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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Mutualismus und Neuprotektionismus
1000Einnahmen Ausgaben
in Millionen MarkSchulden
Einwohnerüberhaupt pro Kops
in Mill.M, in Mark
Australischer Bundesstaat 3773300,30 310,664345,62*) 1153
Kanada......5S83403,20 826,721713,30 302
Kapkolonie.....2470169,40 182,80921,20 374

Kurz, der Neuprotektionismus zäumt das Pferd, auf dem er vorwärts
galoppieren will, am Schweif auf. Der Eigenkraft, auf der der autonome
Wirtschaftsstaat aufgebaut werden foll, entzieht man die Stütze der Gesamt¬
wirtschaft, bevor der Baum halbwegs widerstandsfähig geworden ihn Daß die
Bewegung trotzdem eine solche Begeisterung erweckt, soviele Anhänger gewinnt,
ist Psychologisch leicht begreiflich. Der Australier ist mehr noch als der Yankee
geneigt, "ohne die Krücken wissenschaftlicher und geschichtlicher Überlieferung"
auf dem Wege des Experiments zu erproben, ob nicht kühner Unternehmungs¬
geist erreichen kann, was der klügelnde Kritiker als unmöglich hinstellt. Für
die Masse der Ungebildeten ist der Neuprotektionismus mit seinen chiliastischen
Verheißungen der gefällige Erreger von Illusionen, an denen sich die Gemüter
berauschen, der Bürge hoher Löhne und leicht zu erreichender Genüsse, für den
Gebildeten ist er der Mittler einer großzügigen, demokratisch-imperialistischen
Politik auf der Grundlage der wirtschaftlichen Autarkie, kraft deren Chamberlain
das größerbritannische Reich zentralisieren und dauernd übermächtig über alle
Handelsstaaten machen wollte. Darin liegt der Nerv, der dem Neuprotektionismus
seine Durchschlagskraft gibt.

Doktrinär, als Mutualismus, unterscheidet er sich von dem Sozialismus,
wie ihn Babeuf und, in dessen Spuren tretend, Blanqui und Marx vertraten,
durch die Ausschaltung der umstürzlerischm Prinzipien. Vom friedlich auf¬
bauenden bürgerlichen Sozialismus ist er hinwiederum durch die Synthese mit
politischen Idealen, den Rassen- und den Staatsimperialismus und den demo¬
kratischen Radikalismus verschieden. In der Alten Welt wird die Kluft zwischen
sozialistischer und bürgerlicher Demokratie immer größer. Selbst in England,
wo ein wahrhaft großdenkender Liberalismus die Gegensätze beider Richtungen
lange zu verdecken verstanden hat, vollzieht sich heute die Scheidung mit zu¬
nehmender Erbitterung auf beiden Seiten. Gegenüber dieser den Demokratismus
schwächenden Zersplitterung will der australische Mutualismus eine Brücke des
Friedens bauen. Es soll keineswegs verkannt werden, was er in dieser ver¬
söhnlichen Richtung geleistet hat. Er konnte in seinen uns vielfach verwunderlich
erscheinenden Formen entstehn. weil moderne soziale Ideen hier in den Kreis
einer Gesellschaft eintraten, die mit keiner Last ständischer Überlieferungen und
Zerklüftungen beschwert war, und er hat es vermocht, diese gesellschaftliche
Harmonie aufrecht zu erhalten; er ist tatsächlich Gemeingut des ganzen Volks
geworden, wie es sich deutlich darin zeigt, daß sich keine Partei grundsätzlich



") d. h. für sämtliche einzelne Bundesstaaten.
Mutualismus und Neuprotektionismus
1000Einnahmen Ausgaben
in Millionen MarkSchulden
Einwohnerüberhaupt pro Kops
in Mill.M, in Mark
Australischer Bundesstaat 3773300,30 310,664345,62*) 1153
Kanada......5S83403,20 826,721713,30 302
Kapkolonie.....2470169,40 182,80921,20 374

Kurz, der Neuprotektionismus zäumt das Pferd, auf dem er vorwärts
galoppieren will, am Schweif auf. Der Eigenkraft, auf der der autonome
Wirtschaftsstaat aufgebaut werden foll, entzieht man die Stütze der Gesamt¬
wirtschaft, bevor der Baum halbwegs widerstandsfähig geworden ihn Daß die
Bewegung trotzdem eine solche Begeisterung erweckt, soviele Anhänger gewinnt,
ist Psychologisch leicht begreiflich. Der Australier ist mehr noch als der Yankee
geneigt, „ohne die Krücken wissenschaftlicher und geschichtlicher Überlieferung"
auf dem Wege des Experiments zu erproben, ob nicht kühner Unternehmungs¬
geist erreichen kann, was der klügelnde Kritiker als unmöglich hinstellt. Für
die Masse der Ungebildeten ist der Neuprotektionismus mit seinen chiliastischen
Verheißungen der gefällige Erreger von Illusionen, an denen sich die Gemüter
berauschen, der Bürge hoher Löhne und leicht zu erreichender Genüsse, für den
Gebildeten ist er der Mittler einer großzügigen, demokratisch-imperialistischen
Politik auf der Grundlage der wirtschaftlichen Autarkie, kraft deren Chamberlain
das größerbritannische Reich zentralisieren und dauernd übermächtig über alle
Handelsstaaten machen wollte. Darin liegt der Nerv, der dem Neuprotektionismus
seine Durchschlagskraft gibt.

