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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Mutualismus und Nenprotektionismus

dem Übergewicht, das in moderner Zeit allmählich das Wirtschaftsrecht über
das Staatsrecht gewinnt, wird vollkommne wirtschaftsrcchtliche Selbständigkeit
verlangt, ohne die die staatsrechtliche Unabhängigkeit nur auf dem Papier stehe.
Wie man längst erkannt habe, daß nur eine zentrale Staatsgewalt Hüterin der
politischen Selbstsicherheit sein könne, so müsse man sich zu der Einsicht hindurch¬
ringen, daß auch auf wirtschaftlichem Gebiet nur die Autorität des Staats die
Volksfreiheit sichern könne. Zur Zeit des Absolutismus sei ähnliches von den
Fürsten versucht worden, die aber natürlich nur die Interessen des Adels und
andrer bevorzugter Stände vertreten hätten. Jetzt solle nicht mehr eine "er¬
leuchtete Obrigkeit" von oben herab, das Volk selbst solle durch seine parla¬
mentarische Vertretung, in der alle produktiven Volksschichten entsprechend ihrer
Bedeutung zu Worte kämen, bestimmen, was der allgemeinen Wohlfahrt
dienlich sei.

Die vielen Schwächen, Kurzsichtigkeiten und Widersprüche dieses ganzen
Systems liegen auf der Hand? wollte man sie im einzelnen darlegen, so
hieße das nichts andres, als all die Deduktionen gegen den sozialistischen
und kommunistischen Zukunftsstaat wiederholen. Soweit das System bis heute
praktisch auszubilden versucht wurde, ist klar, daß ganz im Gegensatz zu den
freiheitlichen Prinzipien ein Polizeiwesen geschaffen wird, das sich willkürlichere
Verfügungen über privatwirtschaftliche Rechte anmaßt, als es irgendein ab¬
solutistisches Regiment getan hat. Während die Interessen aller Berufe und
Volksklassen gewahrt werden sollen, werden tatsächlich nur die Unternehmer
geschützt. Die Arbeiter werden auf einen langwierigen Instanzenweg verwiesen,
ans dem sie sich ihre Rechte erkämpfen sollen, die Verbraucher auf summarische
Höchstpreisfestsetzungen durch das Parlament, die offenbar durch den Handel
äußerst leicht umgangen werden können. Die Mindestlöhne haben die Tendenz,
Höchstlöhne zu werden. Abgesehen von den gewöhnlichsten Nahrungsmitteln sind
die Preise für alle Lebensbedürfnisse außerordentlich hoch. Die bureaukratischen
Erlasse für den Arbeitsmarkt und die Fabrikation werden trotz rigoroser Strafen
auf allen möglichen Schleichwegen umgangen. Indem man die wichtigsten Bedin¬
gungen der Erzeugung und des Handels von den Beschlüssen eines fluktuierenden
Parteiregiments abhängig - macht, schafft man eine Labilität der gewerblichen
Verhältnisse, die gerade das hintanhalten muß, was man erstrebt, den industriellen
Fortschritt. Ein verwickelter Richter- und Beamtenapparat wird in Bewegung
gesetzt, um die Wirtschaftsbedingungen einer Einwohnerschaft zu regeln, die,
dank der chauvinistischen Nassenpolitik, noch heute uicht größer ist als die einer
europäischen Metropole. Ein Staat wird neuerdings mit riesenhaften Auf¬
wendungen für Subventionen und Verwaltung belastet, der ohnehin finanziell
überlastet ist. Aus der hier eingeschalteten Tabelle ergibt sich, daß der
Commonwealth in allen Teilen des Haushalts weit ungünstiger gestellt ist als
irgendeine der Schwesterkolonien mit Selbstverwaltung, die sich ihrer kulturellen
Entwicklung nach in Vergleich stellen lassen.


Mutualismus und Nenprotektionismus

dem Übergewicht, das in moderner Zeit allmählich das Wirtschaftsrecht über
das Staatsrecht gewinnt, wird vollkommne wirtschaftsrcchtliche Selbständigkeit
verlangt, ohne die die staatsrechtliche Unabhängigkeit nur auf dem Papier stehe.
Wie man längst erkannt habe, daß nur eine zentrale Staatsgewalt Hüterin der
politischen Selbstsicherheit sein könne, so müsse man sich zu der Einsicht hindurch¬
ringen, daß auch auf wirtschaftlichem Gebiet nur die Autorität des Staats die
Volksfreiheit sichern könne. Zur Zeit des Absolutismus sei ähnliches von den
Fürsten versucht worden, die aber natürlich nur die Interessen des Adels und
andrer bevorzugter Stände vertreten hätten. Jetzt solle nicht mehr eine „er¬
leuchtete Obrigkeit" von oben herab, das Volk selbst solle durch seine parla¬
mentarische Vertretung, in der alle produktiven Volksschichten entsprechend ihrer
Bedeutung zu Worte kämen, bestimmen, was der allgemeinen Wohlfahrt
dienlich sei.

Die vielen Schwächen, Kurzsichtigkeiten und Widersprüche dieses ganzen
Systems liegen auf der Hand? wollte man sie im einzelnen darlegen, so
hieße das nichts andres, als all die Deduktionen gegen den sozialistischen
und kommunistischen Zukunftsstaat wiederholen. Soweit das System bis heute
praktisch auszubilden versucht wurde, ist klar, daß ganz im Gegensatz zu den
freiheitlichen Prinzipien ein Polizeiwesen geschaffen wird, das sich willkürlichere
Verfügungen über privatwirtschaftliche Rechte anmaßt, als es irgendein ab¬
solutistisches Regiment getan hat. Während die Interessen aller Berufe und
Volksklassen gewahrt werden sollen, werden tatsächlich nur die Unternehmer
geschützt. Die Arbeiter werden auf einen langwierigen Instanzenweg verwiesen,
ans dem sie sich ihre Rechte erkämpfen sollen, die Verbraucher auf summarische
Höchstpreisfestsetzungen durch das Parlament, die offenbar durch den Handel
äußerst leicht umgangen werden können. Die Mindestlöhne haben die Tendenz,
Höchstlöhne zu werden. Abgesehen von den gewöhnlichsten Nahrungsmitteln sind
die Preise für alle Lebensbedürfnisse außerordentlich hoch. Die bureaukratischen
Erlasse für den Arbeitsmarkt und die Fabrikation werden trotz rigoroser Strafen
auf allen möglichen Schleichwegen umgangen. Indem man die wichtigsten Bedin¬
gungen der Erzeugung und des Handels von den Beschlüssen eines fluktuierenden
Parteiregiments abhängig - macht, schafft man eine Labilität der gewerblichen
Verhältnisse, die gerade das hintanhalten muß, was man erstrebt, den industriellen
Fortschritt. Ein verwickelter Richter- und Beamtenapparat wird in Bewegung
gesetzt, um die Wirtschaftsbedingungen einer Einwohnerschaft zu regeln, die,
dank der chauvinistischen Nassenpolitik, noch heute uicht größer ist als die einer
europäischen Metropole. Ein Staat wird neuerdings mit riesenhaften Auf¬
wendungen für Subventionen und Verwaltung belastet, der ohnehin finanziell
überlastet ist. Aus der hier eingeschalteten Tabelle ergibt sich, daß der
Commonwealth in allen Teilen des Haushalts weit ungünstiger gestellt ist als
irgendeine der Schwesterkolonien mit Selbstverwaltung, die sich ihrer kulturellen
Entwicklung nach in Vergleich stellen lassen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/362>, abgerufen am 24.07.2024.