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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Die Sprache in ihrem Naturzusammenhange

Formen der Sprache, dort die der Tier- und Pflanzenwelt. In beiden Fällen
handelt es sich darum, die Ungeheure Mannigfaltigkeit der Formen aus einer
ursprünglichen einfachen Einheit auf dein Wege gesetzmäßiger Entwicklung zu
erklären, in beiden Fällen zwingen die Tatsachen zu dem Ergebnis, daß heute
äußerlich noch so verschiedne Formen im Grunde auf eine gemeinsame Quelle
zurückgehn, d. h. stammverwandt sein können. Und doch, wenn uns gesagt
wird, daß zum Beispiel Vögel und Reptilien auf einen gemeinsamen Ursprung
zurückgehn, sind wir immer wieder geneigt, zunächst ungläubig den Kopf zu
schütteln, bis uns an den vermittelnden Zwischengliedern die einzelnen Phasen
der Entwicklung der Vögel aus Reptilien auch zur äußern Anschauung ge¬
langt. Deshalb wird denn Darwin nicht müde, immer wieder eindringlich
hervorzuheben, welche ungeheure Verschiedenheit der organischen Wesen durch
langsame, stufenweise Veränderung hervorgebracht werden, wie nur unser Geist
nicht die ganze Größe der Wirkung auf einmal zusammenrechnen und begreifen
kann: "Die Hauptursache, weshalb wir von Natur nicht geneigt sind, zuzu-
gestehn, daß eine Art eine andre verschiedne Art erzeugt haben könne, liegt
darin, daß wir immer behutsam in der Zulassung einer großen Veränderung
sind, deren Mittelstufen wir nicht kennen." Dieselbe Schwierigkeit gilt für die
Erkenntnis der tiefsten Zusammenhänge in der Sprache. Meine Behauptung,
daß zum Beispiel die lateinischen Wörter atro-g,ri (kaufen) und pret-inen
(Kaufpreis) auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgehn, kann erst Glauben
beanspruchen durch die Zwischenglieder, die uns zufällig die litauische Sprache
in xsrk-n (kaufe) und xrek-la (Kaufpreis) erhalten hat, angesichts der Reihe
in-zro, xsrk, xrek, xiet, genau so, wie wir Darwin zustimmen müssen, wenn
er aus der sichern Beherrschung seines Stoffgebiets heraus sagt: "Es mögen
zwei Formen nicht einen einzigen Charakter gemeinsam haben, wenn aber
diese extremen Formen noch durch eine Reihe vermittelnder Gruppen mit¬
einander verkettet sind, so dürfen wir doch sofort auf eine gemeinsame Ab¬
stammung schließen." In der Mannigfaltigkeit der unendlich abgestuften
Formen die Einheit ihres Wesens sogar noch an den äußersten Endpunkten
begreifen lernen, das heißt ihre Schöpfung im tiefsten Sinne verstehn, einerlei,
ob es sich um Formen der Tier- und Pflanzenwelt oder der Sprache handelt.
Zu dieser Höhe der Erkenntnis kann unser Geist nur stufenweise gelangen,
indem er zum Beispiel für das Stoffgebiet der Sprache von den laut- und
bedeutungsgleichen Sprachgebilden über alle Grade der Ähnlichkeit hinweg bis
zu den äußerlich verschiedensten vordringt. Aber anch das Gegenteil ist der
Fall: heute äußerlich ganz gleiche Gebilde gehn oft auf ganz verschiednen
Ursprung zurück wie zum Beispiel im Französischen lousr (loben) und Jener
(mieten) oder oousin (Vetter) und oousin (Mücke). Und doch: gerade der
Sirene des Gleichklangs sind fast alle bisherigen Sprachforscher, soweit sie
Etymologien aufgestellt haben, auch ein Jakob Grimm, zum Opfer gefallen,
indem sie allein- die trügerische äußere Form zum Maßstab von Zusammen-