Doktrinär, als Mutualismus, unterscheidet er sich von dem Sozialismus,
wie ihn Babeuf und, in dessen Spuren tretend, Blanqui und Marx vertraten,
durch die Ausschaltung der umstürzlerischm Prinzipien. Vom friedlich auf¬
bauenden bürgerlichen Sozialismus ist er hinwiederum durch die Synthese mit
politischen Idealen, den Rassen- und den Staatsimperialismus und den demo¬
kratischen Radikalismus verschieden. In der Alten Welt wird die Kluft zwischen
sozialistischer und bürgerlicher Demokratie immer größer. Selbst in England,
wo ein wahrhaft großdenkender Liberalismus die Gegensätze beider Richtungen
lange zu verdecken verstanden hat, vollzieht sich heute die Scheidung mit zu¬
nehmender Erbitterung auf beiden Seiten. Gegenüber dieser den Demokratismus
schwächenden Zersplitterung will der australische Mutualismus eine Brücke des
Friedens bauen. Es soll keineswegs verkannt werden, was er in dieser ver¬
söhnlichen Richtung geleistet hat. Er konnte in seinen uns vielfach verwunderlich
erscheinenden Formen entstehn. weil moderne soziale Ideen hier in den Kreis
einer Gesellschaft eintraten, die mit keiner Last ständischer Überlieferungen und
Zerklüftungen beschwert war, und er hat es vermocht, diese gesellschaftliche
Harmonie aufrecht zu erhalten; er ist tatsächlich Gemeingut des ganzen Volks
geworden, wie es sich deutlich darin zeigt, daß sich keine Partei grundsätzlich



") d. h. für sämtliche einzelne Bundesstaaten.
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[0363] Mutualismus und Neuprotektionismus 1000Einnahmen Ausgaben in Millionen MarkSchulden Einwohnerüberhaupt pro Kops in Mill.M, in Mark Australischer Bundesstaat 3773300,30 310,664345,62*) 1153 Kanada......5S83403,20 826,721713,30 302 Kapkolonie.....2470169,40 182,80921,20 374 Kurz, der Neuprotektionismus zäumt das Pferd, auf dem er vorwärts galoppieren will, am Schweif auf. Der Eigenkraft, auf der der autonome Wirtschaftsstaat aufgebaut werden foll, entzieht man die Stütze der Gesamt¬ wirtschaft, bevor der Baum halbwegs widerstandsfähig geworden ihn Daß die Bewegung trotzdem eine solche Begeisterung erweckt, soviele Anhänger gewinnt, ist Psychologisch leicht begreiflich. Der Australier ist mehr noch als der Yankee geneigt, „ohne die Krücken wissenschaftlicher und geschichtlicher Überlieferung" auf dem Wege des Experiments zu erproben, ob nicht kühner Unternehmungs¬ geist erreichen kann, was der klügelnde Kritiker als unmöglich hinstellt. Für die Masse der Ungebildeten ist der Neuprotektionismus mit seinen chiliastischen Verheißungen der gefällige Erreger von Illusionen, an denen sich die Gemüter berauschen, der Bürge hoher Löhne und leicht zu erreichender Genüsse, für den Gebildeten ist er der Mittler einer großzügigen, demokratisch-imperialistischen Politik auf der Grundlage der wirtschaftlichen Autarkie, kraft deren Chamberlain das größerbritannische Reich zentralisieren und dauernd übermächtig über alle Handelsstaaten machen wollte. Darin liegt der Nerv, der dem Neuprotektionismus seine Durchschlagskraft gibt. Doktrinär, als Mutualismus, unterscheidet er sich von dem Sozialismus, wie ihn Babeuf und, in dessen Spuren tretend, Blanqui und Marx vertraten, durch die Ausschaltung der umstürzlerischm Prinzipien. Vom friedlich auf¬ bauenden bürgerlichen Sozialismus ist er hinwiederum durch die Synthese mit politischen Idealen, den Rassen- und den Staatsimperialismus und den demo¬ kratischen Radikalismus verschieden. In der Alten Welt wird die Kluft zwischen sozialistischer und bürgerlicher Demokratie immer größer. Selbst in England, wo ein wahrhaft großdenkender Liberalismus die Gegensätze beider Richtungen lange zu verdecken verstanden hat, vollzieht sich heute die Scheidung mit zu¬ nehmender Erbitterung auf beiden Seiten. Gegenüber dieser den Demokratismus schwächenden Zersplitterung will der australische Mutualismus eine Brücke des Friedens bauen. Es soll keineswegs verkannt werden, was er in dieser ver¬ söhnlichen Richtung geleistet hat. Er konnte in seinen uns vielfach verwunderlich erscheinenden Formen entstehn. weil moderne soziale Ideen hier in den Kreis einer Gesellschaft eintraten, die mit keiner Last ständischer Überlieferungen und Zerklüftungen beschwert war, und er hat es vermocht, diese gesellschaftliche Harmonie aufrecht zu erhalten; er ist tatsächlich Gemeingut des ganzen Volks geworden, wie es sich deutlich darin zeigt, daß sich keine Partei grundsätzlich ") d. h. für sämtliche einzelne Bundesstaaten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/363>, abgerufen am 04.07.2024.