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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Mutualismus und Neuprotektionismus

durch kreditive und verkehrspolitische Operationen in ein Aktivum. Gegen
diese "kapitalistische Unterjochung", gegen das "moderne Konquistadorentum"
will der Neuprotektionismus ankämpfen. Wenn alles Geld, so argumentiert
man, das jetzt für den Bezug von fremdländischen Waren, als Zins von
Kapitaldarlehen, als Entgelt für Transport ins Ausland fließt, dem Staat
selbst erhalten bliebe, dann werde sich im Lande ein Reichtum ansammeln, der
allen ein mehr als auskömmliches Dasein sichere.

Die Hauptschwierigkeit, den "autonomen Produktionsstaat" zu verwirklichen,
liegt offenbar in der Überwindung der Übergangszeit bis zum Tag, wo Er¬
zeugung, Gewerbe und Handel so entwickelt sind, daß sie tatsächlich jener
Aufgabe, Australien mit allen Lebensbedürfnissen selbst zu versorgen, gerecht
werden können. Für den Commonwealth ist das um so schwieriger, als er aus
rassenpolitischen Gründen die billigen Arbeitskräfte glaubt fernhalten zu müssen,
deren sich fast alle auf gleicher Kulturstufe stehenden Staaten bedienen. Die
Industrie wird auf die weißen Arbeiter angewiesen, die zufolge des Klimas in
Australien weit weniger leistungsfähig sind als unter andern Himmelsstrichen.
Vermöge der radikal demokratischen Verfassung und als eigentliche Schild¬
halter im Klassenkampf gewannen die Organisationen der weißen Arbeiter eine
außerordentliche Macht; sie haben die Arbeitslöhne auf eine Höhe getrieben,
die nicht einmal von den reichen und hochbezahlenden Vereinigten Staaten
erreicht wird. Es Verhalten sich zum Beispiel die durchschnittlichen Löhne für
ungelernte Arbeiter in Australien, in den Vereinigten Staaten, in England und
in Deutschland wie 81:63:40:32. Die australische Industrie befindet sich
also unter der Herrschaft des freien Wettbewerbs dem Auslande gegenüber
in ungünstigster Stellung. Aufgabe des Staats ist es, einen Ausgleich zu
schaffen. Die Hauptmittel dazu sind Schutzzölle und Prämien, die aber den
Verbraucher auf Kosten des Erzeugers benachteiligen.

So kommt man dazu, die Idee vom autonomen Erzengungsstciat zum Plan
des autonomen Wirtschaftsstaats zu erweitern. Nicht nur in der Erzeugung,
in allen Teilen des Wirtschaftslebens soll sich Australien ganz auf sich selbst
stellen. Mögen dann immerhin sämtliche Lebensmittel in Australien teurer sein
als sonstwo: wenn der Commonwealth all seine produktiven und kapitalistischen
Energien dem eignen Haushalt erhält, wenn er sich in seiner Kredit-, Finanz-
und Geldverfassung ganz der Dienstbarkeit gegenüber dem Ausland entzieht,
dann wird das Gemeinwesen so wohlhabend werden, daß die hohen Preise
relativ niedriger erscheinen, als es die billigen Preise unter ärmlichen Ver¬
hältnissen wären. Auf diese Weise wird das Interesse aller, auch der Ver¬
braucher, gewahrt, die es nur noch vor der Ausbeutung durch das Unter¬
nehmertum zu schützen gilt. Das soll durch die Festsetzung von Höchstpreisen
erreicht werden.

Auf Grund dieses Programms behauptet der Neuprotektionismus der
Vertreter einer demokratischen Freiheit höherer Ordnung zu sein. Entsprechend


Mutualismus und Neuprotektionismus

durch kreditive und verkehrspolitische Operationen in ein Aktivum. Gegen
diese „kapitalistische Unterjochung", gegen das „moderne Konquistadorentum"
will der Neuprotektionismus ankämpfen. Wenn alles Geld, so argumentiert
man, das jetzt für den Bezug von fremdländischen Waren, als Zins von
Kapitaldarlehen, als Entgelt für Transport ins Ausland fließt, dem Staat
selbst erhalten bliebe, dann werde sich im Lande ein Reichtum ansammeln, der
allen ein mehr als auskömmliches Dasein sichere.

Die Hauptschwierigkeit, den „autonomen Produktionsstaat" zu verwirklichen,
liegt offenbar in der Überwindung der Übergangszeit bis zum Tag, wo Er¬
zeugung, Gewerbe und Handel so entwickelt sind, daß sie tatsächlich jener
Aufgabe, Australien mit allen Lebensbedürfnissen selbst zu versorgen, gerecht
werden können. Für den Commonwealth ist das um so schwieriger, als er aus
rassenpolitischen Gründen die billigen Arbeitskräfte glaubt fernhalten zu müssen,
deren sich fast alle auf gleicher Kulturstufe stehenden Staaten bedienen. Die
Industrie wird auf die weißen Arbeiter angewiesen, die zufolge des Klimas in
Australien weit weniger leistungsfähig sind als unter andern Himmelsstrichen.
Vermöge der radikal demokratischen Verfassung und als eigentliche Schild¬
halter im Klassenkampf gewannen die Organisationen der weißen Arbeiter eine
außerordentliche Macht; sie haben die Arbeitslöhne auf eine Höhe getrieben,
die nicht einmal von den reichen und hochbezahlenden Vereinigten Staaten
erreicht wird. Es Verhalten sich zum Beispiel die durchschnittlichen Löhne für
ungelernte Arbeiter in Australien, in den Vereinigten Staaten, in England und
in Deutschland wie 81:63:40:32. Die australische Industrie befindet sich
also unter der Herrschaft des freien Wettbewerbs dem Auslande gegenüber
in ungünstigster Stellung. Aufgabe des Staats ist es, einen Ausgleich zu
schaffen. Die Hauptmittel dazu sind Schutzzölle und Prämien, die aber den
Verbraucher auf Kosten des Erzeugers benachteiligen.

