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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Die Sprache in ihrem Naturzusammenhange

Goethischen Denken ein solches Trennen auf die Dauer willkürlich: "Das,
was er (nämlich Linne) mit Gewalt auseinanderzuhalten sucht, mußte nach
dem innersten Bedürfnis meines Wesens zur Vereinigung anstreben." Dieser
Gegensatz im Denken, wie er einen Goethe und Linne kennzeichnet, ist typisch,
er kehrt deshalb in der Geistesgeschichte der Menschheit immer wieder, und
da er fundamental ist, scheidet er die Geister und führt oft einen erbitterten
Kampf zwischen ihnen herbei. Dem echten Forscher hat die Natur eine Gabe
verliehen, mit der sie ihren bevorzugten Liebling, den Künstler, am meisten
ausgestattet hat, die Gabe der schöpferischen Phantasie. Während die ge¬
wöhnliche Art gelehrter Forschung oft schon an der summarischen Feststellung
von Einzeltatsachen Genüge findet, erschaut diese "exakt sinnliche Phantasie",
wie sie Goethe einmal treffend selbst nennt, überall die innern Zusammen¬
hänge, durch die jene Einzeltatsachen zu einer Einheit organisch verwachsen,
ihr gilt eben ein Fall für tausende. Jene Art ist zwar die häufigere, aber
auch niedere Art wissenschaftlicher Forschung, diese als die höchste bei ver¬
hältnismäßig wenigen bedeutenden Individualitäten zu finden. Dies sind die
eruptiven Geister, die von einem elementaren Drang nach Wahrheit, von
einer einzigen ihr Tiefstes aufwühlenden Idee getrieben werden. Grundver¬
schieden davon sind die sedimentären Geister, die keine neuen großen Wahr¬
heiten ans Licht fördern, jedoch mit emsigen Bienenfleiße Stoff auf Stoff
häufen und sich schon genügen lassen am Klassifizieren und Kompilieren.
Diese Art kennzeichnet besonders einen großen Teil philologischer Arbeit in
Deutschland, und es ist bezeichnend, daß sie einem so scharfen Beobachter
fremdländischer Eigenart wie Taine geradezu als für uns Deutsche überhaupt
charakteristisch erscheint, wenn er in seiner?b.i1osopdik Ah l'art von unsrer Geistes¬
arbeit im Leben der Völker unter anderen sagt: Läitions, (lietionng-iros, oolleo
lions, elaLsiticiiticms, reetiereti68 6s ig-voratoii K, su tout<z soienve, o"z ^ni sse
lavsur mun^ßux et rklwtavt, Isur (nämlich uns Deutschen) axxartiövt en
propre. Was dagegen Wissenschaft im höchsten Sinne ist, das kann uns
wieder am besten Goethe sagen: "Alles, was wir Erfinden, Entdecken im
höhern Sinne nennen, ist die bedeutende Ausübung, Betätigung eines ori¬
ginalen Wahrheitsgefühls, das, im stillen längst ausgebildet, unversehens mit
Blitzesschnelle zu einer fruchtbaren Erkenntnis führt. Es ist eine aus dem
Innern am Äußern sich entwickelnde Offenbarung, die den Menschen seine
Gottähnlichkeit vorahnen läßt. Es ist eine Synthese von Welt und
Geist, die von der ewigen Harmonie des Daseins die seligste Ver¬
sicherung gibt." Diese wissenschaftliche Erkenntnis, einerlei auf welchem
Gebiete sie stattfindet, weckt denn auch in allen Seelen, in die ein Strahl
von ihr fällt, dieselbe gesteigerte Lebensfreude, denselben erhöhten Menschen¬
sinn, erhebend vom Vielen zum Ganzen.