Die Sprache in ihrem Naturzusammenhange

Formen der Sprache, dort die der Tier- und Pflanzenwelt. In beiden Fällen
handelt es sich darum, die Ungeheure Mannigfaltigkeit der Formen aus einer
ursprünglichen einfachen Einheit auf dein Wege gesetzmäßiger Entwicklung zu
erklären, in beiden Fällen zwingen die Tatsachen zu dem Ergebnis, daß heute
äußerlich noch so verschiedne Formen im Grunde auf eine gemeinsame Quelle
zurückgehn, d. h. stammverwandt sein können. Und doch, wenn uns gesagt
wird, daß zum Beispiel Vögel und Reptilien auf einen gemeinsamen Ursprung
zurückgehn, sind wir immer wieder geneigt, zunächst ungläubig den Kopf zu
schütteln, bis uns an den vermittelnden Zwischengliedern die einzelnen Phasen
der Entwicklung der Vögel aus Reptilien auch zur äußern Anschauung ge¬
langt. Deshalb wird denn Darwin nicht müde, immer wieder eindringlich
hervorzuheben, welche ungeheure Verschiedenheit der organischen Wesen durch
langsame, stufenweise Veränderung hervorgebracht werden, wie nur unser Geist
nicht die ganze Größe der Wirkung auf einmal zusammenrechnen und begreifen
kann: „Die Hauptursache, weshalb wir von Natur nicht geneigt sind, zuzu-
gestehn, daß eine Art eine andre verschiedne Art erzeugt haben könne, liegt
darin, daß wir immer behutsam in der Zulassung einer großen Veränderung
sind, deren Mittelstufen wir nicht kennen." Dieselbe Schwierigkeit gilt für die
Erkenntnis der tiefsten Zusammenhänge in der Sprache. Meine Behauptung,
daß zum Beispiel die lateinischen Wörter atro-g,ri (kaufen) und pret-inen
(Kaufpreis) auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgehn, kann erst Glauben
beanspruchen durch die Zwischenglieder, die uns zufällig die litauische Sprache
in xsrk-n (kaufe) und xrek-la (Kaufpreis) erhalten hat, angesichts der Reihe
in-zro, xsrk, xrek, xiet, genau so, wie wir Darwin zustimmen müssen, wenn
er aus der sichern Beherrschung seines Stoffgebiets heraus sagt: „Es mögen
zwei Formen nicht einen einzigen Charakter gemeinsam haben, wenn aber
diese extremen Formen noch durch eine Reihe vermittelnder Gruppen mit¬
einander verkettet sind, so dürfen wir doch sofort auf eine gemeinsame Ab¬
stammung schließen." In der Mannigfaltigkeit der unendlich abgestuften
Formen die Einheit ihres Wesens sogar noch an den äußersten Endpunkten
begreifen lernen, das heißt ihre Schöpfung im tiefsten Sinne verstehn, einerlei,
ob es sich um Formen der Tier- und Pflanzenwelt oder der Sprache handelt.
Zu dieser Höhe der Erkenntnis kann unser Geist nur stufenweise gelangen,
indem er zum Beispiel für das Stoffgebiet der Sprache von den laut- und
bedeutungsgleichen Sprachgebilden über alle Grade der Ähnlichkeit hinweg bis
zu den äußerlich verschiedensten vordringt. Aber anch das Gegenteil ist der
Fall: heute äußerlich ganz gleiche Gebilde gehn oft auf ganz verschiednen
Ursprung zurück wie zum Beispiel im Französischen lousr (loben) und Jener
(mieten) oder oousin (Vetter) und oousin (Mücke). Und doch: gerade der
Sirene des Gleichklangs sind fast alle bisherigen Sprachforscher, soweit sie
Etymologien aufgestellt haben, auch ein Jakob Grimm, zum Opfer gefallen,
indem sie allein- die trügerische äußere Form zum Maßstab von Zusammen-


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[0322] Die Sprache in ihrem Naturzusammenhange Formen der Sprache, dort die der Tier- und Pflanzenwelt. In beiden Fällen handelt es sich darum, die Ungeheure Mannigfaltigkeit der Formen aus einer ursprünglichen einfachen Einheit auf dein Wege gesetzmäßiger Entwicklung zu erklären, in beiden Fällen zwingen die Tatsachen zu dem Ergebnis, daß heute äußerlich noch so verschiedne Formen im Grunde auf eine gemeinsame Quelle zurückgehn, d. h. stammverwandt sein können. Und doch, wenn uns gesagt wird, daß zum Beispiel Vögel und Reptilien auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgehn, sind wir immer wieder geneigt, zunächst ungläubig den Kopf zu schütteln, bis uns an den vermittelnden Zwischengliedern die einzelnen Phasen der Entwicklung der Vögel aus Reptilien auch zur äußern Anschauung ge¬ langt. Deshalb wird denn Darwin nicht müde, immer wieder eindringlich hervorzuheben, welche ungeheure Verschiedenheit der organischen Wesen durch langsame, stufenweise Veränderung hervorgebracht werden, wie nur unser Geist nicht die ganze Größe der Wirkung auf einmal zusammenrechnen und begreifen kann: „Die Hauptursache, weshalb wir von Natur nicht geneigt sind, zuzu- gestehn, daß eine Art eine andre verschiedne Art erzeugt haben könne, liegt darin, daß wir immer behutsam in der Zulassung einer großen Veränderung sind, deren Mittelstufen wir nicht kennen." Dieselbe Schwierigkeit gilt für die Erkenntnis der tiefsten Zusammenhänge in der Sprache. Meine Behauptung, daß zum Beispiel die lateinischen Wörter atro-g,ri (kaufen) und pret-inen (Kaufpreis) auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgehn, kann erst Glauben beanspruchen durch die Zwischenglieder, die uns zufällig die litauische Sprache in xsrk-n (kaufe) und xrek-la (Kaufpreis) erhalten hat, angesichts der Reihe in-zro, xsrk, xrek, xiet, genau so, wie wir Darwin zustimmen müssen, wenn er aus der sichern Beherrschung seines Stoffgebiets heraus sagt: „Es mögen zwei Formen nicht einen einzigen Charakter gemeinsam haben, wenn aber diese extremen Formen noch durch eine Reihe vermittelnder Gruppen mit¬ einander verkettet sind, so dürfen wir doch sofort auf eine gemeinsame Ab¬ stammung schließen." In der Mannigfaltigkeit der unendlich abgestuften Formen die Einheit ihres Wesens sogar noch an den äußersten Endpunkten begreifen lernen, das heißt ihre Schöpfung im tiefsten Sinne verstehn, einerlei, ob es sich um Formen der Tier- und Pflanzenwelt oder der Sprache handelt. Zu dieser Höhe der Erkenntnis kann unser Geist nur stufenweise gelangen, indem er zum Beispiel für das Stoffgebiet der Sprache von den laut- und bedeutungsgleichen Sprachgebilden über alle Grade der Ähnlichkeit hinweg bis zu den äußerlich verschiedensten vordringt. Aber anch das Gegenteil ist der Fall: heute äußerlich ganz gleiche Gebilde gehn oft auf ganz verschiednen Ursprung zurück wie zum Beispiel im Französischen lousr (loben) und Jener (mieten) oder oousin (Vetter) und oousin (Mücke). Und doch: gerade der Sirene des Gleichklangs sind fast alle bisherigen Sprachforscher, soweit sie Etymologien aufgestellt haben, auch ein Jakob Grimm, zum Opfer gefallen, indem sie allein- die trügerische äußere Form zum Maßstab von Zusammen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/322>, abgerufen am 24.07.2024.