So kommt man dazu, die Idee vom autonomen Erzengungsstciat zum Plan
des autonomen Wirtschaftsstaats zu erweitern. Nicht nur in der Erzeugung,
in allen Teilen des Wirtschaftslebens soll sich Australien ganz auf sich selbst
stellen. Mögen dann immerhin sämtliche Lebensmittel in Australien teurer sein
als sonstwo: wenn der Commonwealth all seine produktiven und kapitalistischen
Energien dem eignen Haushalt erhält, wenn er sich in seiner Kredit-, Finanz-
und Geldverfassung ganz der Dienstbarkeit gegenüber dem Ausland entzieht,
dann wird das Gemeinwesen so wohlhabend werden, daß die hohen Preise
relativ niedriger erscheinen, als es die billigen Preise unter ärmlichen Ver¬
hältnissen wären. Auf diese Weise wird das Interesse aller, auch der Ver¬
braucher, gewahrt, die es nur noch vor der Ausbeutung durch das Unter¬
nehmertum zu schützen gilt. Das soll durch die Festsetzung von Höchstpreisen
erreicht werden.

Auf Grund dieses Programms behauptet der Neuprotektionismus der
Vertreter einer demokratischen Freiheit höherer Ordnung zu sein. Entsprechend


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[0361] Mutualismus und Neuprotektionismus durch kreditive und verkehrspolitische Operationen in ein Aktivum. Gegen diese „kapitalistische Unterjochung", gegen das „moderne Konquistadorentum" will der Neuprotektionismus ankämpfen. Wenn alles Geld, so argumentiert man, das jetzt für den Bezug von fremdländischen Waren, als Zins von Kapitaldarlehen, als Entgelt für Transport ins Ausland fließt, dem Staat selbst erhalten bliebe, dann werde sich im Lande ein Reichtum ansammeln, der allen ein mehr als auskömmliches Dasein sichere. Die Hauptschwierigkeit, den „autonomen Produktionsstaat" zu verwirklichen, liegt offenbar in der Überwindung der Übergangszeit bis zum Tag, wo Er¬ zeugung, Gewerbe und Handel so entwickelt sind, daß sie tatsächlich jener Aufgabe, Australien mit allen Lebensbedürfnissen selbst zu versorgen, gerecht werden können. Für den Commonwealth ist das um so schwieriger, als er aus rassenpolitischen Gründen die billigen Arbeitskräfte glaubt fernhalten zu müssen, deren sich fast alle auf gleicher Kulturstufe stehenden Staaten bedienen. Die Industrie wird auf die weißen Arbeiter angewiesen, die zufolge des Klimas in Australien weit weniger leistungsfähig sind als unter andern Himmelsstrichen. Vermöge der radikal demokratischen Verfassung und als eigentliche Schild¬ halter im Klassenkampf gewannen die Organisationen der weißen Arbeiter eine außerordentliche Macht; sie haben die Arbeitslöhne auf eine Höhe getrieben, die nicht einmal von den reichen und hochbezahlenden Vereinigten Staaten erreicht wird. Es Verhalten sich zum Beispiel die durchschnittlichen Löhne für ungelernte Arbeiter in Australien, in den Vereinigten Staaten, in England und in Deutschland wie 81:63:40:32. Die australische Industrie befindet sich also unter der Herrschaft des freien Wettbewerbs dem Auslande gegenüber in ungünstigster Stellung. Aufgabe des Staats ist es, einen Ausgleich zu schaffen. Die Hauptmittel dazu sind Schutzzölle und Prämien, die aber den Verbraucher auf Kosten des Erzeugers benachteiligen. So kommt man dazu, die Idee vom autonomen Erzengungsstciat zum Plan des autonomen Wirtschaftsstaats zu erweitern. Nicht nur in der Erzeugung, in allen Teilen des Wirtschaftslebens soll sich Australien ganz auf sich selbst stellen. Mögen dann immerhin sämtliche Lebensmittel in Australien teurer sein als sonstwo: wenn der Commonwealth all seine produktiven und kapitalistischen Energien dem eignen Haushalt erhält, wenn er sich in seiner Kredit-, Finanz- und Geldverfassung ganz der Dienstbarkeit gegenüber dem Ausland entzieht, dann wird das Gemeinwesen so wohlhabend werden, daß die hohen Preise relativ niedriger erscheinen, als es die billigen Preise unter ärmlichen Ver¬ hältnissen wären. Auf diese Weise wird das Interesse aller, auch der Ver¬ braucher, gewahrt, die es nur noch vor der Ausbeutung durch das Unter¬ nehmertum zu schützen gilt. Das soll durch die Festsetzung von Höchstpreisen erreicht werden. Auf Grund dieses Programms behauptet der Neuprotektionismus der Vertreter einer demokratischen Freiheit höherer Ordnung zu sein. Entsprechend

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/361>, abgerufen am 24.07.2024.