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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Neue Arbeit im Reichstag

Man könnte unter diesen verzweifelten Verhältnissen auf den Gedanken
kommen, dem Reichstage jene Eisenbartkur zu verordnen, von der öfter die
Rede gewesen ist, nämlich die Dinge laufen zu lassen auf die Gefahr hin, daß
wir im Reichstag eine sozialdemokratische Mehrheit bekommen, die dann vor
die absolute Notwendigkeit gestellt sein würde, positive politische Arbeit zu
leisten. Da bei dem Charakter der deutschen Sozialdemokratie in allen bürger¬
lichen Parteien die Überzeugung herrscht, daß dann die völlige Unfähigkeit
derer um Bebel an den Tag kommen müsse, so denkt man sich wohl, daß wir
auf diesem Wege von unsern politischen Schmerzen gründlich geheilt werden
könnten. Bei tieferen Nachdenken über das Wesen unsers Volks und Staats
wird man wohl diese Meinung nicht aufrecht erhalten können. Unwillkürlich
muß man dabei an die Worte denken, die Fürst Bülow am 26. März 1908
in seiner Rede über das allgemeine Wahlrecht mit Bezug auf dieses Thema
gesprochen hat. Er sagte damals: "Nun weiß ich wohl, meine Herren, daß
ein Teil der bürgerlichen Linken so kalkuliere: Gewiß, bei der Einführung des
allgemeinen Wahlrechts in Preußen werden wir zunächst von der sozialdemo¬
kratischen Flut verschlungen werden, aber das ist nur ein Übergangsstadium,
die Flut wird sich verlaufen, und dann wird der liberale Weizen blühen.
Ach, meine Herren, die Melodie kenne ich, die Theorie kenne ich; die ist mir
auch anderswo begegnet, zum Beispiel in Frankreich, wo man sie die tusorie
Zs ig. vier rovssk nennt, die Theorie vom Noten Meere; erst kommt das
Rote Meer des Radikalismus, dann gelangt man in das gelobte Land, wo
Milch und Honig fließt. Das Unglück ist nur: wer nicht Moses und Aaron
zu Führern hat, der pflegt im Noten Meere zu ersaufen."

Wir können also auf keine Weise um das Problem herumkommen. Was
soll aber geschehen? Es ist aussichtslos, auf die bürgerlichen Parteien ein¬
zureden, daß sie die Kampfstimmung gegeneinander fahren lassen. Und doch
müssen wir auf irgendeine Weise dahin gelangen, daß das Zusammenarbeiten
zwischen Konservativen und Liberalen wieder möglich wird. Die allgemeine
Bereitwilligkeit dazu wird von den Konservativen jetzt nur so weit erklärt, als
es sich um die Bekämpfung der Sozialdemokratie handelt. Eine Gemeinschaft
gegen diesen Feind kann natürlich nicht zurückgewiesen werden. Aber zugleich
wird mit einer gewissen Beflissenheit hervorgehoben, daß sich dieser neue Block
außer seinem beschränkteren Ziel auch durch die andre Zusammensetzung von
dem Bülowschen Block unterscheiden müsse; er müsse alle bürgerlichen Parteien
und somit auch das Zentrum umfassen.

Um diesen Unterschied schärfer hervortreten zu lassen und gleichzeitig ihre
Auffassung von dem angeblichen "Irrtum" der Bülowschen Blockidee recht
einleuchtend zu gestalten, arbeiten die konservativen Wortführer neuerdings
wieder sehr stark mit der Behauptung, Fürst Bülow habe das Zentrum grund¬
sätzlich ausschalten wollen. Diese Behauptung entspricht nicht der Wahrheit.
Fürst Bülow ist sich selbstverständlich vollkommen darüber klar gewesen, daß


Neue Arbeit im Reichstag

Man könnte unter diesen verzweifelten Verhältnissen auf den Gedanken
kommen, dem Reichstage jene Eisenbartkur zu verordnen, von der öfter die
Rede gewesen ist, nämlich die Dinge laufen zu lassen auf die Gefahr hin, daß
wir im Reichstag eine sozialdemokratische Mehrheit bekommen, die dann vor
die absolute Notwendigkeit gestellt sein würde, positive politische Arbeit zu
leisten. Da bei dem Charakter der deutschen Sozialdemokratie in allen bürger¬
lichen Parteien die Überzeugung herrscht, daß dann die völlige Unfähigkeit
derer um Bebel an den Tag kommen müsse, so denkt man sich wohl, daß wir
auf diesem Wege von unsern politischen Schmerzen gründlich geheilt werden
könnten. Bei tieferen Nachdenken über das Wesen unsers Volks und Staats
wird man wohl diese Meinung nicht aufrecht erhalten können. Unwillkürlich
muß man dabei an die Worte denken, die Fürst Bülow am 26. März 1908
in seiner Rede über das allgemeine Wahlrecht mit Bezug auf dieses Thema
gesprochen hat. Er sagte damals: „Nun weiß ich wohl, meine Herren, daß
ein Teil der bürgerlichen Linken so kalkuliere: Gewiß, bei der Einführung des
allgemeinen Wahlrechts in Preußen werden wir zunächst von der sozialdemo¬
kratischen Flut verschlungen werden, aber das ist nur ein Übergangsstadium,
die Flut wird sich verlaufen, und dann wird der liberale Weizen blühen.
Ach, meine Herren, die Melodie kenne ich, die Theorie kenne ich; die ist mir
auch anderswo begegnet, zum Beispiel in Frankreich, wo man sie die tusorie
Zs ig. vier rovssk nennt, die Theorie vom Noten Meere; erst kommt das
Rote Meer des Radikalismus, dann gelangt man in das gelobte Land, wo
Milch und Honig fließt. Das Unglück ist nur: wer nicht Moses und Aaron
zu Führern hat, der pflegt im Noten Meere zu ersaufen."

Wir können also auf keine Weise um das Problem herumkommen. Was
soll aber geschehen? Es ist aussichtslos, auf die bürgerlichen Parteien ein¬
zureden, daß sie die Kampfstimmung gegeneinander fahren lassen. Und doch
müssen wir auf irgendeine Weise dahin gelangen, daß das Zusammenarbeiten
zwischen Konservativen und Liberalen wieder möglich wird. Die allgemeine
Bereitwilligkeit dazu wird von den Konservativen jetzt nur so weit erklärt, als
es sich um die Bekämpfung der Sozialdemokratie handelt. Eine Gemeinschaft
gegen diesen Feind kann natürlich nicht zurückgewiesen werden. Aber zugleich
wird mit einer gewissen Beflissenheit hervorgehoben, daß sich dieser neue Block
außer seinem beschränkteren Ziel auch durch die andre Zusammensetzung von
dem Bülowschen Block unterscheiden müsse; er müsse alle bürgerlichen Parteien
und somit auch das Zentrum umfassen.

Um diesen Unterschied schärfer hervortreten zu lassen und gleichzeitig ihre
Auffassung von dem angeblichen „Irrtum" der Bülowschen Blockidee recht
einleuchtend zu gestalten, arbeiten die konservativen Wortführer neuerdings
wieder sehr stark mit der Behauptung, Fürst Bülow habe das Zentrum grund¬
sätzlich ausschalten wollen. Diese Behauptung entspricht nicht der Wahrheit.
Fürst Bülow ist sich selbstverständlich vollkommen darüber klar gewesen, daß


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/400>, abgerufen am 04.07.2024.