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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Mutualismus und Nenprotektionismus

Mitte Mai 1879. Er empfängt von jetzt ab grundsätzlich keine Deputationen
mehr zum Vortrag von Wünschen in bezug auf Zollermäßigung.

12. Juli 1879. Er schließt den Reichstag, der den Zolltarif mit 217
gegen 117 Stimmen angenommen hatte (Gesetz vom 15. Juli 1879, Neichs-
gesetzblatt S. 207).

Überblickt man den Werdegang, so ersieht man, daß der Schutzzöllner
Bismarck nicht fertig wie Minerva aus dem Kopfe Jupiters hervorgesprungen
ist. Er hat seinen Entwicklungsgang gemacht, immer sich anlehnend an die
realen Verhältnisse, die bald dieses, bald jenes Verhältnis zelligem. Er trat
während seiner ganzen Ministertätigkeit immer nur wie ein hervorgerufner
Retter an solche Aufgaben heran, die andre Werkleiter im Zustande völliger
Verfahrenheit zurückgelassen hatten. So trat er 1862 in den parlamentarischen
Konflikt ein, so in die hoffnungslose deutsche Frage, so endlich Ende der
siebziger Jahre in die bis zur Verzweiflung gediehene wirtschaftliche Bewegung.
Er drängte sich nicht auf, er wurde gerufen und erfüllte dann seine Pflicht,
seine providentielle Bestimmung.




Mutualismus und Neuprotektionismus

achten all
l
! e jene faszinierenden Schlagworte, über die die Marxsche
Doktrin verfügt, gegenwärtig durch die Wissenschaft und die
Statistik völlig widerlegt und bis tief in die Reihen der Sozialisten
bereits als falsch erkannt worden sind, ist anzunehmen, daß die
Kulturvölker Westeuropas eines Tages den Marxismus wie alle
sozialistischen Anschauungen, die ihren weltgeschichtlichen Beruf, die Organisation
des Proletariats, längst erfüllt haben, von sich abschütteln und auf die Ziele
einer realistischen Sozialpolitik sich beschränken werden. Und wirklich deuten alle
Anzeichen darauf hin. daß im Laufe der Zeit die Arbeiter durch ihre Organisation
dem Kapital gegenüber auf den Standpunkt einer wirklichen Geschäftsmäßig¬
keit kommen werden, die von Haß und Leidenschaft frei auf einer vernünftigen
Berechnung des praktisch Durchführbaren beruht. Dann wird es Zeit sein, dem
Sozialismus die Leichenrede zu halten." Bei der Betrachtung der modernen
Entwicklung des Sozialismus kann man mindestens im Zweifel sein, ob die
Erfüllung dieser an der Wende des Jahrhunderts von Georg Adler geäußerten
Hoffnung und Prophezeiung irgendwie näher gerückt ist. Adler schwebt als
Ideal eine Interessenvertretung der Arbeiterschaft etwa nach der Art des englischen
Trade-Unionismus vor; gerade hier aber und ebenso in andern Staaten, wo
sich die Arbeiterorganisation in analogen Formen vollzogen hat, wie zum Beispiel
in der nordamerikanischen Union, gewinnt der Sozialismus Marxistischen Typs
mit seiner Aufreizung zum Klassenkampf immer mehr an Boden. Der deutsche


Mutualismus und Nenprotektionismus

Mitte Mai 1879. Er empfängt von jetzt ab grundsätzlich keine Deputationen
mehr zum Vortrag von Wünschen in bezug auf Zollermäßigung.

12. Juli 1879. Er schließt den Reichstag, der den Zolltarif mit 217
gegen 117 Stimmen angenommen hatte (Gesetz vom 15. Juli 1879, Neichs-
gesetzblatt S. 207).

Überblickt man den Werdegang, so ersieht man, daß der Schutzzöllner
Bismarck nicht fertig wie Minerva aus dem Kopfe Jupiters hervorgesprungen
ist. Er hat seinen Entwicklungsgang gemacht, immer sich anlehnend an die
realen Verhältnisse, die bald dieses, bald jenes Verhältnis zelligem. Er trat
während seiner ganzen Ministertätigkeit immer nur wie ein hervorgerufner
Retter an solche Aufgaben heran, die andre Werkleiter im Zustande völliger
Verfahrenheit zurückgelassen hatten. So trat er 1862 in den parlamentarischen
Konflikt ein, so in die hoffnungslose deutsche Frage, so endlich Ende der
siebziger Jahre in die bis zur Verzweiflung gediehene wirtschaftliche Bewegung.
Er drängte sich nicht auf, er wurde gerufen und erfüllte dann seine Pflicht,
seine providentielle Bestimmung.




Mutualismus und Neuprotektionismus

achten all
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! e jene faszinierenden Schlagworte, über die die Marxsche
Doktrin verfügt, gegenwärtig durch die Wissenschaft und die
Statistik völlig widerlegt und bis tief in die Reihen der Sozialisten
bereits als falsch erkannt worden sind, ist anzunehmen, daß die
Kulturvölker Westeuropas eines Tages den Marxismus wie alle
sozialistischen Anschauungen, die ihren weltgeschichtlichen Beruf, die Organisation
des Proletariats, längst erfüllt haben, von sich abschütteln und auf die Ziele
einer realistischen Sozialpolitik sich beschränken werden. Und wirklich deuten alle
Anzeichen darauf hin. daß im Laufe der Zeit die Arbeiter durch ihre Organisation
dem Kapital gegenüber auf den Standpunkt einer wirklichen Geschäftsmäßig¬
keit kommen werden, die von Haß und Leidenschaft frei auf einer vernünftigen
Berechnung des praktisch Durchführbaren beruht. Dann wird es Zeit sein, dem
Sozialismus die Leichenrede zu halten." Bei der Betrachtung der modernen
Entwicklung des Sozialismus kann man mindestens im Zweifel sein, ob die
Erfüllung dieser an der Wende des Jahrhunderts von Georg Adler geäußerten
Hoffnung und Prophezeiung irgendwie näher gerückt ist. Adler schwebt als
Ideal eine Interessenvertretung der Arbeiterschaft etwa nach der Art des englischen
Trade-Unionismus vor; gerade hier aber und ebenso in andern Staaten, wo
sich die Arbeiterorganisation in analogen Formen vollzogen hat, wie zum Beispiel
in der nordamerikanischen Union, gewinnt der Sozialismus Marxistischen Typs
mit seiner Aufreizung zum Klassenkampf immer mehr an Boden. Der deutsche


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/354>, abgerufen am 24.07.2024.