Und wenn wir damit zum Schluß wieder speziell zu der Wissenschaft
von der Sprache zurückkehren, so müssen wir von der heutigen historischen
Sprachwissenschaft frei bekennen, daß sie von jenem hohen Standpunkte


Die Sprache in ihrem Naturzusammenhange

Goethischen Denken ein solches Trennen auf die Dauer willkürlich: „Das,
was er (nämlich Linne) mit Gewalt auseinanderzuhalten sucht, mußte nach
dem innersten Bedürfnis meines Wesens zur Vereinigung anstreben." Dieser
Gegensatz im Denken, wie er einen Goethe und Linne kennzeichnet, ist typisch,
er kehrt deshalb in der Geistesgeschichte der Menschheit immer wieder, und
da er fundamental ist, scheidet er die Geister und führt oft einen erbitterten
Kampf zwischen ihnen herbei. Dem echten Forscher hat die Natur eine Gabe
verliehen, mit der sie ihren bevorzugten Liebling, den Künstler, am meisten
ausgestattet hat, die Gabe der schöpferischen Phantasie. Während die ge¬
wöhnliche Art gelehrter Forschung oft schon an der summarischen Feststellung
von Einzeltatsachen Genüge findet, erschaut diese „exakt sinnliche Phantasie",
wie sie Goethe einmal treffend selbst nennt, überall die innern Zusammen¬
hänge, durch die jene Einzeltatsachen zu einer Einheit organisch verwachsen,
ihr gilt eben ein Fall für tausende. Jene Art ist zwar die häufigere, aber
auch niedere Art wissenschaftlicher Forschung, diese als die höchste bei ver¬
hältnismäßig wenigen bedeutenden Individualitäten zu finden. Dies sind die
eruptiven Geister, die von einem elementaren Drang nach Wahrheit, von
einer einzigen ihr Tiefstes aufwühlenden Idee getrieben werden. Grundver¬
schieden davon sind die sedimentären Geister, die keine neuen großen Wahr¬
heiten ans Licht fördern, jedoch mit emsigen Bienenfleiße Stoff auf Stoff
häufen und sich schon genügen lassen am Klassifizieren und Kompilieren.
Diese Art kennzeichnet besonders einen großen Teil philologischer Arbeit in
Deutschland, und es ist bezeichnend, daß sie einem so scharfen Beobachter
fremdländischer Eigenart wie Taine geradezu als für uns Deutsche überhaupt
charakteristisch erscheint, wenn er in seiner?b.i1osopdik Ah l'art von unsrer Geistes¬
arbeit im Leben der Völker unter anderen sagt: Läitions, (lietionng-iros, oolleo
lions, elaLsiticiiticms, reetiereti68 6s ig-voratoii K, su tout<z soienve, o«z ^ni sse
lavsur mun^ßux et rklwtavt, Isur (nämlich uns Deutschen) axxartiövt en
propre. Was dagegen Wissenschaft im höchsten Sinne ist, das kann uns
wieder am besten Goethe sagen: „Alles, was wir Erfinden, Entdecken im
höhern Sinne nennen, ist die bedeutende Ausübung, Betätigung eines ori¬
ginalen Wahrheitsgefühls, das, im stillen längst ausgebildet, unversehens mit
Blitzesschnelle zu einer fruchtbaren Erkenntnis führt. Es ist eine aus dem
Innern am Äußern sich entwickelnde Offenbarung, die den Menschen seine
Gottähnlichkeit vorahnen läßt. Es ist eine Synthese von Welt und
Geist, die von der ewigen Harmonie des Daseins die seligste Ver¬
sicherung gibt." Diese wissenschaftliche Erkenntnis, einerlei auf welchem
Gebiete sie stattfindet, weckt denn auch in allen Seelen, in die ein Strahl
von ihr fällt, dieselbe gesteigerte Lebensfreude, denselben erhöhten Menschen¬
sinn, erhebend vom Vielen zum Ganzen.

