ausschlag¬<lb/>
gebende Partei.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0402] Neue Arbeit im Reichstag Gelegenheit, selbst ausschlaggebende Partei, das Zünglein an der Wage zu sein, ausnutzen wollen? „Wenn mans so hört, mondes leidlich scheinen." Aber es bleibt dabei ein großes Fragezeichen bestehen, nämlich: wie wird die Sache, wenn sich das Zentrum in dieses Schema nicht geduldig einfügt und nicht als bescheidnes Mauerblümchen wartet, bis es der konservative Kavalier zum Tanze holt? Mit andern Worten: es kann jeden Augenblick der Fall eintreten, daß sich Konservative und Liberale als Gegner gegenüberstehen, das Zentrum aber der freundlichen Aufforderung der Konservativen, ihnen gegen die Liberalen beizustehn, eine runde Absage erteilt und sich den Liberalen in die Arme wirft. Es ist von jeher der Fehler der konservativen Partei gewesen, die demokratischen Strömungen und Neigungen im Zentrum zu gering einzuschätzen. Es kommt das wohl daher, daß in den Landesteilen, in denen die Konservativen ihre stärkste Stütze haben, die Hauptvertreter des Zentrums meist der katholischen Aristokratie angehören oder sich an sie anlehnen und darum politisch konservativ gefärbt sind. Auch spukt in den Köpfen das alte, nur in sehr engbegrenztem Sinne richtige Schema, daß der Liberalismus den „Unglauben" repräsentiert und Konservative und Zentrum gemeinsam den „Glauben" zu verteidigen be¬ rufen sind. Aber der mit dem Hintergrunde des Glaubens und der Weltan¬ schauung stets so scharf geführte Kampf des Zentrums gegen den Liberalismus hindert das Zentrum selbst keinen Augenblick, nicht nur der Entwicklung des Staats zur Demokratie jeden Vorschub zu leisten, sondern auch bei Wahlen und Abstimmungen mit den Liberalen zusammenzugehen, sobald für sie irgend ein Vorteil dabei herausspringt. Nun ist weiter zu bedenken, daß nicht nur in liberalen Kreisen jedes Zusammengehen von Konservativen und Klerikalen eine neue Flutwelle von Haß und Mißtrauen gegen die rechtsstehenden Parteien erzeugt, sondern daß auch in konservativen Kreisen eine sehr starke Abneigung gegen die Freundschaft der Partei mit dem Zentrum besteht. Das bedeutet, daß das wiederholte und gewissermaßen schon prinzipiell vorgesehene Zusammen¬ gehen von Konservativen und Zentrum je länger je mehr ungünstige Folgen haben muß. Die Konservativen ziehen damit im Schoße ihrer eignen Partei latente Widerstände groß, die sich in Gleichgiltigkeit oder Unzufriedenheit äußern, und sie verlieren allmählich die Möglichkeit des Bündnisses mit den Liberalen auch in den Fällen, wo sie es im nationalen Interesse selbst suchen. Ist aber erst einmal wieder dauerndes Mißtrauen und festsitzende Abneigung zwischen Konservativen und Liberalen die Regel geworden, dann wird die ganze Berechnung von der doppelten Mehrheit, die die Konservativen einmal so und einmal so herzustellen vermögen, vollständig über den Haufen ge¬ worfen, und das Zentrum ist nun die Partei, die von Fall zu Fall zwischen Konservativen und Liberalen optiert, gelegentlich auch mit Hilfe der Sozial¬ demokratie die ganze Gesetzgebung matt zu setzen vermag. Kurz und gut: nicht die konservative Partei, sondern das Zentrum wird wieder die ausschlag¬ gebende Partei.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/402
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/402>, abgerufen am 04.07.2024.