Und wenn wir damit zum Schluß wieder speziell zu der Wissenschaft
von der Sprache zurückkehren, so müssen wir von der heutigen historischen
Sprachwissenschaft frei bekennen, daß sie von jenem hohen Standpunkte


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[0326] Die Sprache in ihrem Naturzusammenhange Goethischen Denken ein solches Trennen auf die Dauer willkürlich: „Das, was er (nämlich Linne) mit Gewalt auseinanderzuhalten sucht, mußte nach dem innersten Bedürfnis meines Wesens zur Vereinigung anstreben." Dieser Gegensatz im Denken, wie er einen Goethe und Linne kennzeichnet, ist typisch, er kehrt deshalb in der Geistesgeschichte der Menschheit immer wieder, und da er fundamental ist, scheidet er die Geister und führt oft einen erbitterten Kampf zwischen ihnen herbei. Dem echten Forscher hat die Natur eine Gabe verliehen, mit der sie ihren bevorzugten Liebling, den Künstler, am meisten ausgestattet hat, die Gabe der schöpferischen Phantasie. Während die ge¬ wöhnliche Art gelehrter Forschung oft schon an der summarischen Feststellung von Einzeltatsachen Genüge findet, erschaut diese „exakt sinnliche Phantasie", wie sie Goethe einmal treffend selbst nennt, überall die innern Zusammen¬ hänge, durch die jene Einzeltatsachen zu einer Einheit organisch verwachsen, ihr gilt eben ein Fall für tausende. Jene Art ist zwar die häufigere, aber auch niedere Art wissenschaftlicher Forschung, diese als die höchste bei ver¬ hältnismäßig wenigen bedeutenden Individualitäten zu finden. Dies sind die eruptiven Geister, die von einem elementaren Drang nach Wahrheit, von einer einzigen ihr Tiefstes aufwühlenden Idee getrieben werden. Grundver¬ schieden davon sind die sedimentären Geister, die keine neuen großen Wahr¬ heiten ans Licht fördern, jedoch mit emsigen Bienenfleiße Stoff auf Stoff häufen und sich schon genügen lassen am Klassifizieren und Kompilieren. Diese Art kennzeichnet besonders einen großen Teil philologischer Arbeit in Deutschland, und es ist bezeichnend, daß sie einem so scharfen Beobachter fremdländischer Eigenart wie Taine geradezu als für uns Deutsche überhaupt charakteristisch erscheint, wenn er in seiner?b.i1osopdik Ah l'art von unsrer Geistes¬ arbeit im Leben der Völker unter anderen sagt: Läitions, (lietionng-iros, oolleo lions, elaLsiticiiticms, reetiereti68 6s ig-voratoii K, su tout<z soienve, o«z ^ni sse lavsur mun^ßux et rklwtavt, Isur (nämlich uns Deutschen) axxartiövt en propre. Was dagegen Wissenschaft im höchsten Sinne ist, das kann uns wieder am besten Goethe sagen: „Alles, was wir Erfinden, Entdecken im höhern Sinne nennen, ist die bedeutende Ausübung, Betätigung eines ori¬ ginalen Wahrheitsgefühls, das, im stillen längst ausgebildet, unversehens mit Blitzesschnelle zu einer fruchtbaren Erkenntnis führt. Es ist eine aus dem Innern am Äußern sich entwickelnde Offenbarung, die den Menschen seine Gottähnlichkeit vorahnen läßt. Es ist eine Synthese von Welt und Geist, die von der ewigen Harmonie des Daseins die seligste Ver¬ sicherung gibt." Diese wissenschaftliche Erkenntnis, einerlei auf welchem Gebiete sie stattfindet, weckt denn auch in allen Seelen, in die ein Strahl von ihr fällt, dieselbe gesteigerte Lebensfreude, denselben erhöhten Menschen¬ sinn, erhebend vom Vielen zum Ganzen. Und wenn wir damit zum Schluß wieder speziell zu der Wissenschaft von der Sprache zurückkehren, so müssen wir von der heutigen historischen Sprachwissenschaft frei bekennen, daß sie von jenem hohen Standpunkte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/326>, abgerufen am 24.07.2024.